Im Rahmen der eher für Marketingunternehmen und Eventagenturen, weniger für die Fotografie als Gegenwartskunst relevanten "Photo Week Berlin" kam es Mitte Oktober in Berlin Mitte zu einer Neueröffnung. Die Galerie "Chaussee 36" hat sich bisher einen Namen mit exquisiten Arrangements im Ambiente eines geschmackvoll restaurierten Apartments gemacht, in denen es in Ausstellungen wie "Women on View" Highlights der Mode- und Aktfotografie von Horst P. Horst, Helmut Newton, Guy Bourdin, Jeanloup Sieff und Peter Lindbergh zu sehen gab - alles, was das Herz von tendenziell im Etablierten beheimateten Berliner Fotoliebhaber*innen begehrt.
Das Ganze wirkte ein bisschen wie eine mit Liebe zum Detail in Szene gesetzte Außenstelle von "Camera Work" und der "Helmut Newton Foundation", in der es im letzten Jahr etwa die großartige Ausstellung von Saul Leiters Nudes zu sehen gab, die in der öffentlichen Wahrnehmung im Vergleich zu Leiters Arbeiten für die Beauty-Industrie lange kaum existierten. (Kein Wunder also, dass Matthias Harder, der Kurator der Newton Foundation, das Vorwort zum Ausstellungskatalog von "Women on View" schrieb.)
Nach einer Pause von einem halben Jahr präsentiert sich "Chaussee 36" in neuem Gewand und mit ziemlich großen Ambitionen.
Aus einer Location wurden nach baulichen Maßnahmen drei.
Im Hinterhof gibt es einen großen, hohen, gläsernen Ausstellungsraum, ideal für Großformate. Im Untergeschoss nebenan wurden ehemalige Stallungen aufwändig renoviert, dabei die ursprüngliche Ziegel-Bausubstanz und der Stallcharakter erhalten. Im Nebengebäude gibt es mehrere Ausstellungsräume mit Berliner Altbauwohnungs-Charakter. Alles in allem beeindruckende räumliche Ressourcen, die dauerhaft zu bespielen man als nicht ganz leicht betrachten muss.
Abgerundet wird das ausschließlich von privater Seite auf die Beine gestellte und finanzierte Setting durch Luxusapartments im Vorderhaus, die zu gegebenen Anlässen gemietet werde können, sowie einem zur Straße gelegenen Café namens "Die Anstalt".
Wie wird es nun weitergehen mit "Chaussee 36"?
Erst mal ist wieder eine nicht zuletzt den sich in die Länge ziehenden Bauarbeiten (schließlich wir sind in Berlin, nicht in Peking) geschuldete Pause angesagt, die nächste Ausstellung wird nicht vor April über die Bühne gehen. Im Herbst nächsten Jahres wird es eine große Ausstellung zum Thema Erotik geben. Programmatisch hat es "Chaussee 36" auf den ersten Blick nicht leicht: Das Fundament der hauseigenen Sammlung und der Schwerpunkt bisheriger Ausstellungen deckt sich sehr mit einem Segment, das in Berlin bisher schon bestens abgedeckt war: exquisite, historisch gewachsene Porträt- und Aktfotografie aus dem Umfeld der Beauty- und Fashion-Industrie. Das bietet hinsichtlich Kommunikation und Geschäft zweifellos Vorteile, birgt aber die Gefahr der Austauschbarkeit.
Alice Le Campion, der agilen Kuratorin von Chaussee 36, ist das durchaus bewusst, weshalb es vielleicht in der kommenden Erotik-Ausstellung Positionen wie die von Antoine d'Agata geben wird - eine schmerzhafte, künstlerisch kompromisslose Vehemenz, wie sie im gängigen Berliner High End-Betrieb sonst kaum zu finden ist.
Weitere zukünftige Schwerpunkte lauten "Europa" oder "Gender Equality". Das Nebengebäude böte dazu die Gelegenheit, den Nachwuchs zu präsentieren oder auch Ausstellungen zu außergewöhnlichen Buchprojekten zu realisieren, wie etwa das aktuell auf der Paris Photo zu Recht abgefeierte "Coast" von Sohrab Hura oder das mit dem Prix Nadar ausgezeichnete "So it goes" von Miho Kajioka.
Ein wichtiges Anliegen ist Le Campion außerdem eine Plattform, auf der über Fotografie und Kunst der Gegenwart intensiv und gegenwartsbezogen diskutiert wird - ein Vorhaben, an dem (nicht nur) in Berlin schon viele gescheitert sind, nicht zuletzt "C/O Berlin".
Wie auch immer: Man darf gespannt sein, ob und wie es "Chaussee 36" gelingt, (nicht nur) in der Berliner Foto-Szene eine unverwechselbare Handschrift zu entwickeln.
Peter Truschner
truschner.fotolot@perlentaucher.de