Im Kino

Zorniger Defätismus

Die Filmkolumne. Von Andrey Arnold, Lukas Foerster
17.06.2015. Eine offene Konstellation um das Leben des 2011 verstorbenen Filmkritkers Michael Althen entwirft Dominik Grafs dokumentarische Hommage "Was heißt hier Ende?". Eine gewisse ästhetische Mattigkeit macht sich in Jalmari Helanders finnischem B-Movie "Big Game" breit - trotz Samuel L. Jackson als amerikanischem Präsidenten.


Die Aufgabe, als Filmkritiker einen Film über einen Filmkritiker zu rezensieren, führt unweigerlich zur Selbstbefragung. Man beginnt zu vergleichen: Wie verhalten sich die eigenen Lebens- und Schaffensparameter zu jenen der porträtierten Person? Wie und warum schreibt sie, wie und warum schreibt man selbst, was ist der Unterschied, wo liegen die jeweiligen Stärken und Schwächen? Dieses unwillkürliche, kribbelnde Gefühl von Nähe lässt sich nur schwer abschütteln und drängt den Film selbst in den Hintergrund. Ich habe kaum Bezug zum feuilletonistischen Oeuvre der 2011 verstorbenen Hauptfigur von Dominik Grafs fragmentarischem Nachruf "Was heißt hier Ende? Der Filmkritiker Michael Althen" (ein Oeuvre, das man auf http://michaelalthen.de erkunden kann), und dennoch juckt mich nach der Sichtung ein Positionierungsbedürfnis. Vielleicht sollte ich stattdessen einfach nur versuchen zu beschreiben, was ich gesehen habe, wem ich begegnet bin?

Der Untertitel trügt: Es geht zuvorderst um den Menschen Michael Althen, der auch Filmkritiker war. Und der Titel ist Programm: Graf ist klar, dass jedes Bild, das man beim Waten durch die Pfützen der Erinnerung (ein Althen-Zitat) zusammensetzt, unvollendet bleiben muss und gerade deshalb weiterwirkt. "Was heißt hier Ende?" hat zwar eine chronologische Achse, doch um diese kreist eine offene Konstellation, in der sich manchmal berückende Sternbilder abzeichnen - ein Spurenmosaik, das bei näherer Betrachtung Muster erkennen lässt, aber keine große Erzählung bereithält. Das Dispersionsprinzip äußert sich auch im ständigen Wechsel des Bildformats, in Split-Screen-Effekten, in der Sprunghaftigkeit und assoziativen Abschweifungsfreude des Narrationsflusses, der sorglos allem nachgeht, was ihm zu- oder einfällt.

Natürlich kommen zahlreiche Menschen zu Wort, denen Althen direkt oder indirekt etwas bedeutet hat - Familienmitglieder, Freunde, Bekannte, Kollegen, Arbeitgeber, Regisseure, Barbetreiber (nur die "bloßen" Leser fehlen) - in seiner dichten Sammlung von Gedächtnissplittern und Dokumenten wird Grafs Filmessay aber auch zu einem Medienalmanach des 20. und 21. Jahrhunderts: Fotos und Laufbildaufnahmen von, mit und über Althen, auf verschiedensten Trägermaterialien und aus disparaten Zusammenhängen, Textexzerpte aus Kritiken und anderen Schriften (von Graf selbst gelesen), Projektnotizen, Audioaufzeichnungen, Buchumschläge, an einer Stelle sogar Zeitstempel von Faxen. Diese überlappenden Bruchstücke erklären und ergänzen sich, wachsen in der musikalisch subtil gekitteten Montage zusammen und über ihre Summe hinaus.



Was entsteht, ist eine fächerige Ahnung, wer Althen war: Der Provinzbursche aus Unterhaching, dem das (US-)Kino mit seinen Traumangeboten "Phantomschmerzen" bereitet hat. Der talentierte junge Wilde, dessen Texte die deutsche Filmkritik aufmischten, weil er das Lächeln von Tom Cruise wichtiger fand als Ideologie und es besser auf den Punkt brachte als alle anderen. Der lässig-entspannte Bonvivant mit bayrisch angehauchtem Idiom, dem alles in den Schoß zu fallen schien. Der obsessive Beobachter, Bücherwurm, Anekdotenjäger und Kartenleser mit einer Vorliebe für Modelleisenbahnen. Der Nachtarbeiter, dessen unbekümmerte Fassade womöglich eine tiefe Melancholie verbarg. Diese Facetten wendet der Film, hält sie gegen das Licht, bricht sie an Bildern, Geschichten und Berichten, und immer kommt etwas Neues zum Vorschein - manchmal sogar vor laufender Kamera, etwa wenn Althens Ehefrau zur Überraschung ihrer Kinder davon erzählt, wie sie versuchte, ihrem Mann per Trennungskur das Rauchen abzugewöhnen.

Der Tonfall ist von leichter Wehmut gezeichnet, wie sie jedem Nachruf eignet, zumal einem, der von Herzen kommt: Althen war ein enger Freund Grafs, eine ihrer beiden filmischen Kollaborationen ("München - Geheimnisse einer Stadt") dient als kraftvolle Erinnerungsfährte. In den zitierten Passagen aus Althens eigenen Nachrufen (auf Hepburn, auf Antonioni) verdichten sich die Motive des Films. Streitbar wird dieser Gestus nur, wenn er zum Schluss hin die These gebiert, mit Althen sei im Grunde die deutschsprachige (Print-)Kritik gestorben. Wie schon in der Grimme-Preis-Chronik und TV-Bestandsaufnahme "Es werde Stadt" mischt sich Nostalgie mit einer paradoxen Art von zornigem Defätismus, in einer sich zuspitzenden Meinungsmontage, die wunde Punkte trifft, der man in vielerlei Hinsicht zähneknirschend beipflichten muss, die aber den sogenannten "Nachwuchs" nicht zu Wort kommen lässt (und so zwangsläufig den Eindruck vermittelt, dass es gar keinen gibt oder dass er ohnehin nichts zu sagen hat). Dann schlägt Wehmut in Wut um, und vielleicht ist das gut so.

