Im Kino

Solidargemeinschaft der Krummen und Schiefen

Die Filmkolumne. Von Lukas Foerster, Elena Meilicke
09.10.2013. In Helge Schneiders wunderbarem neuen Film "00 Schneider: Im Wendekreis der Eidechse" liegt Mühlheim in Andalusien. Denis Villeneuves Thriller "Prisoners" bleibt in seiner Auseinandersetzung mit Folter und Selbstjustiz mindestens ambivalent.


"00 Schneider: Im Wendekreis der Eidechse" ist zu weiten Teilen im Ruhrgebiet gedreht. Dessen Straßen sehen in Helge Schneiders Film aus, als hätte die alte Bundesrepublik nie aufgehört zu existieren. Das liegt nur zu einem kleinen Teil an den Vintage-Accessoires, die hier und da auftauchen (besonders toll: der Seventies-Drehstuhl in Schneiders Wohnung); zu einem etwas größeren schon am körnigen, rauhen 16mm-Material, auf dem Schneider auch diesen Film wieder gedreht hat; vor allem aber daran, dass "Im Wendekreis der Eidechse" einen wunderbaren Blick hat für Orte, an denen die Vergangenheit stur und uncool in die urbane Gegenwart hineinragt. Zum Beispiel die schlichte, abgesenkte Garageneinfahrt, über die man ins Polizeirevier gelangt. Oder eine Verkehrskreuzung vor einer Bahnunterführung, die immer wieder leitmotivisch auftaucht. In deren Mitte ist, in einer sonderbaren, runden Vorrichtung, ein Verkehrspolizist platziert, der vielleicht, unter der Hand, die bizarren Wege regelt, die die Figuren durch die Handlung nehmen.

Das heißt nicht, dass die Zeit stehengeblieben wäre für Schneider. Sein Kino hat sich durchaus verändert seit den neunziger Jahren, als er mit dem Nonsense-Western "Texas - Doc Snyder hält die Welt in Atem" einen immerhin mittelgroßen Erfolg feiern konnte. Schon der umwerfende Vorgänger "Jazzclub" - der freilich bereits wieder geschlagene neun Jahre alt ist - hatte sich von den offensiven Trash-Insignien der früheren Filme weitgehend gelöst, von den Papp-Kulissen zum Beispiel oder von dem absichtsvoll verhauenen Timing jeder einzelnen Szene; "Im Wendekreis der Eidechse", der zweite Film, der um die 00-Schneider-Figur, einen Polizeibeamten, der auch in einigen derangierten Kriminalromanen auftaucht, herum gebaut ist, geht noch ein wenig weiter in Richtung einer allerdings nur vermeintlichen Professionalisierung; es geht eher darum, die eine oder andere campige Maske abzulegen, damit darunter eine umso eigenwilligere und im Kern schwermütige Gestalt hervorlugt. Der Film ist ohnehin größtenteils mit denselben Freunden und Wahlverwandten des Regisseurs - Jazzmusiker, Kleinkünstler, Nachbarn - besetzt, die auch in den anderen Filmen mit dabei waren.

Vor allem überraschen im neuen Film einige Passagen zu Beginn, die geschickt mit den Bildern des Genrefilms, insbesondere des Polizeithrilles spielen; selbstverständlich ohne dass der Film auch nur für eine Sekunde ernsthaft zum Spannungskino hin tendieren würde - Rocko Schamoni zum Beispiel, der als frisch dem Gefängnis entkommene "Eidechse" die Kiosks der Nachbarschaft unsicher macht und ursprünglich einmal einen vollwertigen Gegenspieler abgeben sollte, wurde im fertigen Film auf Zischlaute und Blasebalghände reduziert; als würde er versuchen, sich selbst wieder aufzuplustern, nachdem Schneiders Hang zum Seitenblick ihm gründlich die Luft herausgelassen hat.



