Heute in den Feuilletons

Man wusch sich den Hals und die Ohren

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.09.2013. In der FAZ verzweifelt Juli Zeh über die grassierende Selbstentmachtung von Politik und Gesellschaft beim Thema Überwachung. Für die taz ist klar: In einem Überwachungsstaat ist keine Demokratie mehr möglich. Die SZ findet nicht den Wahlkampf langweilig, sondern die lustlose Berichterstattung. Die FR besucht den C.H. Beck Verlag in München. Und in der NZZ fordert die Autorin Samar Yazbek Hilfe für die syrische Bevölkerung in ihrem Kampf gegen zehnköpfige Hydra.

Weitere Medien, 07.09.2013

Nachdem bekannt wurde, dass amerikanische und britische Geheimdienste auch "sichere" Verbindungen abhören können, beruhigten jetzt deutsche Banken ihre Kunden: Zwar könne die NSA, wenn sie den SSL-Schutz überwunden habe, "durchaus Kontoinformationen abrufen, nicht jedoch selbst Geld vom Online-Konto abzweigen", berichtet Markus Decker in der Berliner Zeitung ganz unsarkastisch. Außerdem setzt sich laut diesem Bericht EU-Justizkommissarin Viviane Reding für ein "europaweit einheitliches Datenschutzrecht [ein], das es bisher nicht gebe. 'Im Augenblick können wir nur schreien', so Reding. 'Ich will auch beißen. Wir brauchen Gesetze mit Biss.' In Europa operierende Unternehmen, die gegen den Datenschutz verstießen, müssten mit bis zu zwei Prozent ihres Weltumsatzes bestraft werden können."

Als Edward Snowden noch im Flughafen Scheremetjewo festsaß, erhielt er unerwartet Unterstützung von vier Mitgliedern der polnischen Solidarność, erzählt Jonathan Schell in The Nation. Sie schrieben einen offenen Brief an ihre Regierung, in dem sie forderten, Snowden in Polen Asyl zu gewähren. Es sei eine Schande, dass er Schutz nur in autoritären Staaten finden könne: "The signers were Barbara Labuda, Józef Pinior, Zbigniew Bujak and Władysław Frasyniuk, all of whom had the experience of being stalked by their government when they went underground during the period of martial law that began in 1981. 'Edward Snowden did not kill anyone, did not kidnap or attack or maim anyone,' they wrote. 'And yet, he is hunted and cornered like a terrorist. Why? Because he revealed an inconvenient truth about the activities of the authorities of his country. He revealed to the world that the American government systematically controls the behavior of millions of his [fellow] citizens through mass registering and listening to their telephone, Skype, Facebook, email and chat activities. Snowden's revelations uncovered an ugly face of the American administration.'"

Deutsche Politiker sind weiter entschlossen, die Sache auszusitzen. Laut Spon verkündete ein Sprecher des Innenministeriums, das seien alles "völlig unbewiesene Behauptungen".

NZZ, 07.09.2013

Die Autorin Samar Yazbek beschreibt in einem verzweifelten Text die Lage der syrischen Bevölkerung am Vorabend einer möglichen Intervention. Die Menschen, meint Yazbek, stehen einer zehnköpfigen Hydra gegenüber - oder Schlimmerem: "Mehrere fremde Staaten infiltrierten Syrien; dschihadistische Kampftruppen erhielten materielle Unterstützung, und die Grenzen wurden ihnen in aller Stille weit geöffnet. Gleichzeitig ging die Finanzhilfe für die moderaten Faktionen zurück. Fremde islamistische Kämpfer tauchten plötzlich im Norden des Landes auf, eine neue, autokratische religiöse Macht formierte sich. Das bedeutet aber nicht, dass der zivile Widerstand gegen das Asad-Regime abflaute; auch empfingen die Syrer, trotz der brutalen Repressionspolitik des Regimes, die Dschihadisten nicht mit offenen Armen."

Alle Indizien sprechen dafür, dass das Giftgasmassaker an syrischen Zivilisten vom Assad-Regime verübt wurde, schreibt Andreas Rüesch in einem sehr instruktiven Artikel im politischen Teil, der die Fakten und möglichen Hypothesen zusammenträgt: "Ein Chemieunfall, aber auch die irrtümliche Explosion einer einzelnen Giftgasgranate hätte eine solche Katastrophe nicht auslösen können. Die hohe Zahl der Opfer und ihre geografische Verteilung deuten klar darauf hin, dass chemische Kampfstoffe gezielt und in großen Mengen zum Einsatz kamen." Und auch die Rebellen können es nach Rüesch nicht gewesen sein: "Bisher ist nichts darüber bekannt geworden, dass den Aufständischen Chemiewaffen in großer Zahl in die Hände gefallen wären. Westliche Geheimdienste schließen dies aus, und auch das Regime Assad dementiert dies."

