Im Kino

Allzu baumhafter Vater

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
25.08.2010. Eine sehr schönes Patchwork-Familien-Konflikt-Parallelogramm gelingt Franz Müller mit seiner Doppeldramödie "Die Liebe der Kinder". Und in Yoav Shamirs Dokumentation "Defamation" lernt man sehr viel mehr über Antisemitismus, als man zunächst denkt.

Ein Auto von links auf der Autobahn, eines von rechts, auf einem Parkplatz treffen sie sich. Ein Mann im einen, im anderen eine Frau. Sie sitzen am Tisch des Autobahnrestaurants und man begreift, sie haben sich online kennengelernt und sehen einander nun zum ersten Mal wirklich. Sie taxieren sich und wir taxieren sie. Finden sie etwas aneinander? Wird was draus? Kann das gutgehen? Sie gehen miteinander ins Motelbett, auf der Raststätte noch, aber sie stehen, ohne ihre Kleider abzulegen, sofort wieder auf. Sie: arbeitet in der Bibliothek und sucht einen Vertrag für ein Buch über den Evolutionstheoretiker Alfred Russell Wallace, der ihrer Ansicht nach zu sehr im Schatten Charles Darwins steht. Er: fällt Bäume. Sie hat eine Tochter, er einen Sohn, beide fast erwachsen. Sie hat eine Wohnung mit Büchern in Köln, er ein Haus in Leverkusen mit Garten. Sie suchte in der Anzeige, erfährt man später, einen einfachen Mann. Er bekommt im Tausch eine komplizierte Frau.

Dennn er bekommt sie. Sie bekommt ihn. Sie bekommen sich. Er bedrängt sie, sie lässt sich gerne bedrängen. Er fällt, freundlich aufdringlich, gerne mit der Tür ins Haus, weil er kein Mann des gesprochenen Worts ist. (Karaoke Singen aber tut er.) Sie zeigt sich von diesem Mann, der etwas Verwurzeltes hat wie ein Baum (kein großer, mächtiger Baum), offensichtlich charmiert. Er tut, während sie redet. Wenn sie später was vorliest (Vonnegut), schläft er ein, wacht auf und entschuldigt sich. Da ist man dann schon, bald, allzu bald vielleicht, zusammengezogen, nach Leverkusen, ins Haus. Ein Mismatch, aus dem etwas werden kann. Ohne etwas zu übereilen, erzählt Franz Müller zügig. Die einzelnen Szenen, Fragmente der Art, die Stücke eines größeren Zusammenhangs jeweils andeuten, sind so prägnant wie präzise. Schlaglichtartig werden jeweils entweder neue Seiten der Personen erhellt oder bekannte deutlicher sichtbar. In Ellipsen erfährt man oft mehr als in dem, was man sieht. Und Rätsel bleiben. Auf Auserklärung verzichtet der Film. Man kann frei in ihm atmen.


Maren (Marie-Lou Sellem) und Roland (Alex Brendemühl) sind fraglos als Typen entworfen und sehen, jeder für sich und erst recht im Kontrast, auf den ersten Blick nach Klischees aus. Franz Müller legt es ganz darauf an, über diesen ersten Blick weit hinauszugehen. Wunderbar ist es anzusehen, wie er seine tollen Darsteller führt. Brendemühl ist erst einmal eine Front und man weiß nicht so genau, was dahinter vorgeht. Er hat etwas Stockendes und etwas Stockiges, sehr schön herausgearbeitet ist die Art, wie er herumsteht und bedächtig scheint und mit der Sprache erst herausrückt, wenn er über das, was zu sagen ist, auch nachgedacht hat. Manchmal rückt er allerdings nicht heraus mit der Sprache. Dabei ist er nicht grob, sondern recht einfühlsam. Übrigens ist ihm Hausmusik nicht fremd. Man staunt, wenn man ihn da mit dem Sohn musizieren sieht. Mit voller Absicht treibt Franz Müller dem Film Szenen wie diese, die nicht passen wollen, wie Splitter unter die Haut. Es sind diese Splitter, die es unmöglich machen, eine der Figuren für sich beim Zuschauen ein- für allemal abzuhaken.

