Heute in den Feuilletons

Noch leiser als möglich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.11.2013. In der Welt erzählt Jonathan Franzen, wie er gegen das elterliche München rebellierte. Außerdem fragt die Zeitung, wer wie viel über den großen Kunstschatz wusste. Die SZ widmet sich den ebenfalls recht enormen Lügen der Wiederaufbauzeit und fordert ein Ende der Verjährung bei Raubkunst. Auf dem E:publish-Kongress erklärt Katharina Hacker, warum sie die Gruppe "Fiktion" unterstützt. Die NZZ feiert Roman Polanskis listigen Film "Venus im Pelz". Und die taz zahlt für Erregungsvorschläge künftig in Sloti.

Weitere Medien, 09.11.2013

Katharina Hacker erklärte auf dem E:publish-Kongress, warum sie die Autoren der Gruppe "Fiktion" unterstützt, die (mit Hilfe der Kulturstiftung des Bundes) neue Formen elektronischen Publizierens ausprobieren will: "Die Autoren, die 'Fiktion' unterstützen, setzen sich in von dem Aufruf 'Wir sind die Urheber' ab. Uns treibt nicht die Sorge, es könnten Inhalte im Netz kostenlos, an uns vorbei, verbreitet werden, sondern die, dass unsere Art zu Schreiben und Nachzudenken marginalisiert wird, in Folge sowohl wirtschaftlich als auch kulturell derart abseitig, dass wir von unserer Arbeit nicht mehr leben können."

Der SWR bringt ein ausführliches Gespräch mit Hintergründen zum Münchner Kunstfund. Es unterhalten sich Hannes Hartung, Stefan Koldehoff und Ulrike Lorenz. Hier zum Nachhören.

Welt, 09.11.2013

Peter Dittmar geht im Fall Cornelius Gurlitt der Frage nach, was die Provenienzforschung hätte wissen können und müssen: "Denn ein so großes Geheimnis, wie es jetzt dargestellt wird, war der verborgene Kunstbesitz von Cornelius Gurlitt offenbar nicht. Gegenüber der Schweizer Zeitung Der Bund erklärte Alfred Weidinger, Vizedirektor der Österreichischen Galerie Belvedere und Kurator für die Kunst der Klassischen Moderne, der Fund sei eigentlich keine Überraschung: 'Im Grunde genommen hat jeder wichtige Kunsthändler im süddeutschen Raum gewusst, dass es das gibt - auch in der Dimension.'"

Weiteres: Barbara Möller begeistert sich für den neuen "Schimanski", in dem der 75-jährige Schimanski seinen Gegnern auch mal eine Chance lässt. Marc Reichwein bedauert, dass die Stadt Zürich ihr Literaturmuseum Strauhof schließt. Besprochen werden Mahlers Siebte als Ballett in Düsseldorf und Konrad Heidens Analyse der Novemberprogrome: "Eine Nacht im November 1938".

Die Literarische Welt druckt Jonathan Franzens Dankesrede zum Welt-Literaturpreis ab. Sein gutes Verhältnis zu Deutschland, erfahren wir dabei, hat was mit seinen Eltern zu tun: "Obwohl meine Eltern keine deutschen Vorfahren hatten, waren sie im Geiste doch Bayern - konservativ, ordnungsliebend, harte Arbeiter und in ihrem Kunst- und Architekturgeschmack ein bisschen verkitscht. Sogar Jahrzehnte vor der gegenwärtigen Schuldenkrise war da etwas Elterliches an Deutschlands Autorität und Kompetenz. München kam mir ganz besonders kompetent, besonders elterlich vor, und also begann ich, Monat für Monat mehr, gegen München zu rebellieren. Ich fing an, schwarz U-Bahn zu fahren."

In seiner ebenfalls abgedruckten Laudation erzählt Daniel Kehlmann, wie er von Franzen "verunsichert, verwirrt und elektrisiert" wurde. Besprochen werden Maxim Billers Novelle "Im Kopf von Bruno Schulz", Imre Kertesz' Tagebücher "Letzte Einkehr" und Jan Piskorskis Panorama der Vertreibung "Die Verjagten".

NZZ, 09.11.2013

Als Summe eines Künstlerleben feiert Susanne Ostwald Roman Polanskis neuen Film "Venus im Pelz", der Sacher-Masochs gleichnamige Novelle nach allen Regeln der Kunst auseinandernehme: "Alle Obsessionen des Regisseurs vereint dieser hochkomische und prickelnde Film, der listig und selbstreferenziell erotische Besessenheit, Transvestismus sowie Fragen von Macht und Ohnmacht, Dominanz und Fremdbestimmung aufwirft - Themen, die Polanski nur allzu vertraut sind."

