Im Kino

Schluss mit Oktopus

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
02.12.2009. In seinem Spielfilmdebüt "Tulpan" versetzt Sergey Dvortsevoy nicht nur seine Figuren, sondern auch uns auf recht atemberaubende Weise in die Hungersteppe von Kasachstan. In "Whatever Works" laufen Woody Allens Boulevardtheaterfiguren mal wieder am Schnürchen durch einen Pointenparcours in einer Märchenwelt namens Manhattan.


"Tulpan" ist ein Film über das In-der-Steppe-Sein und er sorgt dafür, dass man als ZuschauerIn so sehr in der Steppe ist, wie das vom Kinosessel aus geht. Hungersteppe, Kasachstan. Eine Kamelherde, Staub, die Kamera taumelt, kein Horizont in Sicht: das ist das erste Bild. Dann geht es in ein Inneres. Eine Jurte. Wir sehen einen Mann in Matrosen-Uniform, der Geschichten von einem Oktopus erzählt. Die Kamera fokussiert ihn, sie ist unruhig, sie schwenkt dann nach rechts, wo Rauch im Bild ist, ein alter Mann, neben ihm eine Frau. Die Kamera, sie scheint neugierig, schwenkt noch weiter, man sieht, in einem Schlitz in der Jurtenwand Augen, sie scheinen neugierig, die Kamera, sie ist unruhig, schwenkt zurück nach links, ein weiterer Mann sagt zum Matrosenmann: "Genug." Schluss mit dem Oktopus.

Dann, in der Steppe, eine wilde Fahrt. Der Mann in der Matrosenuniform, Asa (Askhat Kuchencherekov), hängt an der Seite eines Traktors und vollführt eine Art Tanz, schwenkt nach vorne und wieder zurück, dazu läuft im Kassettengerät des Traktors, der durch die Steppe fährt, nicht zum letzten Mal "The Rivers of Babylon" von Boney M. Den Traktor fährt Boni (Tolepbergen Baisakalov), ein Freund Asas, er liebt diese Musik. Man hört sonst oft den Wind in der Steppe, das Brüllen der Kamele, das Mähen der Schafe, das Schreien der Esel, den Gesang eines Mädchens. "Tulpan" entwirft die Steppe als Geräuschlandschaft, in deren menschenfeindlicher Dürre die Flüsse Babylons eine absurde Pointe ergeben. Asa auf dem Traktor und Boni mit den goldüberkronten Zähnen fasst die Kamera eine ganze Weile, fahrend, tanzend, so ins Bild, dass man nicht ahnt, dass unmittelbar neben ihnen Ondas sitzt, der Mann, der schon in der Jurte neben Asa saß und "genug" sagte, Ondas, der der Mann von Asas Schwester ist, und der keine Zukunft sieht für Asa, falls der in der Steppe, 600 Kilometer von der nächsten Stadt, keine Frau findet, die ihm Kinder zeugt und die Hausarbeit macht.

Tulpan wäre die einzige Frau weit und breit. Ondas sagt nun, auf dem Traktor, die Kamera nimmt ihn fast unvermittelt ins Bild, "sie will dich nicht". Und fügt hinzu: "Es sind deine Ohren." Asa hat in der Tat abstehende Ohren, aber so schlimm ist es eigentlich auch wieder nicht. In der Jurte wurde in Tulpans Abwesenheit (aber ihre Augen haben wir, von der neugierigen Kamera geführt, im Wandschlitz gesehen) über eine mögliche Ehe zwischen ihr und Asa verhandelt. Der möchte ein Hirte werden in der Steppe, dazu braucht er, darauf besteht Ondas, eine Frau. Tulpan, die Asa nicht will, schlägt ihm die Tür zu dieser Zukunft vor der Nase einfach zu. Ein paar mal noch wird er dagegen rennen, buchstäblich und metaphorisch, und wenn er die Tür dann buchstäblich eintritt, findet er dahinter nur eine Ziege. Kein einziges Mal sieht Asa und sehen wir Tulpan, die Titelfigur, von Angesicht. Nur die Augen, den Hinterkopf und einmal ein Rennen, ein Huschen - sie ist dann davon.