An Maren ist rätselhaft, warum es sie überhaupt hinzieht zu Roland, man hört nicht zu fragen auf, was sie sich bei all dem gedacht hat. Ein wenig scheint ihr der eigene Impetus unbegreiflich. Man sieht aber auch, wie sie charmiert ist von Roland, der nicht einfach aufgibt. Der Sex ist übrigens gut, auch und gerade von hinten. Roland ist als Partner durchaus um Verständnis bemüht. Die "Einfachheit" ist ohnehin eher Marens Projektion. Es ist aber eine ihm sehr fremde Welt der Gedanken, Gefühle und gesellschaftlichen Konventionen, in der sich Maren bewegt. Er weiß das und beobachtet das. Sie ist die ignorantere, besitzt die Arroganz der Angehörigen der höheren Schicht, die gern davon ausgehen, dass andere Sitten und weniger elaborierte Codes einfach defizitär sind. Für seinen Karaoke-Auftritt schämt sie sich. Dart spielen im Irish Pub will sie nicht. "Die Liebe der Kinder" ist nicht zuletzt eine Schichtendramödie, und zwar eine, die mit spürbar mehr Sympathie auf den Baumfäller-Mann als auf die Intellektuellen-Frau blickt. (Vom Verleger, der um Marens Gunst mit Roland zu konkurrieren beginnt, ganz zu schweigen.)


Der eigentliche Clou des Films ist ein Spiegeleffekt. Einmal macht Maren, die Kamera blickt dazu von ziemlich weit hinten im Flur, eine Tür auf im nunmehr gemeinsamen Haus und es liegen dahinter ihre Tochter Mira und Rolands Sohn Daniel nicht direkt in Brüderchen-Schwesterchen-Manier miteinander im Bett. Einerseits verdoppelt sich von diesem Punkt an der Schichtenkonflikt. Mira ist oder gibt sich politisch, ökologisch sehr engagiert mit dem Eifer der Jugend. Bei Daniel, der sichtlich in sie verliebt ist, weiß man nicht so genau. Die Jungen werden zu Konkurrenten in der Liebe, aber auch zum Konfliktkatalysator für die Erwachsenen. Die wiederum zeigen sehr schnell, dass sie wissen, wie man Vorwürfe über Bande spielt und auch, wie man Wasser predigt und Wein trinkt. Bequem ist das für den Zuschauer alles nicht, die Konstellation nicht, das sich hierhin und dorthin verschiebene Patchworkfamilienkonfliktparallelogramm ist es nicht, nichts daran lädt die Identifikationslust ein, sich dauerhaft bei Vater, Sohn, Mutter oder Tochter niederzulassen. Mira ist nicht weniger enervierend als ihre Mutter, aber fraglos haben sie beide was. Daniel schweigt wie sein manchmal allzu baumhafter Vater, aber im Grunde sind sie schon sehr in Ordnung.

Die Haltung des Films zu seinen Figuren ist interessant. Höchstens der Verleger wird als Eindringling, zu dem Maren sich hingezogen fühlt, etwas zu oberflächlich abgefertigt. (Aber schon sehr schön: Pilzesuchen mit einem Banausen.) Zur Genauigkeit der Beobachtung gehören sehr spannende Formen von Distanz: das Fragmentarische, die Art, in der Franz Müller seine Figuren immer wieder wie in Gedanken- und Handlungswelten abseits seines Films zu entlassen scheint. Sie kommen dann oft als etwas andere wieder. Das ist mutig: Buch und Regie trauen den Figuren so sehr, dass sie ihnen zutrauen, sich auch abseits des Blicks, der auf sie fällt, zu bewegen und zu entwickeln. Und Pausen sind wichtig. Die Musik, die man vielleicht am ehesten als tragikomisch beschreibt, kommentiert durchaus, und zwar sehr gerne auch während der regelmäßig wiederkehrenden Zwischenräume, in denen die Figuren ganz aus dem Bild gerückt sind. Mal subtil ozuhaft, mal absichtlich faustdick (zwei erwachsene weiße Schwäne mit zwei noch ein bisschen grauen Jungschwänen) schiebt Müller menschenlose Stillleben wie einen kurzen entre?acte in den Fortgang hinein. Man spürt die Hand des Erzählers hier als leise Berührung. Das ist sehr angenehm.