In Literatur und Kunst widmet sich Beatrice von Matt Andrea Stolls neuer Biografie zu Ingeborg Bachmann, die sie größtenteils sehr gelungen findet: "Bachmann erfindet sich immer neu, taumelt von Aufschwung zu Erschöpfung und zu neuem Aufschwung. Damals schon. Eine Getriebene ist sie und eine Zupackende, eine scharf und überlegen Denkende."

Weiteres: Hansjörg Graf erinnert daran, wie Thomas Bernhard mit seinem Romandebüt "Frost" vor fünfzig Jahren der deutschen Literatur "einen Kältschock" verpasste. Der Literaturwissenschaftler Edi Zollinger entwirrt die amourösen Verwicklungen in Prousts Leben und Werk.

Besprochen werden Ingo Metzmachers "Walküre" in Genf ("Noch leiser als möglich klingt das Orchestre de la Suisse Romande", konstatiert Peter Hagmann), die Ausstellung über den Revolutionär Georg Büchner im Darmstadtium, zwei Pariser Ausstellungen zu Claude Simon, Thomas Stangls Roman "Regeln des Tanzes" und Bernd-Jürgen Fischers Neuübersetzung des ersten "Recherche"-Bandes "Auf dem Weg zu Swann" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

TAZ, 09.11.2013

Friedrich Küppersbusch sinniert über die (mangelnde) Logik gesellschaftlicher Empörung, deren Gegenstand, historisch besehen, oft genug nur von geringfügigem Interesse ist. Und er hat einen Vorschlag zur Bemessung des Skandalwerts: "Peter Sloterdijk entzauberte Nachrichten und medial vermittelte Ereignisse nüchtern als 'Erregungsvorschläge'. Jede moderne Nation produziere 20 bis 30 davon täglich, die meisten würden abgelehnt oder mit mäßigem Appetit übers Tellerchen geschoben. Irrwitzige oder willkürliche Skandalisierungen sollte man dem Philosophen zum Dank künftig in Sloti bewerten statt der althergebrachten 'Prioritäten'."

Weitere Artikel: Andreas Becker gratuliert dem prächtigen Ost-Berliner Kino International zum 50-jährigen Bestehen (auf Flickr gibt es dazu eine automatisierte Bilderstrecke) Franziska Seyboldt spricht mit der Heftroman-Autorin Anna Basener. Ganze vier Seiten lang unterhält sich Anne Haeming im Berlinteil mit dem ehemaligen Grenzsoldaten Harald Jäger, der in der Nacht vom 9. November 1989 am Grenzübergang Bornholmer Straße Dienst hatte.

Besprochen werden eine Werner Büttner gewidmete Retrospektive in Bremen (Bild: Werner Büttner, Die Avantgarde von hinten, 2011 © Werner Büttner), Lady Gagas neues Album, eine Filmreihe zum brasilianischen Kino in Berlin, die Ausstellung "Herbstsalon", die rings um das Berliner Maxim Gorki Theater den Antritt der neuen Intendantin Shermin Langhoff begleitet, und Bücher, darunter David Foster Wallace' posthum veröffentlichter Roman "Der bleiche König" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

FAZ, 09.11.2013

Im Leitartikel auf der Seite eins warnt Jürgen Kaube vor einem Internetministerium. Auch wenn unbestritten sei, dass ein Ansprechpartner für dieses Thema nötig sei, plädiert er für Dezentralisierung: "Was ein solches Internetministerium nämlich vor allem bewirken würde, wäre die Vereinfachung des Lobbyistengeschäfts."

Im Feuilleton erinnert Julia Voss daran, dass der Kunsthändler Hildebrand Gurlitt eine jüdische Urgroßmutter hatte: "In einer eidesstattlichen Erklärung, die Gurlitt den Alliierten nach 1945 gab, erklärte er seine Karriere im Nationalsozialismus eben mit diesem Widerspruch: Als Mann mit 'jüdischem Blut' habe er gefürchtet, 'zur Arbeit für die Organisation Todt gezwungen zu werden', ein 1938 gegründetes Unternehmen, das für den Bau militärischer Anlagen zuständig war."