Andrey Arnold

Was heißt Hier Ende? Der Filmkritiker Michael Althen - Deutschland 2015 - Regie: Dominik Graf - Laufzeit: 120 Minuten.

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Die Asymmetrien des Weltkinos: In Finnland ist "Big Game" mit einem Budget von achteinhalb Millionen Dollar die teuerste einheimische Filmproduktion aller Zeiten; in den USA darf der Film froh sein, dass er überhaupt die Kinos erreicht und nicht direkt in den Videotheken oder über Streamingplattformen verscherbelt wird. Wo er wohl trotzdem bald einsortiert werden dürfte, vermutlich in der Nähe von "Snakes on a Plane", einem Internet-Hype aus dem Jahr 2006, mit dem "Big Game" mindestens dreierlei teilt: eine High-Concept-lastige Prämisse; einen halbironischen Tonfall, der nicht so recht weiß, ob er diese Prämisse nun beim Wort nehmen soll oder doch lieber nicht; und den tarantinoerprobten, vermutlich gerade aufgrund seiner scheinbaren Allgegenwart chronisch unterschätzten Hauptdarsteller Samuel L. Jackson, dessen bloße Anwesenheit über die daraus resultierende ästhetische Mattigkeit hinwegtäuschen soll (und das streckenweise durchaus tut; der ebenfalls immer tolle Victor Garber hilft auch mit).

Samuel L. Jackson spielt (und das wurde wirklich einmal Zeit) den amerikanischen Präsidenten. Der muss die Air Force One mid-flight in einer Stahlkapsel verlassen, weil es Terroristen mit simplen Mitteln gelingt, alle Sicherheitsvorkehrungen außer Kraft zu setzen und das Flugzeug zu attackieren. Unten angekommen trifft Jacksons POTUS auf den 13-jährigen Oskari (Onni Tommila), der von seinem Vater für einige Tage, nur mit Pfeil und Bogen sowie einem motorisierten Offroadvehikel ausgerüstet, in den Bergen ausgesetzt wurde - das soll ihm dabei helfen, ein Mann oder etwas in der Art zu werden.



Die Erstbegegnung der beiden ist als nicht uninteressante, mit rassistischen Wahrnehmungsmustern spielende Variation auf die Spielberg"schen unheimlichen Begegnungen der Dritten Art inszeniert, aber das bleibt ein isoliertes Zitat; kindliches Staunen und Mythenproduktion (oder gar: Ideologiekritik) interessieren den Film ansonsten kein bisschen. Von den bad guys ("unpolitische Araber") über die funktionalen Dialoge, die sich meist nicht einmal zu ordentlich markigen Onelinern aufschwingen, bis zu den verwendeten Waffen (besonders schön: die Panzerfaust, deren plumpe äußere Form stets unweigerlich eine Brücke zum Slapstick-Kino schlägt) sieht stattdessen alles nach dem positivistischen Actionmainstream der 1990er aus: Kino als Behälter von awesome stuff.



Es geht dann vor allem darum, eine veraltete Idee von Hollywoodspektakel auf finnische Dimensionen einzudampfen - die Actionszenen stehen etwas unbeholfen in den Weiten der lappischen Wälder herum (gedreht wurde allerdings in den Alpen), Jackson verbringt erstaunlich viel Zeit im Innern eines Kühlschranks. Lediglich der amerikanische control room, in den immer mal wieder ohne nähere Motivation geschnitten wird und in dem tatsächlich auch, anders als im Rest des Films, ein paar Frauen zu sehen sind (eine von ganz fern hillaryeske CIA-Chefin hat sogar eine Sprechrolle!), behauptet Zeitgenossenschaft: Live-Satellitenbilder aus Finnland gebe es nicht, aber das benachbarte Russland werde natürlich beobachtet, da könne man eine Kamera abziehen. Urplötzlich formuliert sich das verborgene masochistische geopolitische Interesse des Films: "Let"s get the satellites pointed in the right direction!" Klar: Relevanz ist, wofür sich die NSA interessiert. Und natürlich dürfte auch der Regisseur Jalmari Helander "Big Game" vor allem deshalb gedreht haben, weil er die Hoffnung hegt, auf dem Radar der großen amerikanischen Studios aufzutauchen.

Für den Film spricht, dass er seine eher kompakten Ambitionen in ebenso kompakten 90 Minuten durcharbeitet - und dass er sich zwischendrin trotzdem Zeit für eine schöne Lagerfeuerszene nimmt. Blöd nur, dass ausgerechnet sein Alleinstellungsmerkmal, die finnische Rahmung, das mit Abstand doofste an "Big Game" ist: Das von einem kläffenden Voice Over unterlegte maskulinistische Initiationsgetue bleibt meilenweit hinter der weitaus filigraneren Komplexität des Populären zurück, die amerikanischer B-Movie-Unfug selbst noch im eher uninspirierten Leerlauf produziert.

Lukas Foerster

Big Game - Finnland 2014 - Regie: Jalmari Helander - Darsteller: Samuel L. Jackson, Onni Tommila, Ray Stevenson, Victor Garber, Mehmet Kurtulus, Sam Levine, Felicity Huffman - Laufzeit: 90 Minuten.