Heute in den Feuilletons

Dunkle Wortwälder von Wasserhexen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.08.2013. In der NZZ macht sich Leopold Federmair Sorgen: In Japan verschwindet der Sex. Die Welt hat nach Wacken einen kerzenlichtflackernden Melodic-Metal-Choral auf den Lippen. Spiegel, Spon und Spiegel-TV planen die Tageszeitung der Zukunft. In der taz fordert Bahman Nirumand von Iran neuem Präsidenten Hassan Rohani  eine liberalere Kulturpolitik. In der Nachtkritik entlarvt Dirk Pilz Botho Strauß als den Mehrheitsführer im Kulturbetrieb. Anna Battista führt in ihrem Blog in die Kunst des  Neurostricken ein. In der FAZ stellt Sadik J. Al-Azm klar: Nicht die Minderheiten sind in Syrien in Gefahr, sondern die Mehrheit.

NZZ, 05.08.2013

Ist Japan überzivilisiert? Der Autor und Übersetzer Leopold Federmair blickt besorgt auf die sinkenden Geburtenzahlen, die er sich eher mit sexueller Unlust der Japaner als mit ihrer Überarbeitung erklärt: "Außerdem fliehen die meisten in die Arbeit, wollen sich nicht der Lust oder der Nähe zum Nächsten überlassen. Für viele Männer bedeutet Lust Trinken in der Männerrunde oder Münzen in den Schlitz einer Maschine in einer lärmenden Pachinko-Halle werfen. Aus dem öffentlichen Bereich und von den Arbeitsplätzen ist Sinnlichkeit verbannt, die Vorsichtsmaßnahmen gegen sexuelle Belästigung, zu der es bei so viel Verbot und Selbstbeherrschung zwangsläufig kommt, haben hysterische Ausmaße."

Weiteres: Peter Hagmann hat sich die Inszenierung von Wagners "Meistersingern" und Verdis "Falstaff" angehört, die er selbst für Salzburger Verhältnisse recht konventionell findet. Auch Marc Zitzmann hat jetzt der Kulturhauptstadt Marseille einen Besuch abgestattet.

Spiegel Online, 05.08.2013

Der Spiegel plant medienübergreifend (Spon, Spiegel-TV, Print-Spiegel) eine ganz große Recherche zur Zukunft der Tageszeitungen. Cordt Schnibben eröffnet sie auf Spiegel Online mit einem persönlichen Bekenntnis: "Meine Art, mich jeden Tag zu informieren, hat sich in den letzten zwei Jahren stark verändert. War es sonst immer klar, mit der SZ anzufangen (Titelseite, Seite 3, Panorama, ein bisschen Wirtschaft, ein bisschen Kultur, Medien, Sport), dann taz (überall mal so reinschauen), dann FAZ (Wirtschaft, Feuilleton, Sport), ist es jetzt: Twitter, Facebook, Flipboard, Perlentaucher, taptu." (Seit zwei Jahren erst?) Die Aktion, die Ideen der Leser einschließen soll, soll zu einem Konzept für die Tagezeitung der Zukunft führen.

TAZ, 05.08.2013

Irans neuer Präsident Hassan Rohani muss seinen Reformwillen nicht nur in der Wirtschaft, sondern vor allem in der Kultur beweisen, meint Bahman Nirumand. Er rekapituliert, wie unter die Ahmadinedschad die Zensur so verschärft wurde, dass die Autoren schließlich selbst die problematischen Stellen aus ihren Werken streichen sollten: "Zahlreiche Bücher, die bereits einmal die Zensur überstanden hatten, erhielten für eine Neuauflage keine Genehmigung. Die Folge war, dass eine ganze Reihe unabhängiger Verlage geschlossen wurden und Autoren ihren Beruf aufgaben. Viele sind ins Exil gegangen und fristen ihr Dasein mit Sozialhilfe, nur wenige haben eine Möglichkeit, ihre Werke zu publizieren. Der Rest übte Selbstzensur. Das betraf auch die Zeitungen und Zeitschriften. Die Selbstzensur ist wie eine Seuche, die die Substanz der Literatur vernichtet."

Weiteres: Jonas Engelmann huldigt dem Singer-Songwriter Daniel Johnston, der gelegentlich auch seine eigenen Comics vertont. Rudolf Balmer wirft Francois Hollande vor, sein Versprechen, den Begriff "Rasse" aus der französischen Verfassung zu streichen, immer noch nicht eingelöst zu haben.