Schneider nimmt sich vom Genre nur, was ihm gerade, in der jeweiligen Einstellung, in den Kram passt. Besonders springt die aufwändige Subjektive beim ersten Betreten des Reviers ins Auge, die dessen Inneres nervös erkundet. Die hektischen Schnitte in der nachfolgenden Szene könnten fast einem der Polizeifilme Dominik Grafs abgeschaut sein; oder deren italienischen und amerikanischen Vorbildern - nicht umsonst wird im Revier wild durcheinander deutsch, italienisch und englisch (bis hin zum Eastwood'schen "Make my day!") gesprochen. Anders als diese Vorbilder will der Film nicht auf Konfrontation hinaus; die Solidargemeinschaft der Krummen und Schiefen, der alle Schneiderfiguren implizit angehören, ist mächtiger als jedes Drehbuch.

Eigentlich ist es erstaunlich, dass Schneider auch heute noch, 20 Jahre nach dem kleinen Überraschungshit "Katzeklo", im Mainstream der deutschen Popkultur präsent ist. Freilich ist längst klar, welche Rolle dieser Mainstream ihm einzuräumen bereit ist und welche nicht: Als Pausenclown, auf Stefan Raabs Sofa zum Beispiel, ist er gern gesehen, als Hauptattraktion weniger gerne; erst Anfang dieses Jahres wurde seine WDR-Talkshow "Helge hat Zeit" nach gerade einmal zwei Episoden eingestellt. Dem Vernehmen nach auf seinen eigenen Wunsch hin, trotzdem ist das bezeichnend: Für jemanden wie Schneider hat das öffentlich-rechtliche Fernsehen vielleicht alle paar Monate ein Zeitfenster übrig, aber auf die ganz eigentümliche, ungefensterte Helge-Schneider-Zeit kann es sich nicht einlassen.

Warum sollte der letzte Poet des deutschen Kinos auch ausgerechnet im Formatfernsehen zu sich finden? Mit seinen Kinofilmen ist Schneider selbst (dem Vernehmen nach) seltsamerweise nie wirklich glücklich geworden; dabei hat er da viel mehr Freiheiten, zum Beispiel für jene Abschweifungen, die nirgendwohin und auf keinen Fall wieder zurück führen, die im neuen Film die Suche nach einer Waschmaschine im Schneesturm enden lassen oder Mülheim mit einem Schnitt mit der andalusischen Meeresküste kurzschließen. Auch die Memoiren, an denen der ergraute Kommissar in der heimischen Wohnung schreibt (schrecklich einsam sitzt er da, in den ersten Szenen, bis eine Tante aus Amerika vorbei schaut und ein wenig Unfug auch im tristen häuslichen Raum veranstaltet), werden am Ende nichts resümmiert haben. Sondern sie werden höchstens um eine kleine Facette jenes sonderbare Gesamtkunstwerk Helge Schneider erweitert haben, das auch der Film "Im Wendekreis der Eidechse" auf eine ganz besonders schöne Weise fortschreibt.

Lukas Foerster

00 Schneider: Im Wendekreis der Eidechse - Deutschland 2013 - Regie: Helge Schneider - Darsteller: Helge Schneider, Rocko Schamoni, Carlo Boes, Peter Thoms, Salvatore Bonarrigo, Tyree Glenn, Ira Coleman, Pete York, Rudi Olbrich - Laufzeit: 94 Minuten.

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Erste Einstellungen: zwei Männer auf der Jagd, einer legt an, zielt, dazu auf der Tonspur eine Stimme, die das "Vater unser" spricht. Treffer. Man hievt das tote Wild zum Abtransport ins Auto. Am Heck klebt der Jesus-Fisch und vom Rückspiegel baumelt ein Holzkreuz. Auf zum Thanksgiving-Dinner. Die ersten Minuten von "Prisoners" stapeln christliche Symbole übereinander wie Kleinkinder Holzklötze. Einer geht noch. Wir verstehen: es soll in den kommenden zweieinhalb Stunden um Gott, um Sünde und das Böse gehen. Wir verstehen auch: Keller Dover (Hugh Jackman), der Mann, der mit dem 'Vater unser' auf den Lippen Gottes Geschöpfe abschießt, muss ein zwiespältiger Charakter sein.

