Heute in den Feuilletons

Kometenhaft aggressive Formgebärde

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.12.2013. In irights.info und FAZ führen Sascha Lobo und Constanze Kurz durchs Jahr der Spähkatastrophe. Die taz feiert Heino, der 75 wird, und Christian Semler, der 75 würde, und die informationelle Selbstbestimmung, die es sicher nicht wird. Der Tagesspiegel geißelt die Pampig- und Piefigkeit der Stadt Berlin gegenüber Sasha Waltz. Die Welt sieht die große Karl-Otto-Götz-Retro in der Nationalgalerie auch als Rehabilitation der deutschen Nachkriegs-Abstraktion. Die New York Times verliebt sich in die "Unbelievers". Und die NZZ stellt fest: Drei Viertel aller Briten beherrschen keine Fremdsprache mehr. Aber nun lernen sie Mandarin.

Welt, 13.12.2013

Hans-Joachim Müller sieht die große Karl-Otto-Götz-Retro in der Berliner Nationalgalerie als Rehabilitation der deutschen Nachkriegs-Abstraktion und feiert auch das Spätwerk des Malers: "Wenn man vor einem Bild wie 'I-Elemente' aus dem Jahr 2010 steht, einer zweiteiligen Vier-Meter-Leinwand, auf der im nachtschwarzen Fond eine weiß sprühende, kometenhaft aggressive Formgebärde auf eine sich weiß öffnende, aufnehmend widerständige trifft, dann scheint alle Freiheit beglaubigt, die das Werk mit nimmermüdem Nachdruck behauptet hat." (Bild: K.O. Götz, Giverny VII, 1988)

Weitere Artikel: Manuel Brug nimmt den Putinisten und Dirigenten Valery Gergiev gegen Angriffe von schwulen Aktivisten in Schutz. Claus Lochbihler erinnert an die Jazzmuse Pannonica de Koenigswarter, geborene Rothschild, die von der Résistance in Frankreich zum Jazz in New York fand (die perfekte Synthese aus beidem findet sich auf dem Cover von Thelonious Monks Album "Underground", Pannonica ist die Dame im Hintergrund).

Besprochen werden die Ausstellung "Afritecture" in München mit neuen Entwürfen für afrikanische Städte, Simon Lelics Roman "Das Kind, das tötet" und eine szenische Wiederbelebung von Schuberts "Lazarus"-Fragment unter Claus Guth in Wien.

Tagesspiegel, 13.12.2013

Sandra Luzina stellt Sasha Waltz als große Verliererin im Kampf um den Kulturetat vor. Mit der typischen Berliner Mischung aus Inkompetenz und Pampigkeit hat die Kulturverwaltung eine der erfolgreichsten Kulturschaffenden in Berlin ausgebootet: "Sasha Waltz wird überall in der Welt als die neue Pina Bausch gefeiert. Doch Berlin ist sie offenkundig zu groß geworden. Es scheint der politische Wille zu fehlen, die Compagnie auf eine solide Basis zu stellen. Im März dieses Jahres ist Sasha Waltz 50 geworden. Sie steht im Zenit ihres Schaffens und wird sich nicht ewig vertrösten und in ihren kreativen Möglichkeiten beschneiden lassen."

Michael Zajonz empfiehlt einen Besuch der Berliner Galerie Parterre, wo derzeit die Papierarbeiten Einar Schleefs ausgestellt sind: "Geradezu zärtlich im Zugriff sind Skizzen von alten Säufern und mondänen Mädchen, die Schleef in der Kneipe 'Langer Arm' in Weißensee eingefangen hat. Oder die mal schlafenden, mal hellwachen Besucher eines Kirchenkonzerts. Was Schleef sonst noch aufs Papier brachte, ist - in Kenntnis der Biografie - oft alles andere als harmlos. Frühe Bleistiftblätter zeigen die Mutter Gertrud mit Kopftuch und Kittelschürze an der Nähmaschine. Dieselbe Gertrud, die ihrem Einar wenig Luft zum Atmen ließ, wie die Edition des Briefwechsels gezeigt hat." (Bild: Einar Schleef, Puten, Mitte/Ende 1960er Jahre)

Außerdem: Jörg Magenau liest Annette Pehnts "Lexikon der Angst" und Stella Marie Hombach stellt die israelisch-iranische Band Sistanagila vor. Hier eine Hörprobe:


TAZ, 13.12.2013

Am 15. Dezember 1983 stoppte das Bundesverfassungsgericht die Volkszählung in ihrer geplanten Form und formulierte das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung. Dreißig Jahre später ist davon nicht viel übrig, berichtet Peter Wedde, Professor für Arbeitsrecht und Recht der Informationsgesellschaft in Frankfurt: "Der Bundesdatenschutzbeauftragte hat gerade darauf hingewiesen, dass Finanzämter in diesem Jahr alleine bis Ende September 40 Prozent mehr Anfragen bei Banken gestellt haben als im gesamten Vorjahr. Teilweise ohne Benachrichtigung der Betroffenen. Mit der Bekämpfung von Terrorismus, für die die Abfragemöglichkeiten eigentlich gedacht waren, hat das nichts mehr zu tun."

Großer Bahnhof für Heino, der heute 75 wird. In seinem "Versuch einer Hommage" schreibt Arno Frank: "Es war immer etwas Unheimliches um diese unverwechselbare Kunstfigur. Weder der Spott der Verächter noch das Altern konnten dieser Ikone etwas anhaben, darin beweist er Weltklasse wie sonst nur ein Cliff Richard oder Tom Jones." Allerdings: "Wer Heino hörte, der hörte auch Marschmusik."

Weitere Artikel: Christian Jakom unterhält sich mit Hans-Werner Kroesinger über dessen neues Stück "FrontEx Security", das sich mit der gleichnamigen EU-Grenzschutzagentur auseinandersetzt und heute im Berliner HAU Premiere hat. Philipp Rhensius wundert sich, dass Miley Cyrus' Videoclip "Wrecking Ball" 371 Millionen Mal im Netz angeklickt wurde. Auf der Meinungsseite ist noch einmal ein Text von Christian Semler zu lesen, der heute 75 Jahre alt geworden wäre, in dem er 2002 über die Sinnhaftigkeit von Tabus nachdachte; außerdem sind ab heute alle seine Texte hier zugänglich. In einem Pro und Contra diskutieren Michael Braun und Daniel Schulz die Entscheidung des US-Magazins Time, Papst Franziskus und nicht Edward Snowden zur "Person des Jahres" zu küren.

Besprochen werden das Album "Sum/One" von Brian DeGraw alias bEEdEEgEE und diverse House-Alben, unter anderem von Delroy Edwards und Anthony Naples.

Und Tom.

Weitere Medien, 13.12.2013

(Via 3quarksdaily.com) Richtig verliebt ist NY Times-Autor Dennis Overbye in die "Unbelievers", womit Richard Dawkins und Lawrence Krauss gemeint sind, deren Eintreten für die Erkenntnis, dass es eventuell keinen Gott gibt, ein neuer Dokumentarfilm gewidmet ist. Über Krauss schreibt Overbye: "Dr. Krauss, the author of 'A Universe From Nothing: Why There Is Something Rather Than Nothing,' is more rumpled, peppery and casual; his wardrobe often features red sneakers. He comes across as a tireless fount of ideas and quips, with a puppy-dog enthusiasm for science and the spotlight, dancing on the stage in one affecting moment and eager to provoke. At one point, Dr. Krauss asks his companion which he would prefer: 'a chance to explain science or destroy religion?'" Hierzu passt Nathan Schneiders gelehrter Artikel über die Geschichte von Gottesbeweisen in killingthebuddha.com und ein nicht minder gelehrter Artikel auf medievalists.net über die verschwundene Vorhaut Jesu.

Traurige Gewissheiten in Sascha Lobos Jahresrückblick für irights.info: "Die Erschütterung der digitalen Sphäre­ durch die Spähkatastrophe 2013 ff. muss zur vorläufigen Neubewertung vieler Wirkungen des digitalen Fortschritts führen. Inzwischen ist zum Beispiel klar, dass durchschnittliche Plattformen und soziale Netzwerke von Facebook bis Google ihre Daten en gros und en détail zur Auswertung an staatliche Ermittlungsbehörden weiterreichen. Es wäre fatal, neue Tools und Features nicht unter diesem Gesichtspunkt zu betrachten."

