Im Kino

Der Film im Sanatorium

Die Filmkolumne. Von Lutz Meier
22.05.2015. Viel Sex und wenig Liebe nach Mitternacht, aber trotzdem kein richtiger Skandal. Michael Caine, Jane Fonda und Harvey Keitel in einem Film über Jugend. Und ein bisschen Wirklichkeit - das Filmfest in Cannes steuert auf die Preisverleihung zu und hat einen handfesten Favoriten.
Der Skandal war kurz nach Mitternacht programmiert. Die Festivalleitung hatte den einzigen Pornofilm in diesem Jahr in Cannes um 0 Uhr 15 in den Spielplan geschrieben. Es gibt nämlich die Sektion des Mitternachtsfilms, dort laufen Produktionen, die zwar zum offiziellen Programm zählen, aber nicht beim Rennen um die Goldene Palme mitmachen wollen oder dürfen (wie zum Beispiel der an dieser Stelle schon verhandelte Amy-Winehouse-Dokumentarfilm "Amy"). Trotz der späten Stunde wird aus der Nacht zum Donnerstag von turbulenten Szenen vor dem riesigen Grand Théatre Lumière berichtet: Ordentlich im Smoking erschienene Zuschauer, die die Fassung verlieren, weil sie trotz Karte keinen Zugang mehr erhalten, Journalisten, die sich um die letzten Presseplätze prügeln. Bei der Wiederholungsvorstellung am hellichten Tag geht es kaum friedlicher zu.

Pornofilm? In Cannes! So war es jedenfalls vorher durchgesickert. Und Gaspar Noé, in Argentinien geborener französischer Filmemacher, ist seit "Irreversibel" (2002) als Skandalregisseur gelabelt, sein Film "Love" versprach also genau die Aufregung, die das Festival nach ein paar allzu routinierten und einigen zu Recht unverstanden gebliebenen Filmen brauchte.

In Cannes ist es nämlich jedes Jahr das Gleiche: Das Festival lebt von den Erwartungen aus der Vergangenheit, die es weckt und die es doch nur enttäuschen kann. Denn wie keine andere Veranstaltung steht das Festival an der Côte d"Azur für das gute und alte europäische und amerikanische Kino. Filme, die die Goldene Palme holen, werden zu Klassikern - das lehrt die Vergangenheit. Man kann sie gar nicht alle aufzählen, nur einige herauspicken, "La Dolce Vita", "Blow Up", "Taxi Driver", "Pulp Fiction". Daher kommen immer die Veteranen oder deren Adepten, die ein Kino versprechen, wie es früher einmal funktioniert hat. In diesem Jahr war es zum Beispiel Gus van Sant, der laute Buhrufe erntete, und Woody Allen, der geliefert haben soll wie bestellt. Gleichzeitig warten jedoch gleichzeitig alle auf den Tarantino von morgen oder den neuen Lars von Trier. Zumindest aber etwas noch nie Gesehenes. Das gibt es tatsächlich alle paar Jahre mal, vielleicht war im letzten Jahr der Kanadier Xavier Dolan so ein Fall, der hier für "Mommy" den Preis der Jury holte, bezeichnenderweise ex aequo mit Jean-Luc Godard. Doch es müssen viele im Kino scheitern und strampeln und Krach machen dürfen, bis so etwas passiert, und selbst wenn man sie ließe, eine Garantie wäre es dennoch nicht. Zu viel Scheitern und Strampeln und Krach kann oder will sich ein Fest wie Cannes zudem einfach nicht leisten.


Körperliche und seelische Sehnsüchte: "Love" von Gaspar Noé.

Damit es also nicht zu langweilig wird bei all der widersprüchlichen Hoffnung auf neue Klassiker, die alte Bedürfnisse stillen, gibt es in Cannes die Institution des Skandalfilms, am besten mit Ansage. Was ist das also für ein Pornofilm, der dieses Jahr die Rolle erfüllen muss? Die Hauptfigur in Murphy ist ein junger, verkaterter Familienvater, der die Erinnerung an seine besseren Zeiten ausgerechnet in einer VHS-Hülle von "Pulp Fiction" im Regal der Familienwohnung aufbewahrt: Der Inhalt stammt von seiner großen, aber tragisch verflossenen Liebe Electra, eine Dosis Opium und analog fotografierte Stereo-Nacktfotos von Electra. In diesen besseren Zeiten stolpert er in einem Shirt, auf dem groß "Fassbinder" steht, über irgendeine Party. Er verkündet, er wolle einen Film über gefühlsgesättigte Sexualität machen, bevor er eine junge Schauspielerin auf dem Klo beschläft, mit Electra deshalb Ärger bekommt, Versöhnungssex undsoweiter folgen.

