Im Kino

Perfekt komponiert

Die Filmkolumne. Von Ekkehard Knörer
04.10.2007. Eine aus der Art geschlagene Ratte mit bestem Geschmack präsentiert der hinreißende neue Pixar-Film "Ratatouille". In seinem in Venedig mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Film "Still Life" beobachtet Jia Zhang-ke das vergehende Leben der auf die Flutung wartenden Stadt Fengje.
Remy ist sehr aus der Art geschlagen: eine Ratte mit bestem Geschmack. Kein Gourmand, sondern ein Gourmet. Remy und seine Sippe leben in der französischen Provinz, in einem Haus bei einer alten Frau und wann immer Remy die Gelegenheit bekommt, sieht er im Fernsehen die Kochsendung des berühmten Auguste Gusteau. Die liebe Verwandtschaft hat, wie es bei vom Pfad des Gewöhnlichen abweichenden Künstlern und Wunderkindern oft der Fall ist, wenig Verständnis für Remys Feinsinn. Unentbehrlich wird er dennoch, im gründlich pragmatisierten Einsatz seiner Talente, als Vorkoster, der jede Spur eines Gifts erschnüffelt.

Dann aber gelangt Remy auf dem Weg der Kanalisation nach Paris. Und in Paris ins Restaurant des berühmten Gusteau, der jüngst verstorben ist, dafür aber der Ratte immer wieder als einflüsternder Geist erscheint. Im Restaurant läuft es freilich nicht gut, Gusteaus Nachfolger ist mehr an Rendite und Fertigprodukten als an Originalität und Haute Cuisine interessiert. Auftritt Remy. Er rettet, nebenbei eher, eine Suppe, die der Küchenjunge Linguini gründlich verdorben hat. Bald stecken die beiden unter einer Decke. Genauer gesagt: Remy, die Ratte, steckt unter der Kochmütze des Küchenjungen und benutzt ihn per Haarbüschelsteuerung als Kochmarionette.

Die Küche, die Ratte, die Provinz und Paris, die Suppe, die Äpfel, vom freeze frame des Beginns bis zum unerwarteten Happy End: all das ist ein Genuss, ja ein Triumph der Digitalvirtuosen von Pixar, deren Liebe zum kleinsten Detail den Pixeln überzeugend Leben einjagt. Die Pariser Boulevards aus dem Rechner, das Ratatouille des Titels, überhaupt die Gerichte und Lebensmittel: es sieht alles zum Anbeißen aus. Die Feinheit bleibt aber nicht auf die Dingwelt beschränkt - allein im selbstbewusst-bescheidenen Schulterzucken Remys als Antwort auf die ungläubige Frage, ob er denn kochen könne, liegt mehr an nuancierter Charakterisierungskunst als in der ganzen, vor allem an groben Anspielungen reichen "Shrek"-Saga. Wunderbar dynamisiert ist das Rennen der Ratte auf der Flucht vor Entdeckung durch die Küche des Edelrestaurants, rasant sind die subjektiven Kamerafahrten und schrägen Perspektiven.

Erstaunlich ist die Konzessionslosigkeit, mit der "Ratatouille" seine Qualitätsversessenheit aufs Europäische projiziert. Es gibt sie noch, die guten Dinge, aber eben nicht in Form summarisch-kapitalistischen Effizienzdenkens, sondern nur in der Verehrung fürs handgemacht Einzeln-Besondere in den Straßen und Küchen der Weltstadt Paris. "Jeder kann kochen", wird im Film ein ums andere Mal behauptet, man muss aber ergänzen: "Wenn er/sie es kann". Dann, und nur dann, taugt auch eine Ratte als Küchenchef, vor dem sogar der strengste aller strengen, der narzisstischste aller narzisstischen Kritiker namens Anton Ego in die Knie geht.

Ein unverhohlener Seitenhieb aufs Kritikergewerbe, aber beileibe keine Denunziation. Ego nämlich ist streng, skeptisch und erwartet, aus Schaden klug geworden, nur das Schlimmste. Wird ihm jedoch etwas Gelungenes, etwas Raffiniertes, etwas perfekt Komponiertes serviert, dann ist er zu allem bereit, dann hebt er auch eine Ratte auf den Schild. Und wo er recht hat, da hat er recht.

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Zwei Geschichten erzählt Jia Zhang-kes Film "Still Life". Die eine Geschichte: Der Bergmann San-ming Han (San-ming Han) kommt aus der fernen und armen Provinz Shanxi in die Stadt Fengje, an einen Ort, den er nicht kennt, einen Ort, der zum Teil schon nicht mehr existiert. Fengje nämlich, zweitausend Jahre alt, wird gerade für Chinas megalomanes Drei-Schluchten-Staudammprojekt geflutet. Allerorten sieht man Abrisstrupps mit großen Hammern auf Wände einschlagen, rot ist die Schrift an der Wand, die den Wasserstand der nächsten Flutungsphase markiert. San-ming sucht seine Frau, die er einst, sechzehn Jahre zuvor, kaufte und, weil sie sehr unglücklich war, wieder ziehen ließ. Und er sucht seine Tochter, die er kaum kannte.

