Im Kino

Die Maus im Keller

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Nikolaus Perneczky
12.06.2014. Der großartige Dokumentarfilm "Zuwandern" von Sabine Herpich und Diana Botescu verfolgt, wie eine Roma-Familie in Berlin an den Institutionen zu zerbrechen droht. Spiros Stathoulopoulos' "Metéora" haftet hingegen der Verdacht des Kompromisslerischen an.

Es beginnt mit einem Rückblick: Die Zeit im leerstehenden Haus am Fürstenwalder Weg ist für die Familie Badea schon vorbei, wenn der Film einsetzt. Begleitet von dem Filmteam betreten sie noch einmal die düsteren Räume. George, der Vater, zeigt die rudimentäre Einrichtung, die Wände sind verschmiert, man glaubt, den Modergeruch regelrecht riechen zu können, Daniel, der älteste Sohn der Familie erzählt, wie er mangels menschlicher Spielkameraden mit einer Maus gespielt hat. Gerade, wenn einem dann die Tränen kommen, meint er, in die Kamera grinsend: "Stopp! Ich habe nichts mehr zu erzählen". Später im Film übernehmen die Eltern, erzählen doch noch einmal von dieser ersten Zeit, von der Notunterkunft, die sie aufsuchen mussten, nachdem sie in Berlin angekommen waren und wenige Geld, das sie aus Rumänien mitgenommen hatten, ausgegeben war. Zu dritt waren sie damals gewesen, die beiden jüngeren Geschwister waren, zumindest rekonstruiere ich das so, erst später nachgekommen, als die Badeas die Bruchbude bereits wieder verlassen hatten. Das tränenreiche Wiedersehen mit den Kleinen am Busbahnhof ist schon Teil des Films und einer seiner emotionalsten Momente. (Zwei weitere sind Telefonate mit Familienangehörigen in Rumänien; vom früheren Leben der Badeas erfährt man ansonsten nicht viel).

Auch wenn es, aus Sicht seiner ehemaligen Bewohner, einen Ort der Vergangenheit darstellt, ist dieses leerstehende Haus wichtig für den Film (der ganz am Ende sogar noch ein drittes Mal darauf zurückkommen wird) - weil es zeigt, dass es möglich ist, aus der Gesellschaft auch komplett herauszufallen oder, wie im Fall der Badeas, gar nicht erst in sie hineinzufinden. Wenn dieses Haus, diese Ruine im Berliner Westen nicht wäre, könnte man den Film, den Sabine Herpich und Diana Botescu über die Badeas gedreht haben, fast auf die - ihrerseits freilich äußerst brüchige, gefährdete - Erfolgsgeschichte reduzieren, die "Zuwandern" gleichzeitig durchaus auch ist: Neun Monate lang begleiteten die Filmemacherinnen die Familie und zeichneten nach, wie diese, unterstützt von einer Mitarbeiterin der Organisation Amaro Foro (ein "Jugendverband von Roma und Nicht-Roma"), Versuche unternimmt, eine neue familiäre Existenz aufzubauen, erst in Neukölln, später in Hellersdorf. Zunächst sieht man die Familie noch beim Flaschensammeln, dann findet die Mutter, Carmen, Arbeit als Putzfrau, der Vater macht einen Sprachkurs und hofft, bald wieder, wie in Rumänien, als Koch arbeiten zu können, die Kinder gehen zur Schule und lernen ebenfalls schnell, das kann man im Film direkt nachvollziehen, deutsch.