Eigentümlich ist die Art und Weise, in der Regisseur Sergej Dvortsevoy nicht nur seine Figuren, sondern auch uns, die wir ihnen zusehen, in die Steppe versetzt. "Tulpan" ist Dvortsevoys Spielfilmdebüt, zuvor aber hat er, ein geduldiger Mann, Dokumentarfilme in der Steppe gedreht. Die Beharrlichkeit des Dokumentarfilmers, der die Wirklicheit weniger inszeniert als dass er ihr auflauert, legte er auch für "Tulpan" an den Tag. Er hat gewartet und gewartet, bis er den Tornado und das Unwetter und den Sturm mit der Kamera festhalten konnte. Daraus, wie in "Tulpan" das Nichtinszenierbare, als Wetter, als Natur, als Schaf auftritt - aber gerade, ohne dass er Auftritte daraus machte, es sind das Wetter, die Natur, die Kamele und Schafe vielmehr einfach nur da und vorhanden -, bezieht der Film Kraft und Ruhe. Das Ausgesetztsein, das Widrige, das Klein-Sein-des-Menschen in einer Welt, in der der Horizont immer wieder im Staub untergeht, ist nicht nur Behauptung. Der Film bezeugt, indem er sein Sich-Aussetzen sichtbar macht, alles selbst.

Er zeigt den hellen Staub, der die Ohren weiß anmalt. Er zeigt minutenlang die Geburt eines Schafs, er zeigt Asa, als Hebamme in leichte Panik versetzt. Und nichts von alledem hat auch nur den leisesten Anflug von Exotismus. Diese Welt ist abgeschieden, aber darin, wie Dvortsevoy Fragmente der Zivilisation hineinragen lässt, liegt eine große Stärke. Einer von Ondas' Söhnen ist ein echter Nachrichten-Junkie, der alles, was er im batteriebetriebenen Radio hört, hinterher auswendig hersagt: Erdbeben in Japan, Stärke sieben auf der Richter-Skala. Und Boni, der von irgendwoher Zeitschriften hat, aus denen er nackte Frauen ausschneidet, die er dann ins Fahrergehäuse klebt. Auch hat er ein Foto von Charles (mit Diana, nicht alles ist auf dem neuesten Stand), das er zum Ohrvergleich ins Feld führt (dagegen sind Asas Ohren doch gar nichts): vergebens.

Das eigentlich Aufregende an "Tulpan" aber ist, weil man das als Filmästhetik der Steppe niemals erwarten würde, die Kameraarbeit. Manchmal heftet sich die Kamera als Handkamera an die Schultern einer Figur wie in einem Film der Dardennes. Und immer ist sie auf dem Sprung, unruhig, suchend, gewährt dem Blick kaum je eine Totale - und umso gewährender schenkt sie dann die Bilder vom Tornado, vom Wetter, von Kamelherden. Großartigerweise erweckt diese Kamera, die sehr genau zu wissen scheint, was sie tut, niemals den Eindruck einer bloßen herumwackelnden Dokumentarfilmsimulation. Mit großer Präzision schneidet sie unruhige Stücke aus dieser Welt in der Steppe. Sie enthält vor, schenkt her, weist zurück, gibt und nimmt auf und setzt so die Menschen, die Tiere, die Natur und den Zuschauer in eine aufregend zwischen Fremdheit und Anteilnahme oszillierende Beziehung. Man staunt da schon sehr.