Katharina Rudolph steht ziemlich befremdet in der Bonner Kunsthalle vor den Bildern der - zumeist deutschen - Maleravantgarde, die 1914 einen Krieg herbeisehnten, damit ihre Kunst mehr echten Stoff zur Verarbeitung bekäme: "Max Beckmann war der Ansicht, dass seine Kunst nun endlich 'zu fressen' kriege, Otto Dix gierte es nach den 'Untiefen' menschlichen Daseins, Franz Marc erhoffte sich ein reinigendes Gewitter für das verkommene Europa, Kokoschka hielt das Ganze für einen großen Abenteuerspielplatz, Klee dagegen für eine Zirkusvorstellung, deren malerische Verarbeitung Geld in seine leere Kasse zu spülen versprach." (Bild: Emil Noldes "Soldaten" von 1913)

Weitere Artikel: Kerstin Holm berichtet von den Kunstprojekten der Kreuzberger Lemgo-Grundschule, die sich besonders an Kinder mit Migrationshintergrund richten. Michael Hanfeld feiert die amerikanische Politserie "House of Cards", die nun auch bei uns zu nächtlicher Stunde gezeigt wird. In der Reihe der Generationengespräche unterhält sich Beatrix Schnippenkoetter mit dem Übersetzer Vojtech Terber und seinem siebenjährigen Enkel.

Besprochen werden die Ausstellung der Kafka-Handschriften zum "Prozess" im Marbacher Literaturarchiv und Bücher, darunter Imre Kertesz' Tagebücher "Letzte Einkehr" und Jorge Sempruns letztes Buch "Überlebensübungen", in dem er auf ein Leben der Verfolgung zurückblickt (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie abgedruckt ist Marcel Reich-Ranickis Interpretation von Sarah Kirschs Gedicht "Schwarze Bohnen" vor:

"Nachmittags nehme ich ein Buch in die Hand
Nachmittags lege ich ein Buch aus der Hand
Nachmittags fällt mir ein es gibt Krieg
..."

SZ, 09.11.2013

Der Münchner Kunstfund beschäftigt die SZ auch weiterhin: Für Andreas Zielcke ist der Fall ein Beweis dafür, "dass die deutsche Nachkriegsgeschichte längst nicht abgeschlossen ist". Seiner Ansicht nach "muss die Verjährung für Raubkunst gesetzlich neu geregelt werden. Sie ist fatal."

Catrin Lorch recherchierte unterdessen in der Familie Gurlitt und ist dabei auf Wolfgang Gurlitt, Cousin von Hildebrand Gurlitt und wie dieser Kunsthändler im Nachkriegsdeutschland, gestoßen, der seine Sammlung nach dem Krieg ebenfalls überraschend schnell wieder ausgehändigt bekam: "Wer sich fragt, wie es sein kann, dass ein Nachfahre der Profiteure des Dritten Reichs noch immer auf seinem Bilderschatz sitzt, der findet in den Lügen der Wiederaufbauzeit der Bundesrepublik den Schlüssel: Da waren die bestens vernetzten Kunsthändler Garanten dafür, dass man sogar mit dem hochbelasteten Erbe, dem Verdrängten und Vergessenen noch strahlend Geschäfte machen kann."

Weitere Artikel: Ira Mazzoni wünscht sich eine Kommission, die ähnlich wie in den Niederlanden, für die Koordination von Raubkunst-Restitutionen zuständig wäre. Alexander Menden staunt, wie der Komiker Russell Brand, der im New Statesman und in diversen Interviews eine Revolution herbeisehnt, die britischen Medien in Aufregung versetzt. Queere Aktivisten protestieren gegen Dirigent und Putin-Anhänger Valery Gergiev, meldet Reinhard J. Brembeck.

Besprochen wird Eminems neues Album, die Gletscher-Doku "Chasing Ice" und Bücher, darunter Mohsin Hamids als Ratgeber getarnter Roman "So wirst du stinkreich in Asien" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende denkt Kurt Kister über die Freundschaft zwischen Angela Merkel und Barack Obama nach. Selbst in Leipzig fürchtet man inzwischen die Über-Hipsterung, berichtet Cornelius Pollmer: Auch hier gebe es nun "berlinöse Ecken und Momente, aber nur als Pixel in dem Zerrbild, das die Beschreibung einer Stadt immer bleiben muss". Malte Herwig stellt den Whistleblower Werner Pätsch vor, der 1963 Geheimdienstaktivitäten offenlegte (mehr dazu hier und hier in den Archiven von Zeit und Spiegel). Peter Richter plaudert mit Woody Allen über dessen neuen Film (unsere Kritik).