Weitere Artikel: Mit Unbehagen beobachtet Gabriele Detterer, dass Florenz seine Museen und Monumente für Feste an reiche Privatiers vermietet: "In welche Kassen fließen die Einnahmen des Zusatzgeschäftes 'exklusives Entertainment'?" Und der Schriftsteller David Albahari vermisst den Sonntag, der früher einmal, als die Geschäfte noch geschlossen hatten, ein echtes Fest war: "Man wusch sich den Hals und die Ohren und zog ein weißes Hemd an." Andrea Köhler verfolgt die neuen Turbulenzen um das Werk von J.D. Salinger.

Besprochen werden Daniel Kehlmanns Roman "F", Robert Neumanns Roman "Die Puppen von Poshansk" und das eigene Werk des großen Mäzens Max Brod (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In Literatur und Kunst zollt Karl-Markus Gauß den Germanisten Klaus Zeyringer und Helmut Gollner für ihr gewagtes Unterfangen einer "Österreichischen Literaturgeschichte" großen Respekt. Eine Erkenntnis aus dem Werk: "Für Gollner wird man durch Misanthropie, ein tiefes Misstrauen gegenüber Idealismus und Fortschritt, eine fundamentale Skepsis gegenüber der Sprache zum österreichischen Autor."

Außerdem unterhält sich Martin Zähringer mit dem amerikanischen Schriftsteller James Salter. Stefan Rebenich blickt auf die bisherigen 250 Jahre des Beck Verlags zurück.

Weitere Medien, 07.09.2013

Auch wenn alles dafür spricht, dass Assad die Giftgasbomben auf seine Bevölkerung warf, ist diese Frage ist gar nicht entscheidend, meint André Glucksmann in Le Monde: "Vom Mord am Einzelnen bis zum Gasmassaker an vielen - die Linie des Tyrannen ist fixiert. Sollte er gegen alle Wahrscheinlichkeit die Dschihadisten in den Gaswahnsinn mit hineingezogen haben, spricht ihn das in nichts frei: Sein Massaker an Unschuldigen geht munter weiter. Diesen Blutrausch zu stoppen ist eine Notwendigkeit, sonst sprengt er sämtliche rote Linien in der ganzen Welt, inklusive der Nuklearoption im Iran und anderswo. Die ermordeten Kinder träumten nur von einer Herrlichkeit: Leben."

TAZ, 07.09.2013

Die Philosophin und Bloggerin Leena Simon erklärt, warum sich das Problem der Überwachung nicht mit dem Hinweis, wer nichts zu verstecken habe, habe nichts zu befürchten, beiseite wischen lässt: "Wenn wenige Menschen viel über andere Menschen wissen, dann können sie dieses Wissen nutzen, um das Handeln ganzer Massen zu steuern." Und: "In einem Überwachungsstaat ist keine Demokratie mehr möglich."

Susanne Messmer gratuliert Clärchens Ballhaus in Berlin zum 100-jährigen Bestehen. Im beigestellten Gespräch erklärt ihr die Theaterwissenschaftlerin Gabriele Brandstetter, dass die Ballhäuser vor 100 Jahren Orte auch der erotischen Libertinage waren: "1913 kam in Europa der Tango an. Aber auch das sogenannte freie Schwofen versprach eine ganz neue Körperfreiheit. Gerade in Berlin gehörte es dazu, dass auch in den Ballhäusern Frauen miteinander tanzten - und zwar nicht verschämt, sondern provokant."

Weitere Artikel: In Venedig rechnet Cristina Nord Tsai Ming-liangs Film "Stray Dogs" gute Chancen auf den Goldenen Löwen aus. Susanne Knaul trifft sich auf ein Gespräch mit dem israelischen Friedensaktivisten Uri Avnery. Nina Apin spricht ausführlich mit der Mode-Avantgardistin Claudia Skoda. Robert Matthies führt durch das Programm des Literarturfestivals Harbour, dem es für seinen Geschmack eindeutig an Nischen mangelt.

