Heute in den Feuilletons

Phrasenmitschreiber

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
08.10.2013. Die taz begibt sich auf einen historischen Strandlauf an der Copacabana: Hier entstand das Anthropophagische Manifest. Die Welt fragt: Techcrunch meldet: Amazon baut die Wolke für die CIA und NSA. Netzpolitik lauscht dem Schweigen der Bundesregierung zu den Fragen der Grünen betreffs Geheimdienste. Und auch der BND hört fleißig mit, wahrscheinlich rechtswidrig, so der Anwalt Thomas Stadler. Der Tagesspiegel ist überzeugt: Die Buchpreisentscheidung für Terézia Mora ist der stärkste, bestmögliche Kompromiss. Die SZ und FAZ staunen weiter über Jonathan Franzens Liebe zu Karl Kraus. Zu spät für die deutschen Zeitungen kam die Meldung vom Tod Patrice Chéreaus.

Weitere Medien, 08.10.2013

Liberation trägt Trauer. Die Seite eins und etliche Sonderseiten sind Patrice Chéreau gewidmet, der gestern in Paris an Krebs gestorben ist.

Pierre Boulez spricht in Le Monde über Patrice Chéreau: "Die Einzigartigkeit seiner Arbeit bestand für mich in der extremen Präzision, mit der er die kleinsten Rollen charakterisiert hat. Meistens ging es um ein Detail, das dann eine Humanität von ungeheurer Kraft ausstrahlte." Hier der Nachruf in Le Monde. Thomas Sotinel schreibt über den Filmemacher Chéreau (der übrigens einen sehr frühen Film über das Zeitungssterben gemacht hat, "Judith Terpauve" mit Simone Signoret und Philippe Léotard aus dem Jahr 1978).

TAZ, 08.10.2013

Über die Copacabana als Sehnsuchtsort spricht der Historiker und Autor Dawid Danilo Bartelt im Interview mit Fatma Aydemir, aber auch über den Rassismus in Brasilien und die Schwieirigkeit, eine Identität als gemischte Gesellschaft zu finden: "Ein erster wichtiger Schritt zu einer eigenen Identitätsstiftung ging vom brasilianischen Modernismus aus, einer Bewegung in Literatur, Kunst und Architektur. Deren Beginn wird auf die Woche der modernen Kunst im Jahr 1922 datiert. 1928 erschien das berühmte Anthropophagische Manifest, das den Kannibalismus als kulturelle Metapher verwendete. Es hieß: Wir müssen uns die Kultur Europas aneignen, sie aufessen, um sie dann wieder als etwas Eigenes auszuspucken. Wir müssen aufhören sie zu imitieren und sie stattdessen zu etwas Neuem verarbeiten."

Weiteres: Als wohltuende Abwechslung zum herrschenden Kulturpessimismus empfiehlt Aram Lintzel den Essay "Erfindet euch neu!", in dem der 83-jährige Philosoph Michel Serres eine Liebeserklärung an die "Kleinen Däumlinge" der vernetzten Generation macht.

Besprochen werden eine Retrospektive des spanischen Künstlers Santiago Sierra in den Hamburger Deichtorhallen und die Veranstaltungen des Festivals "Waves Vienna".

Und Tom.

Welt, 08.10.2013

Heute verhandelt das Bundesverfassungsgericht über die Klage der UCI-Kette gegen die Kinoabgabe. Aus diesem Anlass zeichnet Hanns-Georg Rodek ein wenig schmeichelhaftes Porträt des UCI-Besitzers Guy Hands als Heuschrecke. Und er erinnert daran, dass die chronische Unterfinanzierung deutscher Filme auf einer politischen Entscheidung beruht: "Die Hälfte der deutschen Kinoproduzenten arbeitet mit einer Umsatzrendite von unter 2,5 Prozent. Mischkalkulationen wie bei den US-Majors sind unmöglich, weil es in Deutschland kein finanzkräftiges Großstudio gibt, nie gegeben hat seit 1945. Es war eine bewusste politische Entscheidung, einen beherrschenden Konzern wie die Ufa nicht mehr entstehen zu lassen, und mit den Folgen dieser Entscheidung müssen wir jetzt leben, da Kinofilmemachen unfassbar teuer und riskant geworden ist."

Berthold Seewald lernt mit Ludwig Dehio und einer Animation der europäischen Geschichte, wie sich in der EU die Tendenzen zu Aufsplitterung und Vereinigung gegenseitig aufheben - und damit Europa friedlicher machen:



Besprochen werden die Uraufführung von Felicia Zellers Stück "Die Welt von hinten wie von vorne" am Nationaltheater Mannheim, eine Ausstellung zu hundert Jahren Jugendbewegung in Deutschland im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg, und zwei Wagner-Opern, "Lohengrin" in Weimar und "Der fliegende Holländer" in Bremen.

