Im Kino

Welt als Pastiche

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer, Nikolaus Perneczky
23.03.2011. In die siebziger Jahre und einen Arbeiterkampf entführt Francois Ozon mit den Mitteln der Boulevardkomödie Catherine Deneuve und Gerard Depardieu in "Potiche". Durch ein von Hexen, Tod, Teufel und anderen Spezialeffekten besiedeltes Mittelalter jagt Dominic Sena in "Der letzte Tempelritter" Nicholas Cage und Ron Perlman.


"Das Schmuckstück" beruht auf einer Vorlage von Pierre Barillet und Jean-Pierre Gredy, zwei Veteranen der französischen Boulevardkomödie, und es ist diese Tradition, zusammen mit einem bestechenden, von der Deneuve angeführten Schauspielerensemble, die Francois Ozons Neuestem sein eigentümliches Gepräge verleiht: Während sich Verwechslungen über Enthüllungen über Missverständnisse häufen, darf hier so ungeniert chargiert werden, dass die vierte Wand wackelt.

Dass "Das Schmuckstück" in den späten 1970ern angesiedelt ist, zu einem Zeitpunkt also, da man sich in weiten Teilen der westlichen Welt noch darauf einigen konnte, in einer Klassengesellschaft zu leben, entbindet den Film davon, sich mit sozialen Nuancen aufzuhalten. Stattdessen tragen hier alle Figuren Charaktermasken: der Arbeiterführer Babin (Gerard Depardieu), der Fabrikbesitzer Pujol (Fabrice Luchini), seine Sekretärin (Karin Viard als Angestellte zwischen den klaren Fronten) und die durch und durch bourgeoise Familie des Patron, allen voran seine Frau Suzanne (Catherine Deneuve), in der alle nur die Vorzeigegattin oder, wie es der Filmtitel will, das Schmuckstück sehen wollen.

Niemand ahnt, welche Potenziale in Suzanne schlummern, und auch den Zuschauer führt Ozon zunächst genüßlich hinters Licht. Die Eröffnungsszene folgt ihr, angetan mit einem roten Sportanzug, beim Jogging durch ein beschauliches Waldstück. Ein scheu aufblickendes Reh, der Flügelschlag einer Taube und zwei kopulierende Kaninchen inspirieren Suzanne zu einem Gedicht, dessen einfältige Süßigkeit geeignet ist, noch den stärksten Magen umzudrehen. Ihr Auftreten im Kreis der Familie befestigt diesen ersten Eindruck einer properen Hausfrau, die kein Wässerchen trüben kann. Dies soll sich ändern, als ihr herrschsüchtiger Mann von den streikenden Arbeitern seiner Regenschirmfabrik in Geiselhaft genommen wird: Suzanne sieht sich gezwungen, das Ruder in die Hand zu nehmen.


Was folgt, hat lange die Anmutung einer geradlinigen Emanzipationsgeschichte und lässt sich über alle Unebenheiten hinweg, die eine solche Lesart zu begradigen hätte, gewiss auch so verstehen. Zugleich zieht der Film aber eine gehörige Distanz zu seinen Figuren und ihren Anliegen ein; eine Distanz, die den vordergründig emanzipatorischen Diskurs in ein anderes Licht rückt. Wie schon in früheren Arbeiten Ozons (wie etwa der Faßbinder-Adaptation "Tropfen auf heiße Steine") ist Historizität in "Das Schmuckstück" auch und vor allem eine Frage zeittypischer, farblich genau abgestimmter Outfits und Interieurs; ein Verfahren, dass ähnlichen Auffassungen etwa im deutschen Geschichtskino bei oberflächlicher Betrachtung gar nicht so fern steht, der beabsichtigen Wirkung nach jedoch nicht weiter davon entfernt sein könnte: Nicht um Authentifizierung geht es hier, sondern im Gegenteil um die Erschaffung einer eigenlogischen, artifiziellen Welt-als-Pastiche. Alles, wirklich alles, was in dieser Welt geschieht, rückt in die Nähe von Stil und Zitation. Der Kapitalist und Patriarch, die Hausfrau und was der Figuren noch sind - sie alle geraten zur reinen Allüre, werden als die "Rolle" kenntlich, als welche sie zu kritisieren wir gewohnt sind. So weit, so gewöhnlich, nur dass die hypostasierte 1970er-Textur, ob Ozon will oder nicht, auch seine Sympathieträgerin, die emanzipierte Suzanne, überzieht und mit Gleichgültigkeit schlägt.