Und wo ist da der Porno? Nun, "Love" besteht ungefähr zur Hälfte aus so ästhetisch wie explizit inszenierten Sexszenen (in 3D!). Aber um pornografisch zu sein, müssten die Szenen (jedenfalls nach der in Deutschland gültigen Definition) weitgehend kontextfrei sein und allein zur Aufreizung des Geschlechtstriebs dienen. Das ist hier nicht der Fall. Es sieht hingegen sogar lange so aus, als könnte Noé auch dank seiner Leidenschaft fürs romantisch ausgeleuchtete und elegisch vertonte Sexuelle ein dichtes atmosphärisches Bild darüber gelingen, wie körperliche und seelische Sehnsüchte zusammenfließen. Vielleicht sogar jenen bisher nicht dagewesenen Film über sentimentale Sexualität, den sein betrunkener Hauptdarsteller im Fassbinder-Shirt verheißt. Doch dann ist er doch zu verliebt in seine abgefilmte Körperlichkeit, manche Szenen geraten plump und der Film zerfurcht sich in der zweiten Hälfte in irgendetwas. Das geht so weit, dass Noé irgendwann eine Ejakulation in Großaufnahme in den Film schneidet (natürlich immer noch in 3D). Damit mag er sich einen Jugendtraum erfüllen, aber das ist dann völlig kontextfrei, regt aber den Geschlechtstrieb kein bisschen mehr auf. Kein Porno also und einen Skandal gibt es auch nicht, die meisten Zuschauer sollen gegen halb drei sehr müde aus dem Kino gekommen sein.

Den schönsten und intelligentesten Kommentar zur Sehnsucht liefert dagegen Paolo Sorrentino mit "Youth". Und das vor allem, weil es selbst wieder ein sehr sehnsüchtiger und gleichzeitig ironischer Film ist, was schon für Sorrentinos Rom-Panorama "La Grande Bellezza" (2013 in Cannes bejubelt) und in gewisser Weise auch schon für sein melancholisches Rockstar-Roadmovie "Cheyenne - This Must Be The Place" (2010) galt. Doch dieses Mal ist es Sorrentino gelungen, den ewigen Widerspruch von Cannes in Cannes selbst auf die Leinwand zu bringen. Eine der Figuren, die Sorrentino in einem Sanatorium in den Schweizer Alpen versammelt (in dem, unverkennbar; etwa auch Diego Maradona zu Gast ist), ist ein gealterter Filmregisseur (Harvey Keitel) der seinen letzten großen Film plant, es soll sein "Testament" werden. In der Hauptrolle: Die große und einzige Brenda Morel, die von Jane Fonda mit all der Unerbittlichkeit der alten Diva verkörpert wird, welche sämtliche Illusionen verloren hat. "Die späten Filme der großen Regisseure sind immer Mist", erklärt sie, bevor sie zu einem Charity-Event Richtung Cannes abreist und sich für eine TV-Serie verdingt. "Film ist tot", verkündet sie, "Fernsehen ist die Zukunft… nein, eigentlich ist Fernsehen die Gegenwart".


Kein schlechtes Bild: "Youth" von Paolo Sorrentino.

Der alte Film im Sanatorium, kein schlechtes Bild. In "Youth" wimmelt es nur so von skurrilen Figuren, die alt und müde werden müssen, um die Tragik von Dasein und Kunst erst zu begreifen und zu kapieren, dass Apathie und Alter nur sind, so lange sich der Blick in die Vergangenheit richtet. Hauptfigur im Sanatorium ist der von Michael Caine wunderbar gelassen gespielte Ex-Stardirigent Fred Ballinger, dem andere Figuren erst die Augen öffnen müssen, bevor es zu spät ist, darunter seine Tochter (Rachel Weisz), ein Popstar, ein als Adolf Hitler kostümierter Johnny-Depp-Verschnitt und eine Miss Universum. Jedenfalls ist diese Reflektion über alte Junge, alte Alte und junge Alte so gelassen gemacht, mit so geschliffenen Dialogen, akribisch komponierten Körperpanoramen, mit so komischen Situationen, dass die Cannes-Jury unter Leitung der Coen-Brüdern eine kluge selbstironische Geste vollführen könnte, wenn sie diesem Film die Goldene Palme gäbe. Ob er dann ein Klassiker wird, können wir dann ja später klären.