Viel an dem außerhalb aller Fördersysteme realisierten "Zuwandern" erinnert an "Neukölln-Aktiv", den Film, den Herpich vorher, mit einem anderen Co-Regisseur, gedreht hatte. "Zuwandern" ist wieder eine ebenso eindringliche wie unaufgeregte Langzeitbeobachtung, wieder ein vorurteilsfreier Blick auf einen Teil der deutschen Wirklichkeit, der im medialen Alltag entweder unsichtbar bleibt oder von Klischeebildern restlos zugedeckt wird; und wieder ist es ein Film geworden, der durchdrungen ist von einer zurückhaltenden Form von Empathie, die sich nicht selbst mit ausstellen muss, die keinen Voice-Over, noch nicht einmal explizite Interviewsituationen braucht; die sich stattdessen in der Geduld manifestiert, die Herpich und Botescu aufbringen, wenn sie beobachten, wie soziale Situationen sich in der Zeit entfalten. Denn genau wie die Gespräche in "Neukölln-Aktiv", wo ausführlich gezeigt wurde, wie eine Sozialarbeiterin versucht, die ihr anvertrauten Jugendlichen wenigstens zur Teilnahme an völlig voraussetzungslosen Gruppengesprächen zu bewegen, sind auch die Interaktionen der Badeas mit Sozialbehörden, aus denen "Zuwandern" zu weiten Teilen besteht, sogar aus der raumzeitlichen Distanz des Kinosessels nicht leicht zu ertragen.

Kommunikation als Arbeit. Darum geht es im Kern vielleicht. Zum Beispiel in den vielen mühsamen Übersetzungsprozessen. Einige der Gespräche drehen sich komplett im Kreis. Aber nicht, weil die Beteiligten sich einander nichts zu sagen hätten, sondern, weil sie auf reale Blockaden stoßen, die durch Kommunikation nicht zu beseitigen sind: In der Schule in Lichtenberg gibt es, wie die Lehrerin beim Gespräch mit den Eltern wieder und wieder beteuert, keine Mittel für unterstützende Maßnahmen für Kinder ohne ausreichende Deutschkenntnisse. Und folgerichtigerweise kann auch die familieninterne Gesprächsszene wenig später, in der die beiden Söhne sich wechselseitig beschuldigen, sich während des vor allem den jüngeren überfordernden Unterrichts gegenseitig vom Lernen abzuhalten, keine Auflösung haben.

Im Zentrum von "Neukölln-Aktiv" stand eine Institution, die auf den Plan tritt, wenn junge Menschen aus gesellschaftlichen und insbesondere auch familiären Zusammenhängen herauszufallen drohen. In "Zuwandern" geht es dagegen um eine Familie, die auf Institutionen angewiesen ist und die nicht selten an den Institutionen zu zerbrechen droht - es ist wohl nur der Hartnäckigkeit von Amaro Foro, einer weiteren Institution, zu verdanken, dass sie nicht tatsächlich an ihnen zerbrochen ist. Dennoch vereint beide Filme (die, nebenbei bemerkt, beide bislang noch ohne regulären Kinostart geblieben sind; was nicht weniger als ein Armutszeugnis für die deutsche Kinoszene ist), dass sie Individuum und Institution nicht gegeneinander ausspielen. Wenn die Institutionen nicht wären, oder, weiter gefasst, wenn die ohne Institutionen nicht denkbare moderne Gesellschaft nicht wäre, dann bliebe, das macht der neue Film eindrucksvoll klar, nur das baufällige Haus am Fürstenwalder Weg, mit den Mäusen im Keller.

Lukas Foerster

Zuwandern - Deutschland 2014 - Regie: Sabine Herpich, Diana Botescu - Laufzeit: 82 Minuten.

"Zuwandern" hat noch keinen regulären Starttermin; am 17.06.
um 20:30 Uhr wird der Film in Anwesenheit der Regisseurinnen und der Familie Badea in der Berliner Volksbühne gezeigt.