In The New Republic hält Hillary Kelly eine kleine Liebeserklärung an eine Faksimileausgabe von Gedichten, die Emily Dickinson auf Briefumschläge geschrieben hatte: "What makes 'The Gorgeous Nothings' - a facsimile collection of the poems Emily Dickinson composed, as she often did, on envelopes - so riveting is that despite presenting reproductions it very nearly captures what Walter Benjamin would have referred to as the envelopes' auras. Perfectly to scale, warmly photographed, and positioned inside a generous, expansive white margin, the envelopes are nearly as breathtaking on the page as they might be in the hand."

Aus den Blogs, 13.12.2013

(via boingboing) Das Wissenschaftsblog Buzz Hoot Roar stellt fünf Insekten vor, mit denen man auf gar keinen Fall Sex haben möchte. Links der Penis des Bohnenkäfers. Er hat viele kleine Stacheln, "was allerdings bei vielen Käfern der Fall ist", lesen wir hier, "und wahrscheinlich dazu dient, das Weibchen festzuhalten. Dieser 'Anker' kann das Weibchen sehr stark verletzen, aus diesem Grund kicken die Weibchen bei der Kopulation das Männchen mit ihren Beinen, um so die Paarungsdauer möglichst kurz und die Verletzungen möglichst gering zu halten." Wo ist eigentlich die Evolution, wenn man sie mal braucht?

In Open Culture stellt Josh Jones Stephen Frys Doku "Russia's Open Book: Writing in the Age of Putin" über sechs zeitgenössische russische Autoren vor: Zakhar Prilepin, Mariam Petrosyan, Ludmila Ulitzkaja, Vladimir Sorokin und Anna Starobinets und den "'activist, journalist, teacher, novelist, critic, and poet' Dmitry Bykov, a dead ringer for an earlier vintage of Saturday Night Live's Horatio Sanz. His genial appearance hides deeply serious intent. A romantic inspired by the vibrancy of Russia's political fight for 'the dignity of all its citizens,' Bykov tells us 'Before I went to the first protest, I'd stopped writing. Afterwards, I wrote a whole volume of lyric poetry. No politics, it's all roses and rhymes.'" Mehr über den Film auf dieser Website. Und hier der Film:


NZZ, 13.12.2013

Drei Viertel aller Briten beherrschen keine Fremdsprache mehr, erfährt Marion Löhndorf bei einer Konferenz der deutschen Botschaft und des Goethe Insituts in London. Doch die Politik gelobt Besserung: "John Hopper, der von englischer Regierungsseite aus an der Gestaltung des Curriculums arbeitet, bekundete in einem Vortrag den guten Willen, den Fremdsprachen in seinem Land Aufwind zu verschaffen. Premierminister David Cameron dachte dabei allerdings offenbar nicht an Europa. Anlässlich einer Chinareise empfahl er erst vor einigen Tagen, das Erlernen von Mandarin über Französisch und Deutsch zu priorisieren. Der Weg zur ausreichenden Kompetenz darin dürfte allerdings etwas länger dauern, als mit den europäischen Nachbarn in ihren näher gelegenen Sprachen in den Dialog zu treten."

Weiteres: Uwe Justus Wenzel berichtet von einer Tagung über Joachim Ritter und die Folgen in Marbach. Der Zürcher Festspielpreis geht in diesem Jahr an den Literaturwissenschafter und Joyce-Forscher Fritz Senn, meldet Angela Schader. Hanspeter Künzler porträtiert den Berner Musiker Beat Zeller alias Reverend Beat-Man, dessen Label Voodoo Rhythm Records nach Konflikten mit Musikgeschäft und Urheberrecht in Gefahr geriet. Julian Weber stellt den Musikstil Footwork vor, der als "neues Ding auf dem Dancefloor" gilt. Hier ein Lehrbeispiel:



Besprochen werden Andrea Breths Inszenierung von Sergej Prokofjews Oper "Der Spieler" in Amsterdam (die einem begeisterten Peter Hagmann einen "großen Abend in einem anhaltend lebendigen Haus" beschert) und eine Hamburger Ausstellung des florentinischen Zeichners Stefano della Bella (1610-1664, Bild: eine Kostümstudie für die Figur Apoll in der Oper "Hypermestra", um 1658).