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In seinem letzten Film, "Vicky Cristina Barcelona", hatte Woody Allen sein mal sanft, mal rüde übers Spielfeld geschubstes Personal durch einen Off-Erzähler gezielt auf Abstand gebracht. Dieser Zug der Distanzierung brachte gerade das Abstrakte und Mechanische an Allens Komödientechnik heraus und ließ den Verdacht, es könne hier von real existierenden Menschen, Orten und Dialogen die Rede sein sollen, gar nicht erst aufkommen. In "Whatever Works" verfährt Allen anders. Der Off-Erzähler des Vorgänger-Films verdoppelte teils, was man sah (und verfremdete es durch diese Irritation auch), erzählte teils nicht im Bild zu sehende Sachen einfach weiter (und übernahm so die "klassische" Erzählerfunktion) - und unterbrach in jedem Fall das unmittelbar zu beobachtende Geschehen. Die Unterbrechungsfunktion gibt es in "Whatever Works" auch, hier übernehmen sie, wie bei Woody Allen gewohnt, kurze Musik-Intermezzi, die man, nun eher vom Dramatischen her, als Vorhang zwischen einzelnen Akten begreifen kann.

Einen speziellen Erzähl-Clou gibt es allerdings auch. In der ersten Einstellung des Films sehen wir Boris Yellnikof (Larry David), einen Mann schon nicht mehr ganz mittleren Alters, im Kreis männlicher Freunde auf dem Bürgersteig eines Cafes in Manhattan, mutmaßlich Greenwich Village. Er schwadroniert als exemplarisch Woody Allenscher Misanthrop über die Sinnlosigkeit der Existenz, Tod, explodierendes Universum, irdisches Jammertal etc. pp, das übliche Allerlei also, das leitmotivisch und längst vollkommen stereotyp bei Allen wiederkehrt, ohne über den Status eines von der Adoleszenz ins Greisenalter glatt durchgeschleppten pseudophilosophischen Lamentos je hinausgelangt zu sein. Das wird im Lauf des Films leider alles andere als besser - wobei man zur Entschuldigung vielleicht anmerken kann, dass die erste Fassung des Drehbuchs bereits in den siebziger Jahren entstand. Allens Schubladen sind tief und voll und er lässt nichts, sei es noch so medioker, verkommen.

Das Gespräch der Männer nimmt eine unerwartete Wendung. Yellnikof nämlich blickt plötzlich in die Kamera und weist seine Freunde darauf hin, dass sie alle gerade beobachtet werden, von einer popcornmampfenden Horde vor der Leinwand im Dunkeln. (Mit Zuschauern, die zum Beispiel gerade einen illegalen Stream im Netz gucken, rechnet der Mann sichtlich nicht.) Dann erhebt sich Yellnikof, der kurze Hosen trägt, geht in Richtung Kamera, löst also eigenhändig die Totale auf, stellt sich halbnah ins Zentrum des Bilds und spricht dich, mich, die Zuschauer durch die "vierte Wand" hindurch "direkt" an. Dieses Spiel mit der Illusion ist ein alter Hut auch und gerade im Werk Woody Allens (siehe nicht nur, aber vor allem "The Purple Rose of Cairo"), aber es geht dabei weniger um Punkte auf der Modernitätsskala als wiederum um die Einrichtung eines sehr speziellen Rezeptionsverhältnisses zwischen Film und Publikum. Etabliert wird zum Schein ein unmittelbarer Kontakt, ein privilegierter Zugang zur Welt auf der Leinwand - und genau das wird, von im Rohr krepierenden oder jedenfalls beim tausendundersten Mal doch etwas ermüdenden Scherzen freundlicherweise sogar noch abgesehen, "Whatever Works" zum Verhängnis.



Denn es steht das eine doch allemal fest: Mit irgendeiner Wirklichkeit haben die Welten, durch die sich die Figuren in Allenfilmen bewegen, rein gar nichts zu tun. Alles daran ist geronnen: zu Klischee, Märchen, Abziehbild. London, Spanien, New York: Everybody Knows It's a Fantasy World. Das Manhattan von "Whatever Works" sieht nur aufs Äußerlichste nach dem realen Manhattan aus. Die aus dem Süden nach New York geratene weibliche Hauptfigur Melodie St. Ann Celestine ist ein grober Südstaatenklotz, der zum groben Intellektuellendarstellerkeil Yellnikof einzig als Stereotyp zum anderen passt. Hier treten keine Individuen auf, sondern Marionetten, von einem Demiurgen geführt. Keine Allenfigur würde, kurz gesagt, jemals wider die dramatischen Absichten ihres Autors agieren, weil jede Figur einzig auf ihr Laufen am Schnürchen der Handlung und diese wiederum auf Pointen hin konzipiert ist.

