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Wir starteten am Ostkreuz

Über Bücher, Bilder und Ausstellungen Von Thierry Chervel
16.10.2018. "Hundekopf" von Ama Split und Riky Kiwy ist das Porträt einer Stadt, in der keiner Angst hat: Die Leute sind griesgrämig und grau, leutselig und schluffig. Die Mädchen tragen Ringe in der Nase, kurze Röcke. Und die Hunde halten sich an die Regeln.
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Gibt es eigentlich schon ein Buch der Berlin-Fotobücher? Das Thema wäre lohnend. Und dieses Buch hat sich in meinem Herzen gleich einen Platz unter den besten hundert erschlichen, die in diesem Bilderbücherbuch vorkommen müssten. Denn es macht mich wieder auf zwei Paradoxa aufmerksam, die für das Verständnis der Stadt Berlin Ewigkeitswert haben.

Das erste: Egal, wie bunt man die Stadt Berlin fotografiert, ihre Farbe ist grau. Die Buntheit ist wichtig in dem Band, in dem die jungen - übrigens französischen - Fotografen jene Zone des S-Bahn-Rings porträtieren, wo die Stadt beginnt auszufransen. Es ist die Buntheit der S-Bahnwaggons, der Imbissbuden, Verkehrszeichen und Plakate, selbst Teil des Gestrüpps, in dem Berlin bei sich ist.

Wedding 7, © Ama Split and Riky Kiwy. Abbildung aus dem besprochenen Band.



Und das zweite folgt daraus: Am besten nähert man sich dem Kern der Berlinità, indem man die Stadt umkreist. Nicht die misslungene neue Mitte, sondern die Offenheit und heitere Banalität, die Berlin noch als Möglichkeitsraum erscheinen lassen, eröffnen den Weg in die Zukunft.

Es ist wirklich ein intelligentes Projekt, das die beiden Fotografen, da ersonnen haben, eine Art "Dogma" der Fotografie, ein Projekt also, das wie eins die Dogma-Filme Lars von Triers und weiterer Dänen, seinen Reiz aus ästhetischer Selbstbeschränkung bezieht.

"Wir haben uns für dieses Vorhaben einige Regeln gesetzt", schreiben die beiden Fotografen.

Die erste war natürlich: Man steigt an jeder Station des Berliner S-Bahn-Rings aus und fotografiert.

Und die weiteren:

"- Nicht zurückkehren: Wir waren an jeder Station nur einmal und wir sind nie zurückgekommen.
- Ost-West: Wir starteten am Ostkreuz, dem östlichsten Punkt der Route und fuhren im Uhrzeigersinn um die Stadt, bis zur Frankfurter Allee. An jeder der 27 Stationen stiegen wir einmal aus.
- Analog: Wir arbeiten mit analogen Kameras, jeder von uns hatte pro Station genau einen Film mit 36 Aufnahmen.
- Dauer: Wir blieben immer nur ein paar Stunden an jeder Station.
- Zeitraum: Wir machten die Bilder in anderthalb Monaten, in einer Jahreszeit mit unvorhersehbaren Wetterverhältnissen."

Tempelhof 3,© Ama Split and Riky Kiwy.



Selbst die Arbeit mit Analog-Kameras, die mir sonst wegen drohender Vintage-Ästhetik verdächtig ist, leuchtet mir hier ein: wegen der pragmatischen Beschränkung auf die 36 Bilder des Films. Die Arbeit selbst hat darum etwas Unabgeschlossenes. Die Fotos gehen jederzeit das Risiko ein, nicht perfekt zu sein.

Die Fotos sind nicht irgendeinem Genre zuzurechnen: Man tut halt, was man kann. Es gibt Architekturfotos, Impressionen, erschlichene und bewusste Porträts, Schnappschüsse, Street Photography.

Und es ist das Porträt einer Stadt, in der keiner Angst hat: Die Leute sind griesgrämig und grau, leutselig und schluffig. Die Mädchen tragen Ringe in der Nase, kurze Röcke. Die Hunde halten sich an die Regeln. Die Tauben verdrücken sich in die verlorenen Ecken und tragen zum Gesamteindruck der sympathischen Struppigkeit bei. Selbst der alternde Punk, der den Fotografen am Ende des Buchs den Stinkefinger zeigt, setzt doch ein Lächeln auf. Dies Buch wird mal Geschichte sein.

Das Buch ist Teil der Reihe "Berlin Stories", die das Fotobuch endlich zum Vademecum macht, klein im Format, preisgünstig, wenn auch fest, ja in Halbleinen gebunden. Kein Fetisch für den Teetisch, sondern das Protokoll einer Situation. Die Bücher zielen auf ein jüngeres Publikum, das Berlin hipp findet - ich finde aber, man könnte das Potenzial des Formats noch für anderes nutzen, für das, was einst die Fotoreportage war, das schnelle Festhalten eines bestimmten Moments an einem bestimmten Ort.

Thierry Chervel

Ama Split und Riky Kiwy: "Hundekopf - Die Berliner Ringbahn". Berlin Stories 1. Herausgegeben von Nadine Barth, Gestaltung von Julia Wagner, grafikanstalt. Deutsch, Englisch. 128 Seiten, 170 Abbildungen, gebunden, 15,00 x 20,00 cm, Berlin 2018, 20 Euro. ISBN 978-3-7757-4418-8 (Bestellen bei buecher.de)