Wie zwiespältig, das wird wenig später deutlich. Noch während des Thanksgiving-Dinners, das die Dovers mit der befreundeten Familie Birch feiern, verschwinden die zwei kleinen Töchter der beiden Familien. Ein Detective Loki (Jake Gyllenhaal, wie immer schön verdödelt, hier mit nervösem Augenzwinkern) übernimmt die Ermittlungen und nimmt einen Verdächtigen fest, den geistig Behinderten Alex Jones (Paul Dano). Als der aus Mangel an Beweisen schnell wieder freikommt, entscheidet sich Keller, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Er entführt Jones und sperrt ihn in eine Art privaten Folterkeller, um den Aufenthaltsort der Mädchen aus ihm herauszuprügeln.

Diese Szenen sind sehr brutal und direkt; als irgendwann Hammer hervorgeholt wurden, habe ich weggeschaut. Die amerikanische Filmkritik ist auf die Fragen von Folter und Selbstjustiz, die "Prisoners" anzustoßen scheint, groß angesprungen. Einige priesen den Film als "the best argument against torture that has emerged from the film industry in a long time", eine Einschätzung, die ich völlig vermessen finde. "Prisoners" ist regelrecht perfide, was die Folterszenen angeht. Denn natürlich ist die Situation, von der der Film ausgeht - verzweifelter Vater versucht seine Tochter zu retten, mit Gewalt, er tut es nicht gerne, aber es muss sein, sie könnte noch am Leben sein, irgendwo da draußen -, so gebaut, dass die Gewalt wenn nicht legitimiert, so doch verständlich erscheinen muss. Außerdem tut der Film zwar so, als wolle er sich von Kellers gottesfürchtiger Selbstgerechtigkeit distanzieren (siehe Eingangssequenz) - de facto ergötzt er sich aber am Spektakel von Kellers brachialer Gewalt und archaischer Survivalist-Männlichkeit, die für sich das Recht zur Selbstjustiz in Anspruch nimmt. Am Ende wird Keller easy-peasy exkulpiert: alle können sich darauf einigen, dass er ein "good man" ist.



Dass "Prisoners" die ganze Folter-Debatte vollkommen egal ist, dass sie nichts als vorgetäuschter Tiefgang und pseudo-ethisches Ornat ist, wird spätestens im letzten Drittel des Films deutlich, der mit einem skurrilen Wechsel ins Fantastische und Groteske aufwartet. Das ziemlich verquaste und angestrengt ausgedachte Drehbuch Aaron Guzikowskis sieht endlos verzottelte Plotwindungen vor, es geht um Schlangen, heidnische Hippies und gezeichnete Labyrinthe (hier in der Kommentarspalte zu einer Filmkritik eine schöne Diskussion, die auch die kleinsten Plotdetails aufzuschlüsseln versucht). Perversion und Psychopathologie halten Einzug, als Vorbilder geben sich "Das Schweigen der Lämmer" oder die stilisierten David-Fincher-Exzesse "Seven" und "Zodiac" zu erkennen. Das ist unterhaltsam und sehr spannend, steht aber völlig quer zum Realismus der ersten Filmhälfte. Die "suspension of disbelief" funktioniert nur stolpernd.

Gar nicht stolpernd, sondern elegant und atmosphärisch sind dafür die Bilder, die Regisseur Denis Villeneuve und sein Kameramann Roger Deakins (der auch fast alle Filme der Coen-Brüder gedreht hat) gefunden haben. "Prisoners" ist ein richtiger Herbstfilm, der ein unendlich graues, verwahrlostes und tristes Kleinstadtamerika zeigt. Der Regen spielt neben Jackman eine Hauptrolle. Er peitscht und prasselt in einem Fort, und alle Fensterscheiben sind von Tropfen und Schlieren verschmiert. Durchsehen geht nicht. Wie aufregend sich das Licht in diesen regennassen Scheiben brechen kann, allein darum geht es in dem zumindest visuell großartigen Finale von "Prisoners".

Elena Meilicke

Prisoners - USA 2013 - Regie: Denis Villeneuve - Darsteller: Hugh Jackman, Jake Gyllenhaal, Viola Davis, Maria Bello, Terrence Howard, Melissa Leo, Paul Dano - Laufzeit 153 Minuten.