Das ist gar nicht so schlimm, denn es kommt doch, wenn es gut geht, jene exzellente Form des Boulevardtheaters heraus, die Allens Spätwerk zum großen Teil ausmacht. Dazu aber gehört, dass die Allen-Welt ihren Kunstcharakter nicht leugnet und das heißt, dass sie sich möglichst auf allen Ebenen neutralisieren muss. Die Darsteller dürfen zum reinen Klischee nichts an Individualität dazutun - das gelingt Evan Rachel Wood ebenso gut wie Patricia Clarkson. Nur Larry David ("Curb Your Enthusiasm") ist von einer Larry-David-Haftigkeit dazu, die in einen Allen-Film nicht recht passt. Auch die Kameraarbeit ist für die Neutralisierung wichtig: Es kommt darauf an, dass sie sich auf totale Funktionalität reduziert. Schuss-Gegenschuss, unauffällige Komposition, Großaufnahme, Schwenk, Großaufnahme - Basisformen der Grammatik und keine Sperenzchen. Allen hat in den letzten Jahren stets mit hervorragenden Kameraleuten gearbeitet, die oft genug ganz exzellente Neutralisierungsarbeit geleistet haben. Harris Savides, bei Gus van Sant ("Elephant") und David Fincher ("Zodiac") ein grandioser Manierist, gelingt das hier nur sehr bedingt; insbesondere aus dem Loft, in dem Yellnikof wohnt, macht er ein Labyrinth, durch das die Kamera dem Helden auch mal wie einer Gus-van-Sant (bzw. Bela-Tarr)-Figur folgt. Das kommt dem distanzierten Vergnügen ebenso wie die direkte Publikumsansprache des Protagonisten im Endeffekt in die Quere.

Und so wird man insgesamt auf den Quatschcharakter des Ganzen allzu aufmerksam: Südstaatler werden zu sexueller Freiheit bekehrt, nicht weil irgendeine Plausibilität, sondern nur, weil der Autor auf seiner Jagd nach Pointen es will. Die Liebesgeschichte zwischen dem älteren Zyniker und der naiven Schönen ist erst grotesk, und wird dann in ihrer Auflösung nicht realistischer, sondern nur ganz und gar fad. Dass man per Direktansprache genötigt wird, dem dank Larry David wirklich wenig ausstehlichen Boris Yellnikof sich nahe zu fühlen, bringt die Sympathieökonomie der Geschichte vollends durcheinander. Und so bleibt, was von einem Allenfilm eben im schlechteren Fall bleibt: eine Kulisse, die sich als Wirklichkeitsdarstellung verkennt; der xte Aufguss einer Pseudointellektuellentragikomödie; mithin: ein mauer Verhau, in den diesmal der begnadete Nicht-Schauspieler Larry David ganz besonders nicht passt.

Whatever Works - Liebe sich, wer kann. USA / Frankreich 2009 - Originaltitel: Whatever Works - Regie und Buch: Woody Allen - Darsteller: Larry David, Evan Rachel Wood, Patricia Clarkson, Ed Begley Jr., Conleth Hill, Michael McKean, Henry Cavill, Kristen Johnston

Tulpan. Deutschland / Schweiz / Kasachstan / Polen / Russland 2008 - Regie: Sergey Dvortsevoy - Buch: Sergey Dvortsevoy, Gennadi Ostrovsky - Darsteller: Askhat Kuchinchirekov, Tulepbergen Baisakalov, Samal Yeslyamova, Ondasyn Besikbasov, Bereke Turganbayev