Im Kino

Der große Bumbum sagte

Die Filmkolumne. Von Elena Meilicke, Nikolaus Perneczky
24.07.2013. In seinem Technofilm "The Legend of Kaspar Hauser" lässt Davide Manuli ausgiebig die Puppen tanzen. Robert Redfords Linksterrorismus-Thriller "The Company You Keep" macht es einem leicht, sich in den zerfurchten Gesichtern der Darsteller zu verlieren.


"Olaf und ich, und die Hitze, und dieses, wie es heißt, ibizenkische Licht." (Rainald Goetz: Rave)

Mythen vom Mittelmeer: Zeus raubt die Jungfrau Europa vom Strand weg, und Aphrodite wird aus Schaum geboren. Mit "The Legend of Kaspar Hauser" bekommt endlich auch Techno seinen paneuropäischen Gründungsmythos. Eine Legende: wie kam Techno in den Süden? Ein deutsches Findelkind wurde an den Strand gespült! Vincent Gallo hat es gefunden und ihm die Grundlagen des DJing beigebracht. So in etwa geht der schöne, wirre Plot von Davide Manulis zweitem Film. Der spielt zwar nicht auf Ibiza, sondern auf Sardinien, das aber ebenso gleißendes Licht hergibt. Ein Licht, das strahlt und verstrahlt und dafür sorgt, dass alles und jedes stets von seinem Schatten begleitet wird: krumme, formlos schwarze Dinger, die über den steinigen Boden kriechen. Das Land ist karg und schroff, ohne Baum und Strauch, dafür leuchtet am Horizont das Meer. Aufgenommen in langen, statischen, statuarischen Einstellungen, liefert "The Legend of Kaspar Hauser" überwältigende Monumentalkompositionen mit starken Fluchtlinien, in Schwarz-Weiß und auf 35 mm. Wie es sich gehört für einen Mythos.

"Dämmern, Hämmern, Dösen." (Goetz: Rave)

Kaspar Hauser also, und Vincent Gallo als der Insel-Sheriff, der den halbtoten Kaspar aus dem Meer fischt und erstmal im Insel-Gefängnis wohnen lässt. Da hockt Kaspar in seinem kleinen Käfig unter freiem Himmel und schlägt debil-zufrieden ein Essgeschirr an die Gitterstäbe. Tok tok tok, immer, immer wieder. Klein und drahtig ist Kaspar, er trägt Adidas-Streetwear. Die weißblonden Haare sind zum feschen Undercut geschnitten und auf den Ohren sitzen mächtige Kopfhörer. Darüber hinaus ist Manulis Kaspar Hauser eine Frau (Silvia Calderonoi), und sein Name ist in Femen-Aktivistinnen-Art dick und schwarz auf die nackte Frauenbrust geschrieben. Gleichzeitig könnte nichts der normierten Überweiblichkeit der Femen-Frauen ferner stehen als dieser androgyne und zwitterhafte Kaspar-Körper. Sprechen kann er nicht, aber tanzen: manchmal überkommt es ihn, dann geht eine große Bewegung durch ihn hindurch, er nickt und zuckt und wippt und wackelt. Das Kasperle. Die Puppe. Die Puppen tanzen lassen. Bis in die Puppen.

"Oh ja.
Wow - ... - hmm... - du -
dingens -
ja -
ich auch - ..." (Goetz: Rave)



1828 tauchte Kaspar Hauser wie aus dem Nichts in den Straßen von Nürnberg auf, verwahrlost, wenige Worte stammelnd: ein Reiter wolle er werden wie sein Vater. Als "Wolfskind" gehandelt erregte Hauser zunächst das Interesse von Europas Philosophen und Pädagogen (was ist Sprache, was ist Bildung, was ist Zivilisation?), und beflügelte ein gutes Jahrhundert später auch das europäische Autorenkino (die 70er Jahre, Truffaut, Herzog). Manulis Umschrift von Hauser zum Technotänzer affirmiert die schöne Sprachlosigkeit: ein kleines "Yeah, yea" ist alles, was Hauser auf Sardinien von sich gibt, wenn er sich verzückt zum Beat bewegt, ganz bei sich und in sich gekehrt. Autistic Disco, eine fröhliche Psychopathologie der Clubkultur. Wo die Sprache fehlt, bröckelt der Sinn: Es ergibt Sinn, dass Manulis Techno-Saga konsequent elliptisch und löchrig erzählt ist, frei von irgendwelchen narrativen Kohärenzanforderungen. Am Anfang sausen UFOs über den Insel-Himmel, die Vincent Gallo in Saturday-Night-Fever-Pose emphatisch begrüßt.