Besprochen werden das neue Album von MGMT, eine Ausstellung im Berliner Willy-Brandt-Haus mit John M. Halls und Michael Ruetz' Fotografien aus der Allende-Zeit und Bücher, darunter der Roman "Exodus" von DJ Stalingrad (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 07.09.2013

Kreuzberg 2013. Christian Ströbele stellt sich erneut zur Wahl (Foto: Robin Alexander).

In seinem Eröffnungstext zum gestrigen Urheberrechtskongress stellte Philipp Otto von irights.info eine Kleinigkeit klar: "Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass jeder Euro aus öffentlichen Kassen, der in die Erstellung von Werken in Wissenschaft und Forschung, in die Produktion von Inhalten - etwa bei der staatlichen Filmförderung oder im öffentlich-rechtlichen Rundfunk - zwangsläufig eine freie Lizenz zur Folge hat."

Für die Freunde von Listen gibt es bei Open Culture noch einmal die zehn besten Filme aller Zeiten und die Bücher, die Hemingway am liebsten immer wieder zum ersten Mal lesen würde.

Diese Shoppingmeile in Shenyang hat einfach alles - von Cnanel bis Starbocks.

FR/Berliner, 07.09.2013

Arno Widmann besucht für die FR den Beck Verlag in München und stellt fest, dass sich der alte Ort hier noch gegen die Wolke behauptet: "Er organisiert noch Wahrnehmung, Erinnerung und Wissen. Die Dinge wurden noch nicht aufgelöst in Informationen, in eine Folge von Ja und Nein. Sie sind widerständig. Man stolpert über sie. Das gehört zur Erkenntnis. Der binäre Code dagegen verwaltet nur das Wissen, über das man verfügt. Das tut er ausgezeichnet und, da scheint sich Wolfgang Beck ganz sicher, so sind Lexika, Nachschlagewerke allesamt besser im Netz aufgehoben als in den dicken Büchern, mit denen der Verlag seit 250 Jahren seine Geschäfte macht."

Welt, 07.09.2013

Die Deutsche Stiftung Denkmalschutz lädt am morgigen Sonntag zum Tag des offenen Denkmals, informiert Dankwart Guratzsch. Dabei steht erstmals das bauliche Erbe des 20. Jahrhunderts im Mittelpunkt: "Plattenbauten, Kaufhäuser, Kinos, Hotels und Bürokästen, dazu Kasernen, Bunker, DDR-Wachtürme, NS- und DDR-Verwaltungsbauten, Arbeits- und Konzentrationslager. Kann dieses im wahrsten Wortsinn 'unbequeme' und bedrückende Erbe auf Schutz und Schonung, ja gar auf Instandsetzung und Pflege mit den Steuergroschen der Bürger rechnen? Nicht nur die Stiftung, auch die Denkmalpflege insgesamt gerät hier in eine Legitimationskrise mit unabsehbarem Ausgang."

Weiteres: Alan Posener unterhält sich mit Neil MacGregor, Autor von "Eine Geschichte der Welt in 100 Objekten" und Direktor des British Museum, der 2014 zum 25. Jahrestag des Mauerfalls eine Deutschland-Ausstellung plant. Hanns-Georg Rodek informiert über den konzertierten Fan-Protest gegen die designierten Hauptdarsteller der "Fifty Shades of Grey"-Verfilmung. Außerdem isst er mit David Dietl, dessen Debütfilm "König von Deutschland" in dieser Woche in die Kinos kam, in Berlin-Mitte Salzwiesenlamm. Daniel Kothenschulte hat bei den 70. Filmfestspielen in Venedig dem "wohl experimentierfreudigsten Wettbewerb der letzten Jahre" beigewohnt. Christiane Hoffmans berichtet von der Ruhrtriennale.

In der Literarischen Welt nörgelt Fritz J. Raddatz in seiner Kolumne über den seines Erachtens im deutschen Feuilleton überstrapazierten Begriff des Helden im Allgemeinen und Edward Snowden im Besonderen. "Etwas dubios" sei die Sache ja schon: "Man wüsst' doch ganz gerne, wie (mit Kreditkarte? nicht gesperrt?) und wovon er all das bezahlt: Interkontinentalflüge; wochenlangen Hotelaufenthalt; Anwälte. Ist er nun ein enorm spezialisierter Hochstapler, ein hochintelligenter Dummkopf, ein naiver Menschheitsbeglücker?"