SZ, 13.12.2013

Willi Winkler wundert sich über die paradoxe Haltung der bayerischen Regierung. Einerseits will man sich aus der Förderung einer kritisch kommentierten Ausgabe von Hitlers "Mein Kampf" zurückziehen und ganz grundsätzlich die Veröffentlichung des Ende 2015 gemeinfrei werdenden Buches nach Möglichkeit rechtlich unterbinden, andererseits will man aber auch die Historiker von ihrer Forschungsarbeit nicht abhalten: "Die Wissenschaftler um den Herausgeber Christian Hartmann sollen also weiter die Freiheit haben, die Ausgabe bis zum Ende der Schutzfrist fertigzustellen, müssen aber damit rechnen, dass Hitlers Hetzreden dann doch nicht wissenschaftlich verstanden, sondern zum Nennwert genommen und strafrechtlich relevant werden. Dass er dann eingreifen werde, um zu verhindern, dass der varianten- und fußnotenreiche Hitler auf den Markt komme, weist der Kultusminister weit von sich, seine Ausführungen zum Strafrechtstatbestand der Volksverhetzung sind aber deutlich." Beim für die Forschung zuständigen Insititut für Zeitgeschichte gibt man sich unterdessen lakonisch kämpferisch: Man wird "dieses Ziel in eigener Verantwortung weiter verfolgen und die Edition fristgerecht zum Ablauf der urheberrechtlichen Sperrfrist Ende 2015 veröffentlichen."

Dazu passend erläutert der Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke in einem Vorabdruck seines kommenden Buches über "Mein Kampf", wie Hitler darin durch Offenlegung seiner propagandistischen Manöver seine treuen Leser zu Komplizen machte.

Außerdem: Kristina Maidt-Zinke freut sich, dass Canalettos Gemälde "L'entrata" in Venedig noch bis Weihnachten unter luxuriösen Ausstellungsbedingungen der einstigen Originalperspektive zu sehen ist. Christine Dössel gratuliert der Schauspielerin Jutta Lampe zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden Prokofjews Oper "Der Spieler" in einer Amsterdamer Aufführung und Bücher, darunter Richard Hughes' Roman "Orkan über Jamaika" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 13.12.2013

Als "Jahr der entfesselten Geheimdienste" schätzt Constanze Kurz das Jahr 2013 in ihrem galligen Rückblick ein. Besonders ärgert sie, dass die Politik den Konflikten duckmäuserisch aus dem Weg geht: "Der Versuch, das Leben in einem digitalen Überwachungsstaat zynisch entweder als Hirngespinst oder als neue Normalität zu verkaufen, offenbart eine peinliche Bankrotterklärung der politischen Kaste gegenüber denen, die dem Staat eigentlich zu dienen haben: den Geheimen mit ihren Datenbergen. Diese Ignoranz hat weniger damit zu tun, etwas nicht zu wissen, sondern ist das Ergebnis eines politischen und kulturellen Prozesses des Verleugnens."

Jürgen Dollase erlebt bei den präzis komponierten Darreichungen von Thomas Martin im Hamburger Jacobs-Restaurant ein beglückendes Festival des Hauchs: "Der Hauch von Erdigkeit wird mit einem Hauch von Spitzkohl verlängert, gerade so, dass auch ein Hauch von Gemüse vorhanden ist, der wiederum von etwas Säure einen Hauch von Präsenz erhält."

Außerdem: Thomas David begleitet den Schriftsteller Ulrich Peltzer nach St. Gallen, wo dieser Wirtschaftsstudenten stilvolles Schreiben beibringen soll. Jürgen Kaube vermisst im sich neigenden Jahr der großen Jubilare die Würdigung von Friedrich Hebbel, der ebenfalls vor 200 Jahren auf die Welt gekommen ist. Dieter Bartetzko besichtigt das neue Ulrich-Gabler-Haus in Lübeck. Gerhard Stadelmaier gratuliert Jutta Lampe zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden die große Philippe-Parreno-Schau im Palais de Tokyo in Paris (ein "großer Welterfahrungsball ... voller fast übersinnlicher Momente", schwärmt Annabelle Hirsch. Links ein Bild aus der Ausstellung), neue Musikveröffentlichungen, darunter ausführlicher neue Aufnahmen von Beethovens Diabelli-Variationen, eine Aufführung von Verdis "Falstaff" an der Met, die Ausstellung "Speculations On Anonymous Materials" in Kassel und die erstmals komplett auf Deutsch vorliegenden Tagebücher der Brüder Goncourt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).