Im Kino

Mit Fischaugenkamera aus Ameisenperspektive

Die Filmkolumne. Von Thomas Groh
30.06.2014. Erotischer Rausch, eine dreckstarrende Fremderfahrung im Mittelalter und der Wahnsinn des Nicolas Cage im texanischen Hinterland: Eindrücke vom Filmfest in München.

Das Bild präsentiert sich im klassischen 4:3-Format, die Musik könnte aus einem Hollywood-Melodram alter Schule stammen (oder eben auch aus einem inbrünstig glühenden Film Noir), auch die Laufzeit ist mit 76 Minuten eher am Film Noir orientiert als an heute üblichen Laufzeiten - schon mit den äußeren Parametern ruft Mathieu Amalric in seinem Seitensprungdrama-turns-Gerichtsthriller "Das Blaue Zimmer" das alte Hollywood auf. Auch inhaltlich folgt Amalric diesen Spuren: Ein gut gestellter, verheirateter Mann (Amalric selbst) verliert sich in einem heißen, spätsommerlichen Tête-à-Tête mit einer ebenfalls verheirateten Frau (Stéphanie Cléau) im zerwühlten Bett des titelgebenden blauen Zimmers - bald tauchen kryptische Liebesbriefe auf, gefolgt schließlich vom Tod beider Eheleute. Im intimistischen Setting einer nicht-öffentlichen Gerichtsverhandlung wird die Angelegenheit versachlicht, versprachlicht und verschriftlicht, bis nur mehr ein Urteilspruch und pralle Akten vom Eros geblieben sind.

Amalric lässt seinen Film wie einen erotischen Rausch beginnen: Mitten hinein geht er in diese Liaison, fragmentiert die Körper im Anschnitt, findet so sinnliche, wie flüchtige ästhetische Eindrücke ausgelebter Liebe wider die bürgerlichen Wertvorstellungen. Subjektivierung, Ästhetisierung, Verkünstlichung der Leidenschaften, hin zu einer wahrhaftigeren Ekstase des Begehrens - schön körperlich und verführerisch anzusehen, ohne sich dabei an parfürmierte Bilder konventionalisierter Soft-Erotik zu verraten. Dem stellt Amalric die Kühle des Gerichts, die Verwaltung der Gelüste entgegen - am schmerzhaftesten gerade dann, wenn liebesberauschte Flüstereien aus dem Bett, die schließlich Mord und Totschlag herbeirufen, nochmals aufgesagt, per Steno fixiert und der entsinnlichten Welt der abstrakten Buchstaben zugeführt werden. Der Poetisierung des Exzesses folgt die Ernüchterung durch die Bilanz, auf deren Grundlage schließtlich Recht gesprochen wird.

Die Sache endet zynisch vor Gericht, das zu einer Kirche wird, mit Handschellen, die zu Eheringen werden. Fehlt allein der klassische Hochzeitsmarsch. Ein Mann verschwendet sich, seine Existenz, sein Leben an die Verlockungen einer geheimnisvoll bleibenden Frau - Amalric hat tatsächlich einen Film Noir in allerdings sommerlich leuchtenden Farben gedreht.

Das Blaue Zimmer (Le Chambre Bleu), Regie: Mathieu Amalric. Mit: Léa Drucker, Mathieu Amalric, Stéphanie Cléau, Laurent Poitrenaux, Serge Bozom, u.a., Frankreich 2014, 76 Minuten.


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Ein Kraftakt - für die Produktion, für das Publikum. 13 Jahre hat Aleksei German an dieser dreistündigen Adaption des gleichnamigen Romans der Gebrüder Strugatzki gearbeitet, alleine der Schnitt beanspruchte mehrere Jahre. Auf der Zielgeraden ist der Regisseur dann noch im Februar 2013 verstorben: Ehefrau und Sohn vollendeten den Film schließlich, beim Filmfestival in Rom 2013 feierte er Weltpremiere.