Die andere Geschichte: Shen Hong-guo (Tao Zhao) kommt aus Shanxi nach Fengje. Sie sucht ihren Mann, der seit zwei Jahren nicht von sich hören ließ und als Bauunternehmer in Fengje tätig ist. Lange erfahren wir nicht, was sie von ihm will. Auf der Suche nach ihm bewegt sie sich durch Fengje, bewegt sich durch seine präapokalyptische Sozialstruktur der Geschäftemacher und Abrissarbeiter, seine keinem zukünftigen Zweck gewidmete Infrastruktur vn Restnutzen und Verfall. Sie ist unterwegs mit einem Freund ihres Mannes, er ist Archäologe und gräbt nach den letzten Spuren einer Vergangenheit, die bald im Wasser verschwindet. Solcherart leise ironische Pointen gibt es öfter in Zhang-kes Film, der auf demonstrative Anklagen oder Erklärungen verzichtet. Was man sieht, was er zeigt, spricht für sich. Zu ändern ist ohnehin nichts mehr, 2009 soll das große Staudammprojekt seinen Abschluss finden. (Es gibt übrigens auch einen hervorragenden Dokumentarfilm über Fengje, Li Yi-Fans und Yan Yus "Before the Flood" aus dem Jahr 2004, hier beim Perlentaucher besprochen.)

Die beiden Geschichten von "Still Life" sind sich strukturell ähnlich und nehmen einander dadurch ihr spezifisches Gewicht. Das ist sehr gut so, denn in ihrer Überlagerung erst tritt das, worum es dem Film eigentlich geht, hervor: Fengje, der Ort, an dem alles provisorisch ist, der Ort permanenter Abriss- und Einsturzarbeiten, der Ort, dessen große Vergangenheit für seine Zukunft keine Rolle mehr spielt. Zhangke zeigt eine vergehende Stadt, aber doppeldeutig wie der englische Titel ist alles an diesem Film. "Still Life" heißt Stillleben zum einen, aber es handelt sich eher um eine Form des dynamischen Stillstands. Wie die Kamera, die zu Beginn auf einer Fähre die Gesichter der Passagiere entlangschwenkt, stehen weder der Film noch das Leben in Fengje wirklich still. In der Stadt ohne Zukunft herrscht eine eigentümliche Zeitform. Nichts, was die Einheimischen tun, wird Bestand haben. Alles lebt in einer letzten Frist, vor der Aufgabe des eigenen Heims, ja, des bisherigen Lebens. Es gilt, letzte Geschäfte zu machen, letzte Momente in der Heimat zu verweilen, ein letztes Mal vertraute Wege zu gehen. "Still Life" heißt eben auch: "Noch Leben". Ein Rest ohne Aufbäumen, man fügt sich in sein Schicksal. Eine eigene Form der Zeit, eine eigene Form des Lebens im Zeichen des "noch".

"Bewegtes Stillstellen" scheint die Form, die Jia Zhang-ke für die Geschichten sucht, die er hier erzählt. Es handelt sich um zwei Erzählungen über einen radikalen Bruch im Leben, nicht weniger radikal als die Flutung der Heimatstadt (und auf diese Weise entsprechen die Ebenen des Films einander immer wieder). Aber auch hier gibt es keine Ausbrüche, keine raschen Bewegungen, sondern ein Suchen, Warten, Treiben. Das Gesuchte entzieht sich, aber die Suchenden drängen weniger als dass sie, sich bewegend, ihre Mitwelt beobachtend warten. Eine Welt geht unter, aber es scheint gar nichts dabei. Und doch findet Zhang-ke auch für die Absurdität des Ganzen verblüffenden Ausdruck. Surreale Momente pointieren die bewegten Stillleben der noch Lebenden. Diese Momente gehen keine Verbindung mit dem Alltag ein, sie fallen in ihn ein, sie fallen aus ihm heraus. Aber gerade diese Form des beziehungslosen Einfalls markiert, wie sehr, was man sieht, über den Begriff geht. Ein Seiltanz am Tag zwischen Hochhäusern. In der Nacht geht ein Haus wie eine Rakete in die Luft. Nichts folgt daraus. Das Leben geht weiter. Noch.

Ratatouille. Regie: Brad Bird. Mit den Stimmen von Axel Malzacher, Stefan Günther, Gudo Hoegel, Donald Arthur, Elisabeth von Kochund anderen. USA 2007, 111 Minuten.

Still Life. Regie: Jia Zhang-Ke. Mit San-ming Han, Tao Zhao, Hong-wei Wang, Zhu-bin Li und anderen. China, Hongkong 2006, 108 Minuten.
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