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Sofort geht einem das auf die Nerven: Deplatziert beschwingte Musik und ein an Michael Moore, denkt man, geschulter Erzähler, der sich dämlicher gibt, als die für den politischen Dokumentarfilm zuständige Polizei es erlaubt. Um nicht weniger als den Antisemitismus und wie und wo er sich in der Gegenwart findet, soll es gehen in Yoav Shamirs Film "Defamation". Und ausgerechnet auf ein derart vermintes Feld begibt sich der Regisseur mit dieser Ausgangsdevise des Films, nicht explizit, aber doch deutlich: Da stelle mer uns janz dumm, weil dumm dokumentiert gut. Shamir tut jedenfalls erst einmal, als habe er nichts recherchiert, als kennte er nichts und niemanden und schon gar nicht die einschlägige Literatur. Mit entwaffnender Ahnungslosigkeit und einer unsichtbaren Narrenkippa auf dem Kopf rückt er noch und gerade einer so dermaßen umstrittenen Figur wie Norman Finkelstein auf die Pelle: Und während der zunächst noch halbwegs bei Sinnen scheint in einem Büro und dem Fragenden seine Theorie von der Holocaust-Industrie nochmal erklärt, tickt er später in seiner Privatwohnung und auf dem Weg auf die Straße völlig aus, mit Hitler-Gruß und wüsten Hasstiraden gegen Abe Foxman, den Vorsitzenden der jüdischen US-Lobby-Organisation "Anti Defamation League". Wenn noch einer bezweifelt hat, dass Finkelstein ein pathologischer Fall ist, dann ist er nach Ansicht dieses peinlichen Bildmaterials für immer eines besseren belehrt. Vielleicht dokumentiert dumm wirklich gut?

Die beschwingte Musik schweigt an dieser Stelle des Films freilich schon. Der Ton ist deutlich ernster geworden und man begreift das anfängliche Herangehen Shamirs als strategischen Zug. Er hat sich wirklich Türen geöffnet mit seiner offensichtlich auch den Gesprächspartnern gegenüber demonstrierten Naivität. (Vielleicht ist er tatsächlich naiv. Das wäre natürlich das Raffinierteste überhaupt!) Weit offen steht die Tür in der New Yorker Zentrale der "Anti Defamation League". Der von Finkelstein später wüst beschimpfte Foxman führt Shamir hier ziemlich zu Anfang des Films in Erwartung wohl eher einer Werbedokumentation für seine Organisation herum. Shamir darf ihn und die immer mit herumschwirrenden Delegationen auch auf Auslandsreisen begleiten. Wo immer ein antisemitisches Flämmchen züngelt oder zu züngeln scheint, rücken Foxman und die ADL-Leute mit einer ganzen Feuerwehrbrigade an. Das wird von manchem der jüdischen Sache durchaus gewogenen Gesprächspartner hinter vorgehaltener Hand (buchstäblich!) kritisch gesehen. Wenn man Foxman sieht und ihn ernsthaft behaupten hört, die jüdische Lobby habe erstens gar keine Macht, und dann erklärt er im Auto, sie verdiene die Macht, die sie zweitens dann vielleicht doch hat, einer Art Bluff, nämlich dem bloßen Glauben aller an ebendiese gewaltige Macht, und dieser Glaube sei sozusagen selbst antisemitisch, aber man müsse ihn trotzdem nützen - dann hat man eigentlich schon wieder eine ganze Menge verstanden.

Neben dem Foxman-Strang (in den die Gespräche mit Finkelstein, aber auch den als vergleichsweise sehr luzide rüberkommenden "Israel-Lobby"-Autoren Walt und Mearsheimer gehören) gibt es einen anderen Strang: Da folgt Shamir einer israelischen Schulklasse auf ihrer Bildungsreise nach Auschwitz. Sehr genau beobachtet er die Vorbereitungen auf diesen Ausflug. Sie bestehen aus historischen Informationen, aber auch aus etwas, das man kaum anders denn als Indoktrination bezeichnen kann: Der Antisemitismus, wird den Schülerinnen und Schülern zu verstehen gegeben, ist auch heute noch - und nicht nur in Polen - allgegenwärtig. Es muss nicht verwundern, dass man vor Ort dann Dinge hört und sieht, die sich von außen betrachtet doch etwas anders ausnehmen. Gleichfalls gar nicht schön anzusehen ist, wie die SchülerInnen sich in Auschwitz dann auf sehr zeitgenössische Weise unter Druck gesetzt fühlen, das Entsetzliche tief zu empfinden. Als genügte der Versuch zu begreifen nicht, als authentifizierte erst der emotionale Zusammenbruch die Wahrheit dessen, was hier geschah. Lange sind die Jugendlichen unzufrieden mit ihrer identitätsstiftenden Trauerarbeit, dann ganz gegen Ende endlich doch: Tränen. Und zum Schluss als Kontrast noch eine Szene unter dem ikonischen "Arbeit macht frei"-Tor: Man steht zusammen zum Gruppenbild, alle lachen und sagen nicht "Cheese", sondern, wirklich wahr, "Auschwitz".