Entstanden ist dabei ein Film, der geradezu dem Morast abgerungen scheint: Vom Plot der Strugatzkis - Wissenschaftler von der Erde entdecken einen Planeten, dessen ebenfalls menschliche Bewohner, mangels Renaissance, im dämmernden Zustand eines ewigen Mittelalters steckengeblieben sind - ist nurmehr ein kryptisches Hintergrundrauschen geblieben. Stattdessen lässt German die sehr subjektive Kamera (Vladimir Ilin/Yuri Klimenko) tief eintauchen in eine schwarzweiße Welt aus Wasser, Schlamm, Schmutz, Fäkalien und Gekröse, in eine Welt, die die Normierungen, Standardisierungen und Regularien der Neuzeit auf sehr vielfältige Weise noch nicht kennt, in eine Welt, die von der Zentralperspektive der Renaissance noch nicht strukturiert und ausgerichtet wurde, in eine Welt, in der der humanistische Begriff vom Menschen als edles Wesen, das zu Höherem strebt, noch nicht etabliert ist.

Ein Chaos-, ein Bewegungsfilm: Drei Stunden lang wimmelt sich German unter Missachtung jeglicher ästhetischer Normen, die das Kino in den vergangenen 120 Jahren entwickelt hat, durch ein dreckstarrendes Mittelalter: Urplötzlich schwenken Hände, Tiere, Waffen in den Bildvordergrund, laufen Leute durchs Bild, fährt die Kamera selbst in Ecken und Winkel, vor denen jeder Hollywood-Film Reißaus nehmen würde. Einstellungen im eigentlichen Sinne gibt es kaum, alles wallt, bewegt sich, interagiert, oft, ja meist am Publikum vorbei: Nicht die Kamera strukturiert das Bild und das Geschehen, scheint es, sondern diese Kamera wuselt sich durch eine vorgefundene Welt, von der sie jeden Winkel erkundet. Ein bisschen ist das so, als hätten Terry Gilliam und Wenzel Storch Stechapfeltee getrunken und anschließend ein Gemälde von Pieter Brueghel dem Älteren mit Fischaugenkamera aus Ameisenperspektive erkundet und dabei zuweilen auch mal einen Ausflug zu Hieronymus Bosch unternommen.


Was man zu sehen kriegt - neben einem atemberaubend texturreichen Set - sind von heutigen regulierten Körpern völlig unterschiedliche Menschen: Blödsinnige, wahnsinnige, eigentümlich freie, eigentümlich unfreie Menschen - eine sonderbare Erfahrung, die man da als von Gesellschaft und Kinoanordnung disziplinierter Mensch macht: So viele Menschen da im Bild zu sehen sind, soviele sitzen ja auch hier im Kinosaal, nur dass wir hier im Kino eben aufgereiht sind und uns sittlich benehmen, ganz im Gegenteil zu allem, was die Menschen da in dieser anderen Welt auf der Leinwand treiben. Man wird sich da, wie es da drei Stunden lang ununterbrochen vor einem wuselt und trubelt, sehr konkret und auf sehr interessante Weise der Ketten bewusst, die einem heute - zum Besseren wie zum Schlechteren - anliegen, die man längst bis zur Unmerklichkeit internalisiert hat. So also fühlt sich historische Tiefe und Differenz schon rein körperlich an.

Man fragt sich auch: Wie wurde dieses endlose Gewese gemacht? Ist das choreografiert? Improvisiert? Ein großes Happening? Oder doch streng inszeniert? Man sieht hier ein durchaus größeres, wenn auch in seinem Nachvollzug schon auch durchaus anstrengendes, Kinowunder: Eine Welt wird hier auf eine Weise gezeigt, die radikal anders ist als unsere, dies aber nicht im Modus der Vermittlung an dem sich Mittelalter-Gschichterln aus dem Theaterfundus üben, sondern in einem Modus, der konsequent die Fremderfahrung ermöglicht und zelebriert. Diese Welt ist - und bleibt, für sich eben auch durchaus zum Schlechteren - intakt: Nie hat man den Eindruck, dass sich hinter der Kamera Technik und Crew befinden könnten, im Gegenteil diese Welt und ihre geballte Schmutzigkeit drängen ganz selbstverständlich immer wieder aufs Neue ins Bild und man staunt, dass bei diesen schlammig-feuchten nasskalten Drehbedingungen bei soviel Technik vor Ort keiner den Elektrotod gestorben ist.

Hard to Be a God (Trudno Byt Bogom), Regie: Aleksei German. Mit: Leonid Yarmolnik, Aleksandr Chutko, Yuriy Tsurilo, Evgeniy Gerchakov, Natalia Moteva, u.a. Russland 2013, 177 Minuten.