Online gratuliert Elmar Krekeler Terezia Mora zum Deutschen Buchpreis.

Aus den Blogs, 08.10.2013

Ein Link auf die Bildersuche bei Twitter.


(Via Peter Glaser) Eine hübsche Meldung von Techcrunch: "Amazon Web Services Wins Again In Battle To Build The CIA And NSA Cloud."

Markus Beckedahl liest für Netzpolitik die Antwort der Bundesregierung auf Fragen der Grünen zu den Geheimdienstaffären: "Im Vergleich zu früheren Antworten der Bundesregierung auf Fragen von Oppositionsfraktionen zum NSA-Skandal gibt es diesmal einen neuen traurigen Rekord: Von 47 Fragen wurden vier beantwortet, davon wurde bei einer Antwort auf eine frühere Antwort verwiesen. Der Rest ist geheim." Der Souverän darf nicht wissen, was in seinem Namen getrieben wird.

In der letzten Legislaturperiode hat die Inhalteindustrie das Leistungsschutzrecht durchgeboxt (das sie nun nicht gegen Google, sondern gegen eventuell missliebige Newcomer in Reserve hält). Nun fordert, so turi2, die "Deutsche Content Allianz" ihre Streicheleinheiten - der Zugriff der Verwerter auf Rechte soll gestärkt werden: "Verstöße wie das illegale Downloaden von Filmen sollten schärfer geahndet werden, am besten mit einem Warnmodell nach US-Vorbild. Auf einer Pressekonferenz in Berlin kritisiert Dieter Gorny, Chef des Bundesverbandes Musikindustrie, 'eine Legislatur des Stillstands'. Die Regierung aus Union und FDP habe sich nicht klar genug auf die Seite der Kreativen und Inhalteproduzenten geschlagen."

(via carta) Der BND zapft mit Genehmigung der Bundesregierung die Datenleitungen von 25 Internetprovidern an. Darunter sind auch sechs deutsche Provider, berichteten vor zwei Tagen Spon und Netzpolitik. "Die Maßnahmen sind, jedenfalls, soweit sie sich an deutsche Provider richten, ... mit hoher Sicherheit rechtswidrig", meint dazu der Anwalt Thomas Stadler im Blog Internet-Law. Denn der inländische Mailverkehr darf eigentlich nicht abgehört werden. "Wenn der BND angibt, dass er E-Mail-Adressen mit der Endung .de ausfiltert, so handelt es sich hierbei um ein von vornherein untaugliches Ausschlusskriterium. Millionen Deutsche benutzen E-Mail-Adressen, die auf .com enden." Stadler macht auch darauf aufmerksam, dass diese Praxis erst durch die rot-grüne Koalition ermöglicht wurde, die 2001 das Gesetz zur Neuregelung von Beschänkungen des Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnisses erließ.

NZZ, 08.10.2013

Martin Woker wünscht sich auf der Medienseite eine offenere und fairere Berichterstattung über Roma in Europa und endlich eine Sprachregelung, mit der alle leben lönnen: "Das Thema ist ein mediales Minenfeld. Es droht den Autoren die Gefahr, als Rassist oder Naivling hingestellt zu werden."

Weiteres: Andrea Köhler widmet sich dem Verkauf von Detroits Kunstsammlung. Aldo Keel berichtet von der ewigen Rivalität zwischen Schweden und Finnland, die gern auch in der Leichtathletik ausgetragen wird.

Besprochen werden eine Ausstellung brasilianischer Baukunst im Deutschen Architekturmuseum in Frankfurt, Judith N. Shklars Schrift "Der Liberalismus der Furcht" und Peter Handkes Essay "Versuch über den Pilznarren" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Tagesspiegel, 08.10.2013

Terézia Moras Roman "Das Ungeheuer" wurde gestern in Frankfurt mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet, berichtet Gerrit Bartels, der mit dieser Entscheidung sehr zufrieden ist: "Sieht man davon ab, dass es Clemens Meyer ebenso gut hätte werden können, ist die Entscheidung für Terézia Mora sicher der stärkste, bestmögliche Kompromiss. Und zudem ein eindeutiges Zeichen dafür, dass man beim Deutschen Buchpreis literarischen Kriterien weiterhin den Vorzug vor Publikumsgängigkeit gibt."

FAZ, 08.10.2013

Nur online bisher: Die Meldung vom Tod Patrice Chéreaus.