"Und der große Bumbum sagte: eins eins eins -
und eins und eins und -
eins eins eins -
und -
geil geil geil geil..." (Goetz: Rave)

Die Musik dazu kommt vom französischen Elektromusiker Vitalic, melodiöser Electroclash-Techno-was-auch-immer in der Tradition des deutschen Labels Gigolo Records, das von DJ Hell a.k.a Helmut Josef Geier betrieben wird - der übrigens bekennender Femen-Finanzierer und zudem ein Bayer wie Hauser ist. Vielmehr als an Sprechen und Handlung ist "The Legend of Kaspar Hauser" an dieser Musik interessiert, die immer wieder den Film überschwemmt und fortschleppt, ihn zum Musikvideo werden lässt, das tanzende Körper beobachtet - den der Insel-Schönheit (Elisa Sednaoui), in Zeitlupe und frontal, oder Vincent Gallo im Profil; schwerer und breiter geworden beschränkt er sich auf entzückende ravige Handbewegungen. Vielleicht ist "The Legend of Kaspar Hauser" mit seiner Tanz-Typologie die barocke Italo-Variante von Rineke Dijkstras minimalistischen Video-Studien zu tanzenden Teenagern in englischen Clubs? Am Ende jedenfalls steht als schöne Utopie der große Rave am Strand - das "Paradies" nennt es ein Zwischentitel.

Elena Meilicke

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Robert Redford meldet sich mit einer Regiearbeit zurück, worin er auch eine der Hauptrollen spielt: Jim Grant, ein Anwalt mit Vergangenheit in der militanten Protestkultur der langen Sechzigerjahre. Auf zunächst undurchsichtige Weise ist er mit Sharon Solarz (Susan Sarandon), einer ehemaligen Aktivistin der Weathermen verbandelt, die am Anfang von "The Company You Keep" - nach Jahren eines im Untergrund verbrachten Doppellebens - dem FBI ins Netz geht. Was der aufopferungsvolle, alleinerziehende Vater Jim Grant mit der Geschichte des linksradikalen Terrorismus zu tun hat, das will auch der junge Reporter Ben Shepard (Shia LaBeouf) herausfinden: Vergangenheitsbewältigung als Ermittlungsarbeit.
 
Nicht nur aus figurendramaturgischen Gründen ist "The Company You Keep" zwischen diesen beiden Charakteren, Redfords alterndem Anwalt und LaBeoufs Nachwuchsjournalisten aufgespannt. Der eine ist auf der Flucht, der andere spürt ihm nach; ihre parallelen Wege durch ein vor Naturschönheit strotzendes Amerika der oberen Mittelschicht, von Ann Arbor bis Big Sur, lassen sich als maßgeschneiderte Angebote an ein Publikum mit sehr unterschiedlichen Voraussetzungen begreifen: Redfords zunehmend melancholische Fluchtbewegung für die Alten, die womöglich selbst dabei waren, als sich eine Fraktion des amerikanischen SDS vor dem Hintergrund des Vietnamkriegs radikalisierte und unter die Bombenleger ging (ein frühes Positionspapier hatte eine Liedzeile Bob Dylans zum Titel: "You don't need a weatherman to know which way the wind blows"), LaBeoufs investigatives Whodunnit für die Jungen, denen dieses Kapitel der amerikanischen Geschichte wenig bis gar nichts sagt, weshalb man es ihnen als (recht altbackenen) Krimiplot verkaufen zu müssen meint.
 
Etwas sehr viele politische Absicherungen häuft "The Company You Keep" über seine knapp zweistündige Laufzeit an: Der Chefermittler des FBI ist ein Afroamerikaner (wie übrigens auch eines der drei Todesopfer, die der Weather Underground auf dem Gewissen hat), als Motivation für den militanten Protest wird einzig der Vietnamkrieg zitiert (und nicht etwa der für die Bewegung nicht minder wichtige Rassismus daheim) und die dunkle Schuld in Jim Grants Vergangenheit löst sich zum Schluss in ein menschelndes Wohlgefallen auf, das an liberale und konservative Gemüter gleichermaßen appelliert: Das Herz schlägt in der goldenen Mitte.