Außerdem trifft Jenny Hoch Marisha Pessl, deren zweiter Roman "Die amerikanische Nacht" nächste Woche in deutscher Übersetzung erscheint. Vorabgedruckt sind Auszüge aus "Letzte Einkehr", einem Band mit den jüngeren Tagebüchern von Imre Kertész. Besprochen werden unter anderem "Balco Atlantico", der Abschluss von Jérôme Ferraris Korsika-Trilogie, Martin Walsers Roman "Die Inszenierung", Peter Handkes "Versuch über den Pilznarren", ein Fotoband von Ruth Marcus über "Männer und ihre Tiere" sowie das von Tom Hodgkinson und Dan Kieran herausgegebene "Buch der hundert Vergnügungen".

SZ, 07.09.2013

Auf der Meinungsseite kann Heribert Prantl das Gestöhne über den langweiligen Bundestagswahlkampf nicht mehr hören - schließlich gebe es nach den turbulenten vier Jahren Schwarzgelb doch einiges zu diskutieren. "Gar nichts ist langweilig. Langweilig ist nur das Gerede darüber."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh sieht in Venedig die letzten Filme aus dem Wettbewerb und hofft auf einen Darstellerpreis für Judi Dench. Gottfried Knapp freut sich über die Schenkung der Sammlung Goetz an Bayern, insbesondere über den großen Anteil zeitgenössischer Kunst, der damit unter den Fittichen des Freistaats ein neues Zuhause findet. Alexander Menden gratuliert dem Dramatiker Michael Frayn zum 80. Geburtstag. Reinhard J. Brembeck erinnert an den vor 400 Jahren gestorbenen Komponisten Carlo Gesualdo (auf Vimeo gibt es Werner Herzogs Fernsehdokumentation). Außerdem gibt es zwei Seiten zu den Urbanen Künsten Ruhr.

Für die Seite Drei hat sich Jochen Arntz mit dem Motorsport-Fotograf Werner Eisele getroffen. Die Medienseite bringt eine Reportage von Jürgen Schmieder über die Dreharbeiten der US-Serie "Sons of Anarchy".

Besprochen werden eine Ausstellung im Amsterdamer Stedelijk Museum mit Arbeiten von Kasimir Malewitsch aus den Sammlungen von George Costakis und Nikolay Khardziev, die Ausstellung "Die Wittelsbacher am Rhein" in Mannheim, Roland Emmerichs Actionthriller "White House Down", Elton Johns neues Album, und Bücher, darunter Sergej Lebedews Roman "Der Himmel auf ihren Schultern" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Die Wochenendbeilage bringt ein zehnseitiges Wahl-ABC.

FAZ, 07.09.2013

Der große Widerstand gegen die flächendeckende Überwachung bleibt zwar aus, aber die Autorin Juli Zeh stellt klar, dass dies keine Zustimmung bedeutet. Kein Mensch will Big Data, es fühlen sich nur alle völlig überfordert oder hilflos: "Das ist die fatale Konsequenz der Überwachungsaffäre: eine grassierende Selbstentmachtung von Bürgern und Politik. Dabei ist der Glaube, die Politik würde keine Gestaltungsräume mehr besitzen, schlicht falsch. So etwas behaupten Regierende, die bei ihrer Arbeit nicht vom Bürger gestört werden wollen, sowie Bürger, die Gründe für ihre politische Abstinenz brauchen. Selbstverständlich ist es möglich, Internetdienstleistern, die auf europäischem Boden agieren, eine Weitergabe von Kundendaten zu verbieten. Man kann dem BND untersagen, täglich im Durchschnitt zwanzig Millionen Telefonverbindungsdaten an die NSA zu übermitteln."

In der Glosse spießt Nils Minkmar Putins Sticheleien gegenüber Großbritannien auf, auf die David Cameron leicht unsouverän reagierte. Thomas Will möchte die Schönheit nicht gänzlich aus dem Diskurs um die Denkmalpflege ausschließen. Wiebke Hüster spricht im Interview mit dem britischen Komponisten Gavin Bryars.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Wittelsbacher am Rhein" im Museum Zeughaus und Barockschloss Mannheim, ein Gastkonzert von Christian Thielemann und der Staatskapelle Dresden in Braunschweig, Sven Regeners "Magical Mystery" und Terezia Moras neuer Roman "Das Ungeheuer" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie stellt Sandra Kerschbaumer Hans Magnus Enzensbergers Gedicht "Nürnberg 1935" vor:

"Damals warf im September die Sonne
sehr lange Schatten über die Wöhrder Wiese
..."