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Ich stelle mir gerne vor, wie man sich eines Tages bei der Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie es um die Menschen im späten 20., frühen 21. Jahrhundert zumindest der westlichen Hemisphäre bestellt war, mit Nicolas Cage befassen wird. Man wird sich vielleicht die Super-Cuts auf Youtube anschauen, in denen er entweder am laufenden Meter Nervenzusammenbrüche erleidet oder hysterisch lacht, und wird darin vielleicht wirklich einen Splitter der Wahrheit unserer Tage erblicken: Der Mensch, das überlastete, stets bis zur Überschuss-Reaktion angespannte Wesen, in dem es wegen der Zumutungen dieser Welt ohne Unterlass brodelt, ohne auch nur Hoffnung darauf zu haben, diesen Druck in verträgliche Bahnen ablenken zu können.

In dieser Hinsicht bietet David Gordon Greens "Joe" das eine oder andere Stück Supercut-Gold: Cage, nicht eben ein Meister der subtilen Zwischentöne, wohl aber der krass auf die Leinwand gepatschten Striche, gibt hier wieder einige schöne, schön wahnsinnige Momente zum Besten. Was allerdings auch verwundert, könnte dieser Film doch - gedreht von David Gordon Green, einem trotz Ausflüge in seichtere Mainstream-Komödien, sehr respektiertem Indie-Regisseur und ästhetisch durchaus auf Festival-Mehrwert und ernsten Tonfall hininszeniert - für Cage auch eine Ausfahrt aus der Direct-to-Video-Actionhölle darstellen könnte, in die sich der Darsteller seit geraumer Zeit nicht eben zum Besten seines Renommés hineinmanövriert hat. Womöglich wünschte sich Green aber auch tatsächlich diesen ganz spezifischen Wahnsinn, den außer Cage kein zweiter liefert: Wie er einen Hund hier gellend schreiend als "Arschloch" beschimpft, einem Polizisten nach allen Regeln der Kunst was auf die Backen gibt und sich auch ansonsten zusehends in einen Zustand formvollendeter, wenn auch durch heiligen Zorn legitimierte Raserei begibt - solche reinen "Cage Moments" sind es, auf denen "Joe" zum Gutteil basiert.


Leider ruht sich der Film darauf ein bisschen zu sehr aus. Nach seinem tollem "Prince Avalanche" (unsere Kritik) begibt sich David Gordon Green hier neuerlich ins bewaldete texanische Hinterland, zu den einfachen, "White Trash" genannten Leuten, die in der freien Natur monotonen Arbeiten nachgehen. Feierte "Prince Avalanche" dabei noch die Ekstase und die Verrätselung, erkundet "Joe" nun im ähnlich poetisierendem Gestus Schmutz, Müll und zwischenmenschliche Hässlichkeit des "White Trash": In den spärlichen Überresten zivilisatorischer Grunderrungenschaften erzählt er eine oft jenseits der Grenze zum Miserabilismus angesiedelte Geschichte darüber, dass ein Junge mit Herz einen Vater nicht hat und ein Mann, mit viel Gewalt im Herzen, dem Jungen ein Vater dadurch sein will, sodass er schließlich auch dazu bereit ist, sein Leben dafür zu opfern, um das des Jungen von den Dämonen der ringsum siedelnden Niedertracht zu reinigen.

Diese Backwood-"Americana" des sozialen Niedergangs waren zuletzt häufiger im Kino zu sehen. Es mag daran liegen, dass verschmierte Herdplatten, verdreckte Wohnungen, so unrasierte, wie zahnlose Alkoholiker-Visagen und die Lust am kernigen Männer-Muff vor Natur- und Proletentruck-Kulisse zuletzt gut Konjunktur hatten, dass sich hier dann doch sehr rasch Überdruss einstellt. Die besten Szenen dann demnächst im aktualisierten Cage-Wahnsinns-Supercut.

Joe, Regie: David Gordon Green. Mit: Nicolas Cage, Tye Sheridan, Gary Poulter, Ronnie Gene Blevins, Adriene Mishler, u.a. USA 2013, Laufzeit: 118 Minuten.


Thomas Groh