Online finden wir eine Dokumentation über seine epochale Bayreuther "Ring"-Inszenierung von 1976.



Und hier das ganze "Rheingold".



Gina Thomas betätigt sich als Perlentaucherin und resümiert die Gedanken anderer zu Prism und Tempora, an erster Stelle den großartigen Essay von John Lanchester im Guardian (hier), dann einen Artikel Timothy Garton Ashs (hier), der das Thema als einer der wenigen britischen Intellektuellen aufgegriffen hat, schließlich Michael Frayn, der nichts gegen Prism einzuwenden hat, und sie verweist auf zwei neue Romane zu Geheimdienstthemen, John Le Carrés "A Delicate Truth" (mehr hier) und Robert Harris' Thriller "An Officer and a Spy", der die Dreyfus-Affäre nacherzählt.

Weitere Artikel: Im Leitartikel zur Buchmesse auf Seite 1 des politischen Teils singt Andreas Platthaus ein Loblied auf Buchhandel und Buchhändler. Hubert Spiegel glossiert die Spannung vor dem Literaturnobelpreis und verweist auf einen Artikel der New York Times, der Bob Dylan den Preis wünscht. Wiebke Porombka hat sich Tolkiens "Hobbit" in einer limitierten Vinyl-Edition angehört. Stefan Koldehoff berichtet über die von mehreren Museen betriebene (kommende) Datenbank Alfredflechtheim.com, die wegen des umstrittenen Rechtsstatus mancher Kunstwerke allerdings von manchen anderen Museen bekämpft wird. Hildegard Kaulen würdigt die drei Medizin-Nobelpreisträger. Lena Bopp verfasst eines der zahllosen jetzt erscheinenden Porträts der Christiane F., die in einem zweiten Band aus ihrem traurigen Leben erzählt (episch und mit vielen Fotos sogar hier, in Le Monde). Jordan Mejias lauschte in New York einer Diskussion zwischen Jonathan Franzen, Daniel Kehlmann und dem amerikanischen Germanisten Paul Reitter über Karl Kraus. Arnold Bartetzky besucht den Neubau des Europäischen Zentrums der Solidarność in Krakau. Im Medienteil beklagt Jürgen Scharrer, Chefredakteur der Branchenzeitung Horizont, den immer größeren Druck von Google auf seine Kundschaft.

Stefan Niggemeiers Artikel über die deutsche Huffington Post ist jetzt online zu lesen.

Besprochen werden Felicia Zellers "Welt von hinten wie von vorne" in Mannheim, "La Fanciulla del West" in Wien, eine CD der Goldenen Zitronen, Neuinszenierungen in Bochum und Bücher, darunter Edward St. Aubyns Roman "Am Abgrund" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 08.10.2013

Christoph Bartmann war bei der New Yorker Vorstellung von Jonathan Franzens Karl-Kraus-Übersetzung. Schnell mutmaßte man dort auch, was ein heutiger Karl Kraus wohl schreiben würde. "Was würde Kraus zum amerikanischen Kabel-TV sagen, dieser Vergrößerung aller Unarten jedweden 'Preßwesens' ins Gigantische, fragte Franzen. Wovon würde Kraus in Betrachtung des digitalen Zeitalters eine günstige Ansicht haben? Hätte er, immerhin einer der frühesten Automobilisten Wiens, sich schon das neue iPhone 5s angeschafft? Wer wäre heute willens und in der Lage, das undankbare und einsame Handwerk eines Phrasenmitschreibers der Gegenwart auszuüben? Jedes Zeitalter braucht einen Autor, der es verdammt."

Weiteres: Wolfgang Janisch liefert Hintergründe zur Klage gegen die Kinoabgabe vor dem Bundesverfassungsgericht. Michaela Metz führt anlässlich der Frankfurter Buchmesse durch die brasilianische Literatur (siehe auch unseren Schwerpunkt zur Literatur Brasiliens in diesem Herbst).

Besprochen werden das neue Album von Duo Mazzy Star, Felicia Zellers in Mannheim aufgeführtes Stück "Die Welt von hinten wie von vorne", eine Matisse-Ausstellung in der Albertina Wien, Anne Teresa De Keersmaekers in Bochum aufgeführte Choreografie "Vortex Temporum", Puccinis "La Fanciulla del West" an der Wiener Staatsoper, eine Ausstellung in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden über Indianerbildnisse aus dem 19. Jahrhundert und Bücher, darunter Jeremy Scahills "Schmutzige Kriege" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Im Aufmacher der heutigen Literaturbeilage widmet sich Lothar Müller dem Band "Die Erkundung Brasiliens" des Naturkundlers Friedrich Sellows.