Nachdem die vielen französischen Filme in Cannes bisher überwiegend enttäuscht haben, lieferte endlich Regiestar Jacques Audiard ("Der Geschmack von Rost und Knochen") einen Film ab, der ebenfalls einen Preis verdient hätte. Zugleich ist "Dheepan" der erste eminent politische Film des offiziellen Programms, auch wenn Audiard im Anschluss an die Vorstellung merkwürdigerweise erzählt, der Film sei apolitisch. Er erzählt die Geschichte eines Paares aus Sri Lanka, das mit einem Kind vor dem dortigen Bürgerkrieg flieht und in einer trostlosen Vorstadt von Paris landet. Aber damit fängt es schon an: Sie sind gar kein richtiges Paar, das Kind interessiert sie anfangs gar nicht, sie haben ohnehin alle drei nur zusammengefunden, um die passende Geschichte für falschen Pass, Flucht- und Asylantrag erzählen zu können. Langsam, gefühlvoll und klischeefrei entwickelt Audiard, wie die drei in der fremden Welt zusammenfinden, wie sie auch einander finden, wie Völkerwanderung, Integration, Kulturaneignung ganz individuell psychologisch funktionieren, aber eben auch, in aller Unvollkommenheit, irgendwie funktionieren könnten.


Langsam, gefühlvoll und klischeefrei: "Dheepan" von Jacques Audiard.

Wäre da nicht der Umstand, dass das verheißene Fluchtziel nichts von der Verheißung erfüllt, die für kriegsgeschundene Flüchtlinge vor allem heißt: Frieden. Und Ruhe. Denn die Wohnblocks, die Dheepan, der Flüchtling, als Hausmeister verantwortet, sind Operationsfeld der lokalen Drogenbanden, ein Terrain der Rechtlosigkeit. Und dann gibt es die Stelle, wo die Geschichte ein wenig ins Groteske kippt, aber dadurch an Stärke gewinnt: Der kriegstraumatisierte Dheepan, der offenbar selbst eine sehr gewalttätige Rolle in der Rebellenarmee gespielt hat, versucht es erst mit den Mitteln, die er aus den Befriedigungsversuchen der Heimat kennt, und definiert eine "No Fire Zone". Als das nicht funktioniert, greift er zu dem anderen Mittel, das er kennt und das hier auch zu regieren scheint: Gewalt. Darin liegt der bittere Witz des konzentriert erzählten Films: Dass der vermeintlich friedliche Westen den Krieg nicht importiert, wie manche Pegidisten behaupten, sondern die Barbarei in sich trägt. Für einen Drehbuchpreis sollte diese Pointe eigentlich gut sein.

Jia Zhangke brachte vor zwei Jahren seinen Episodenfilm "A Touch of Sin" aus China nach Cannes, eine bittere Anklage der alltäglichen Gewalt, die die rasante wirtschaftliche Entwicklung in seiner Heimat bedeutet. Verglichen damit ist sein neuer Film "Mountains may Depart" fast versöhnlich. Er erzählt über drei Jahrzehnte (1999 bis 2025) die Geschichte einer Chinesin aus der Mittelschicht, und darüber die Veränderungen in der Psyche, die die Umwälzung in China auslöst: Der Materialismus, die Auflösung traditioneller Strukturen, die enttäuschten Hoffnungen - hier sind sie nicht nur Zumutungen von Oberschicht und Staatsmacht, sondern auch Verstrickung der ganz normalen Mittelschichtchinesen, die auf ihr Stück vom neuen Wohlstand hoffen. Wie Schauspielerin Tao Zhao dieser Entwicklung mit sparsamen Mitteln verkörpert, wäre zum Beispiel einen Darstellerpreis wert, auch wenn der Film am Ende, als seine Geschichte in Australien landet, ein paar bizarre Wendungen nimmt.

Stellt sich die Frage warum das Kino von außerhalb Europas und Amerikas im offiziellen Programm von Cannes dieses Jahr nur ganz am Rande vorkam, vielleicht hat auch das mit dem Blick der Verantwortlichen in die Vergangenheit zu tun. Vielleicht sollten sie es machen, wie der alte Filmregisseur von Harvey Keitel in "Youth". Der führt ein paar junge Filmnerds an ein Münzfernrohr, das auf die Alpen gerichtet ist. Er lässt sie hindurchblicken, auf einen vergrößerten Berggipfel. "Das seht ihr, wenn ihr jung seid", sagt er, "die Zukunft". Dann dreht er das Fernglas um, es schaut auf die Filmnerds, die weit entrückt zu sehen sind. "Und das", sagt er, "Das seht ihr, wenn ihr alt seid - die Vergangenheit".