Als Entschädigung für diese weitreichenden Entschärfungen gibt es (neben einer Reihe weiterer Kurzauftritte alternder Hollywoodstars) ein Wiedersehen mit Nick Nolte, dessen kaputte Raspelstimme mehr Geschichte in sich birgt, als die versammelten (teils authentischen, teils fingierten) Zeitdokumente, die LaBeouf für seine Altersgenossen zur Geschichtsstunde arrangiert. Auf dem T-Shirt, das Noltes massigen Oberkörper umhüllt, steht "Liberty or Death": Dass dieser arge Typ, wie vom Drehbuch insinuiert, einmal mit Robert Redfords Föhnwelle befreundet gewesen sein soll, überlastet die Tragfähigkeit der Fiktion - wie überhaupt solches (mitunter gegen den Sinn der Erzählung gerichtetes) Insistieren einer historischen Indexikalität in den Körpern und Gesichtern der Schauspieler zu den großen Stärken dieses ansonsten brav dahinplätschernden Films rechnet.
 


Man muss, um diese Stärke zu gewahren, den Film nicht erst gegen sich selbst wenden. Dass Redford die unterirdische Kraft gealterter Schauspielerkörper ganz gezielt einzusetzen weiß, stellt er im letzten Akt von "The Company You Keep" eindrucksvoll unter Beweis. Hart an der Grenze zum Gesinnungskitsch - aber das ist genau der Punkt - zeigt er uns seinen Protagonisten im intimen Clinch mit dessen ehemaliger Mitstreiterin Mimi (Julie Christie): ein in Nahaufnahmen gefasstes Gespräch über die letzten Dinge des politischen Kampfes, das eine ganze Nacht andauert. In einer Holzhütte. An einem tiefgrünen See. Am Schein des Kaminfeuers. Ihrem ebenso schwerwiegenden wie schwerfälligen Dialog - über die Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen - kann man nur mit Mühe folgen, so verführerisch ist es, sich an ihre zerfurchten, vom Feuer belebten Gesichter zu verlieren.

Solange man jung ist wie Shia LaBeouf (oder wie der von Babyface Terrence Howard verkörperte FBI-Agent), trägt man das Gesicht, mit dem man geboren wurde. LaBeoufs Reporter setzt alles daran, sein unbeschriebenes Blatt so schnell wie möglich mit einer Enthüllungsgeschichte zu füllen, wird zuletzt aber einsehen, dass es dazu eines ganzen, gelebten Lebens bedarf. Erst im fortgeschrittenen Alter - als Folge nicht nur der persönlichen, sondern auch der überindividuellen Geschichte - wächst einem endlich das Gesicht, das man verdient. "The Face You Deserve": So könnte der andere Film heißen, der neben dem manifesten Plot von "The Company You Keep" (oder vielleicht als ein Korrektiv dazu) mitläuft. In diesem - besseren - Film fokussiert Redford die Gesichter seiner Darsteller als Gesichte der Geschichte, die in ihrer sinnlichen Evidenz eine andere und politisch weniger eindeutige Sprache sprechen (obwohl sich, wie im Fall von Julie Christie, in die zeithistorischen auch schönheitschirurgische Spuren mischen), als der bisweilen unerträglich rechtschaffene Liberalismus des Films im Ganzen vermuten lässt.

Nikolaus Perneczky

The Legend of Kaspar Hauser - Italien 2012 - Originaltitel: La leggenda di Kaspar Hauser - Regie: Davide Manuli - Darsteller: Vincent Gallo, Fabrizio Gifuni, Claudia Gerini, Elisa Sednaoui, Silvia Calderoni, Marco Lampis - Laufzeit: 95 Minuten.

The Company You Keep - Die Akte Grant - USA 2012 - Originaltitel: The Yompany You Keep - Regie: Robert Redford - Darsteller: Robert Redford, Shia LaBeouf, Julie Christie, Susan Sarandon, Nick Nolte, Chris Cooper, Terrence Howard, Stanley Tucci - Laufzeit: 121 Minuten.