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Gleich zu Beginn von "Metéora" etabliert ein Triptychon, an orthodoxe Ikonenmalerei angelehnt, Ort und Personal der Handlung. Links und rechts sind die Nonne und der Mönch abgebildet, auf der Mitteltafel zwei schwindelerregende Felsformationen und auf deren Gipfel zwei Klöster, wo die verboten Liebenden in Sichtweite, aber dennoch getrennt voneinander leben. Zwischen den beiden Felsen steht ein dritter, kleinerer, auf dem sich ein unschuldiger Baum nach dem Himmel streckt, dem über diese ganze Szene wachenden Gott auf seiner Wolke entgegen. Am Fuß der drei Felsen ein winziges Bergdorf und darunter eine Vision der Hölle, welche die beiden Liebenden vermutlich erwartet, sollten sie ihrem Verlangen endlich nachgeben.
 
"Metéora" - der Film ist nach der scheinbar über den Wolken schwebenden Klostergruppe im griechischen Thessalien benannt, die er zum Schauplatz hat - interessiert sich für dieses beeindruckende Terrain vornehmlich als überschaubare räumliche Anordnung. Zwar lässt sich in Rudimenten so etwas wie eine Entwicklung oder Erzähldramaturgie ausmachen. Im Wesentlichen aber navigiert Regisseur Spiros Stathoulopoulos, der als Kameramann in Personalunion auch die pittoresken Ansichten verantwortet, die Landschaft und das darin aufgehobene Begehren so, als ob sie beide aus der Erzählzeit gefallen wären. Dass sich am Ende doch so etwas wie ein (sexueller) Höhepunkt andeutet, tut dem keinen Abbruch. Die Liebe des Mönchs Theodoros und der Nonne Urania ist, wie alles an diesem Film, für die Ewigkeit - oder will es doch wenigstens sein.
 

"Metéora" ist Festivalkino light (2012 lief der Film im Wettbewerb der Berlinale). Das muss nicht unmittelbar gegen ihn einnehmen, sondern heißt in diesem Fall zunächst nur, dass er langen Einstellungen zuneigt, sie aber nie so lange stehen lässt, dass sie zur Kontemplation einlüden; dass dem unvermeidlichen Schlachttier zwar die Kehle durchgeschnitten wird, die Kamera aber im entscheidenden Moment in eine silhouettierende Totale zurückweicht; dass in Wort und Bild ein (durchaus auch thematisch begründetes) Ideal der Reduktion und Askese waltet, dem die gefällige Präsenz des Hauptdarstellers jedoch zuwiderläuft - und ähnliche Entschärfungen mehr. Im Einzelnen ist gegen all das nichts einzuwenden, derart gehäuft muss aber irgendwann der Verdacht des Kompromisslerischen aufkommen.
 
Immer wieder kippen die filmischen Bilder in animierte. In diesen Zeichentricksequenzen, die leicht disneyfizierte Ikonenmalerei des anfänglichen Altarbilds wiederaufgreifend, objektiviert und vereindeutigt sich die auch ansonsten nicht eben subtile Symbolsprache des Films bis zur Unerträglichkeit. Wenn je Zeichentrick verflachend wirkte, dann hier, was weniger gegen das Verfahren selbst als gegen seinen einfallslos-redundanten Einsatz in "Metéora" spricht. Von dem einzigen längeren Gespräch, das Theodoros und Urania führen, bleibt am Ende nur das zwischen den Bergen verhallende Echo zweier Worte: Verzweiflung, Freiheit. Abaelard und Heloise it ain"t - schade eigentlich, aber deren wortbasierte Liebespoetik hätte den Primat des Bildlichen unterminiert oder doch wenigstens verunreinigt, den Stathoulopoulos unbeirrt - manche würden sagen: borniert - vertritt. Kaum Einsichten hält der resultierende Film parat, aber doch eine Lektion: Auch reines Kino ist vor Banalität nicht gefeit.

Nikolaus Perneczky

Meteora - Griechenland 2012 - Regie: Spiros Stathoulopoulos - Darsteller: Theo Alexander, Tamila Koulieva-Karantinaki, Giorgos Karakantas, Dimitris Hristidis, Stelios Mavroudakos - Laufzeit: 82 Minuten.
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