Spoilers ahead! Spätestens mit Suzannes Einstieg in die Politik wächst das Unbehagen an ihrer Person. Ihr populistisches Programm gibt sich im Finale als antimoderne Reaktion auf die Zumutungen des Neoliberalismus zu erkennen, die sich gegen Ende der 1970er Jahre zusehends bemerkbar machten. Wie soll man sich zu dem zu gleichen Teilen überschwänglichen wie unheimlichen Schlussbild verhalten, wenn Suzanne/Deneuve sich nach ihrem Triumph an den Wahlurnen erst mit den Worten "Ich möchte euch allen eine Mutter sein!" an das Volk richtet, um im nächsten Moment unvermittelt die folgende, als Chanson getarnte regressive Phantasie Jean Ferrats ("Wie schön ist das Leben") anzustimmen.

In Suzannes Umarmung lösen sich die Widersprüche, die unruhige Bewegtheit und Beschleunigung der Gegenwart in Wohlgefallen auf, was eigentlich nur zwei Schlüsse zulässt: Entweder Francois Ozon ist soeben in den Pantheon der abgründigsten Sozialsatiriker aufgestiegen... oder er hat den Verstand verloren.

Nikolaus Perneczky


***



In Sachen Geografie-Kenntnis immerhin ist "Season of the Witch" auf Shakespeare-Niveau. Ganz so, wie in dessen Wintermärchen Böhmen ein "country near the sea" ist, kraxeln hier Nicolas Cage und Ron Perlman an der steirischen Steilküste vor brandendem Ozean. Die beiden sind bzw. waren Kreuzritter, die angesichts des im Namen Gottes auch von ihnen selbst angerichteten Blutbads den Moralischen kriegten und kurzerhand desertierten. Als ex-christliche Ronins auf eigene Rechnung ziehen sie nun gegen Gott, Hexen, Tod, blasenwerfende Mönche und andere Teufel. Zur Bewährungsprobe kommt es sehr bald. Es ist Mittelalter und also Pest, eine Hexe, die vielleicht keine ist, wird in hoch gelegene Finsterburg verbracht, wo aus einer christlich-magischen Handschrift - ach egal, irgendwie so.

So ziehen Cage, der nicht mehr jung ist, aber das Geld (Steuergeschichten) trotzdem braucht, und Ron Perlman (als der Schöne) und Claire Foy (als das Biest) durch den finsteren Wald. Ein paar weitere Männer sind als Kanonenfutter für allfällige Actionsequenzen im Schlepptau und bleiben nach und nach auf der Strecke. Über Abgründe wird gerollt am gespanntesten Seil, Visionen werden gehabt mit tödlichster Folge. Lieblos plündernd zog Drehbuchautor Bragi F. Schut durchs Mittelalter-Fantasy-Arsenal und schnappte sich, was bei drei nicht auf dem Regal war. Unter Dominic Senas durchs Kameraquerlegen und ständige Aufbrausen der Aktionen keineswegs weniger mediokrer Regie geht es dahin, die Musik schwillt ab und an in den engen Grenzen des Kompositionstalents von Atli Örvarsson.

Cage, dessen Rollen des letzten Jahrzehnts man recht klar nach der letztlich eher willkürlichen Darstellung im manischen und depressiven Register unterscheiden kann, ist hier leider in letzterem unterwegs. Die güldenen Ringellöckchen überm Ritterornat reißen's nicht raus und sichtlich denkt der Schauspieler stets an was Schöneres, während er die dämlichen Dialogzeilen spricht. Perlman neben ihm ist glücklos für das zuständig, was Herr Schut für Humor hält. Eine ganz besondere Schau sind die unzähligen CGI-Effekte, die so ziemlich aussehen wie gemalt. In dem Fall kein Kompliment, denn so eine schwache Sehnsucht (credo quia absurdum) nach Digitalrealismus spürt man noch unterm Sepiaanstrich, der die Bilder ohnehin alle ins künstlich Edelschmutzige auswäscht.