Ganz nach links und ganz nach rechts wagt sich Shamir, vor dem man im Verlauf des Films dann doch immer größeren Respekt bekommt, in die Höhlen der Löwen. Uri Avnery, einer der radikalsten Antizionisten in Israel (und als israelischer Vorkämpfer für die Sache der Palästinenser auch in Deutschland gerne genommen), betont mit doch etwas verdächtiger Insistenz, dass es in den USA gar keinen, wirklich überhaupt keinen Antisemitismus mehr gebe und deshalb die "Anti Defamation League" die Konflikte, die sie beklage, eher aufwiegle, als zur Verständigung der Ethnien etwas beizutragen. Einerseits ist es wahr, dass die von der ADL notierten Vorfälle, denen Shamir nachgeht, einen zum größeren Teil nur bedingt dramatischen Eindruck machen. Andererseits befragt er dann ein paar Schwarze in Crown Heights Brooklyn, die mit den jüdischen Bewohnern des Viertels Haus an Haus leben. Und da muss Shamir weiß Gott nicht lange an der Oberfläche kratzen, um die übelsten antisemitischen Klischees zu hören und den Verweis auf die in den "Protokollen der Weisen von Zion" ja wohl unwiderleglich dokumentierten Weltherrschaftspläne der Juden präsentiert zu bekommen.


Auch den Jahreskongress der ADL hat Shamir besucht. Als ein britischer Soziologe die Besetzung der Palästinensergebiete in einer Rede hier nur erwähnt und andeutungsweise klarzumachen versucht, dass es für eine antizionistische Haltung rationale Gründe geben kann, rührt sich im Anschluss im Publikum keine einzige Hand zum Applaus. Auf den Gedanken, dass es eine von Antisemitismus wirklich und wahrhaftig freie Zionismus- und Israel-Kritik nicht geben kann, wollen die hier Versammelten sich nicht einlassen. "Zuhause", sagt der Soziologe später im Hotelzimmer zu Shamir, "halten sie mich für einen Rechten und palästinenserfeindlichen Rassisten." Hier ist er der Mann, der das Unaussprechliche aussprach. Jedenfalls stellt Shamir es so dar. Am Ende des Films wagt auch er sich zu vorsichtigen Urteilen vor: Abe Foxman, der für seine Ablehnung des Moscheebaus in der Nähe des Ground Zero gerade heftig in der Kritik ist, und am Ende des Films sicher eher in ungünstigem Licht dasteht, will er als Mann mit unendlich feinem, vielleicht etwas zu feinem, Radar begreifen.

Es ist ganz gewiss eine Stärke, dass es der Film sich und dem Betrachter zu guter Letzt nicht einfach macht. Recht gelassen wird darin der Gedanke ausgesprochen, dass Israel von der Shoah immer auch wie von einem Kredit zehrt, der das eigene Verhalten gegen Kritik teilweise jedenfalls immunisiert. Irgendwo zwischen dieser - von Antisemiten natürlich gerne missbrauchten - Feststellung und dem Vergleich Israels selbst mit den Nazis liegt die Linie, die die Kritik am hoch kritikwürdigen Handeln eines Staats von einer genuin antisemitischen Diffamierung trennt. Wo genau sie jeweils verläuft, dazu behauptet "Defamation" keineswegs eine Antwort zu haben. Weil er aber sehr unterschiedliche Perspektiven auf ein heikles Feld präsentiert, schafft er jedenfalls auch keine falschen Klarheiten.

Die Liebe der Kinder. Deutschland 2009 - Regie: Franz Müller - Darsteller: Marie-Lou Sellem, Alex Brendemühl, Katharina Derr, Tim Hoffmann, Michael Sideris, Katharina Linder, Jürgen Rißmann, Nicole Heesters, Klaus Manchen

Defamation. Israel / Dänemark / USA / Österreich 2009 - Originaltitel: Hashmatsa - Regie: Yoav Shamir - Darsteller: (Mitwirkende) Abraham Foxman, Norman Finkelstein, Stephen M. Walt, John J. Mearsheimer