Die Frage, was ein Film wie dieser hier soll, kann nur die danach sein, im Rahmen welcher Hollywood-Ökonomie er Sinn macht. Geschnürt hat das Paket die Firma Relativity Media, ein in sich selbst noch einmal ausdifferenzierter Independent mit allerdings engsten Banden zu diversen Großstudios von Universal bis Sony. Relativity Media ist kein Filmstudio im engeren Sinn, sondern ein obligatorischer Passagepunkt für Risikokapital, zu dessen Quellen der Ex-Venture-Kapitalist und Neo-Mogul Ryan Kavanaugh wundersam Zugang besitzt. (Ein hoch instruktives Porträt von Kavanaugh findet sich in der Zeitschrift Esquire. Snippet: "I'm not in this for the art, you know? I don't care about awards. I want to make money. I want to own a business.?)

Zu den inzwischen schon reichlich vielen Erfolgsstücken von Relativity gehören sämtliche jüngeren Judd-Apatow-Produktionen (der bedankt sich stets für ihm gewährte Freiheiten; hält der Misserfolg an, den der Flop seines letzten Werks "Funny People" signalisierte, ist es mit denen aber sehr sicher schnell vorbei); es findet sich jedoch, Award-Interesse oder nicht, auch Oscarware wie "Social Network" und "The Fighter" darunter. Geld ist eben in beide Richtungen blind für ästhetische Qualität. Der verblüffende Erfolg von Relativity - die Firma existiert erst seit 2004 - ist Konsequenz der Umstrukturierung der Studios, die sich wiederum dem Zusammenbruch ihrer Finanzierungssysteme verdankt. Die großen Studios haben ihre eine Weile lang (nicht zuletzt dank sprichwörtlichem stupid German money) blühenden eigenen Independent-Arme weitgehend aufgegeben und sourcen die Produktion vor allem von Filmen mittlerer Budgetgröße aus.

So hat Relativity unter anderem die auf Horror spezialisierte Unterfirma Rogue des Universal-Independent-Sublabels Focus gekauft (Backkatalog inklusive). Und für die werden jetzt mit Finanz-, aber nicht Kunstsachverstand Pakete geschnürt. Wie das "Season of the Witch"-Paket aussah, liegt auf der Hand. Nicholas Cage ist noch immer so was wie ein halbwegs verlässlicher Star, nicht mehr in großen Dimensionen, aber für ein paar Millionen über sein Gehalt hinausgehendes weltweites Einspiel sicher noch gut - eine Mehrwertabschöpfung, die in Cages finanziell prekärer Zwangslage sicher erst recht funktioniert.

Regisseur Dominic Sena durfte vor zehn und mehr Jahren mal auf den Aufstieg ins große Blockbuster-Fach hoffen. Daraus wurde nichts, er ist als einer, der nicht mehr viel zu erwarten, dafür aber zu fürchten hat, aus der Mittelschicht ins Direct-to-video-Proletariat abzurutschen, sicher nicht sonderlich teuer. Dazu ein Drehbuch eines jungen und hoffnungsvollen Autors, ein aufstrebender weiblicher Jungstar; Ron Perlman als günstiger B- oder C-Darsteller obendrauf. Viel Geld für die Digitaleffekte oder die Trailer ist bei einem Budget von 40 Millionen Dollar verständlicherweise nicht mehr übrig. Aber wen kümmert's. US-Einspiel bisher rund 25 Millionen, der Rest kommt weltweit und im - und sei es noch so schrumpfenden - Home-Video-Markt wieder rein. Summa summarum: gesundes Business, I don?t care about awards.

Ekkehard Knörer

Das Schmuckstück. Frankreich 2010 - Originaltitel: Potiche - Regie: Francois Ozon - Darsteller: Catherine Deneuve, Gerard Depardieu, Fabrice Luchini, Karin Viard, Jeremie Renier, Sergi Lopez

Der letzte Tempelritter. USA 2010 - Originaltitel: Season of the Witch - Regie: Dominic Sena - Darsteller: Nicolas Cage, Ron Perlman, Claire Foy, Stephen Campbell Moore, Stephen Graham, Ulrich Thomsen, Robert Sheehan, Christopher Lee