Besprochen werden die Schau "Auf Zeit" in der Kunsthalle Baden-Baden (links im Bild: Franz Ackermann, Installationansicht aus dem / installation view at Kunstmuseum Bonn, 2009. © Franz
Ackermann / Meyer Riegger, Karlsruhe), eine Berliner Ausstellung zu Heinrich Zille in der Villa Oppenheim und Daniel Everetts neuer Bericht vom Amazonas "Die größte Erfindung der Menschheit" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 05.08.2013

Spiegel Online-Redakteur Konrad Lischka stellt auf seinem Blog eine "Heatmap" der Auflagenverluste deutscher Tages- und Wochenzeitungen vor - je größer die Auflagenverluste, desto röter die Zahlen. An besten halten sich, wenig überraschend, die Wochenzeitungen: "Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung und Die Zeit sind erfolgreich. Wenn es etwas gibt, womit man Leser gewinnt, dann ist das offenbar diese intelligente Wohlfühl-Mischung. Das ist wenig empirisch, aber mein Eindruck, was die beiden gemeinsam haben: Sie stressen nicht." Dazu einen schönen Tee der Sorte "Harmonie und Ausgleich"!

Die Neurowissenschaften haben ein neues Feld: Neurostricken. Anna Battista erzählt in ihrem Blog, wie die Künstler Varvara Guljajeva und Mar Canet zusammen mit dem Wissenschaftler Sebastian Mealla ihr Neurostrick-Projekt entwickelten, bei dem Hirnaktivitäten in Strickmuster umgewandelt werden: "The process sounds pretty complicated, but a video clearly shows how it works: the brain impulses of a person listening to music (the 'Goldberg Variations' by Johann Bach in this case) are recorded via a non-invasive EEG headset onto a computer. The brainwaves are then converted into a graph that is later on transformed into a pattern reproduced on a scarf by a knitting machine controlled by the Knitic software. The designers measured relaxation, excitement, and cognitive load, translating these states into stitches and patterns."

Welt, 05.08.2013

Felix Mescoli hatte eine fabelhafte Zeit beim Metal-Festival in Wacken, wo er beim "epischen Schlaghosen-Metal" der schwedischen Doom-Metalband Candlemass mitsang: "bleischuhbeschwerte Tiefsee-Riffs untermalen einen himmelhochjauchzenden Faunengesang, dessen dunkle Wortwälder von Wasserhexen, Geisterkönigen und anderen mythischen Figuren bevölkert sind, die sich in den Facetten zauberkräftigen Christallkugeln spiegeln. Realitätsflucht Galore! Und ja, es ist ein erhebendes Gefühl, mit einem bierseligen Japaner und einem frenetischen Finnen Arm in Arm unterm schimmernden Sternenzelt einen kerzenlichtflackernden Melodic-Metal-Choral wie 'Solitude' zu singen. Auch das gibt es in Wacken. Immer noch."

Hier singen sie "Solitude" beim Sweden Rock Festival:



Weitere Artikel: Der ägyptische Autor Khaled al-Khamissi erzählt, wie man von Ägypten aus über Europa denkt. Mara Delius berichtet von einem Fall sexueller Belästigung an der University of Miami, der einiges Aufsehen erregte, weil es sich bei dem Belästiger um den Philosophieprofessor Colin McGinn handelt. In seiner Feuilleton-Kolumne findet es Marc Reichwein absurd, dass die FAZ 20 Jahre nach Erscheinen von Christian Krachts Roman "Faserland" gegen das Buch als Abiturlektüre feuert.

Besprochen wird eine Ausstellung über die frühen Jahren Theodor Fontanes und Walter Benjamins im Märkischen Museum Berlin (dort läuft übrigens auch gerade eine Ausstellung über die "Arisierung" jüdischen Grundeigentums im Berliner Stadtkern 1933-45) und Matthias Hartmanns Inszenierung von Nestroys "Lumpazivagabundus" in Salzburg.

nachtkritik, 05.08.2013

Auf der Nachtkritik antwortet Dirk Pilz auf Botho Strauß, der in seinem Spiegel-Essay in der vorigen Woche die Kultur wieder den Außenseitern - "Idioten" wie ihm, Hölderlin, Beckett und Emily Dickinson - überlassen haben wollte: "Ich wurde oft beschimpft und bedrängt, weil ich die anonyme Kommentarkultur auf nachtkritik.de mitverantworte. Das, so wurde und wird mir ... vorgehalten, liefere Kunst und Kunstkritik dem Pöbel aus. Der Plurimi-Faktor als Untergangsbeschleuniger: Wo es die Praktiken der Exklusion nicht mehr gibt, verschwinden Kunst, Kritik und Kultur. Das sagt Botho Strauß; er sagt es im Einklang mit jener inkludierten Kulturbetriebsmehrheit, die keine Gelegenheit auslässt, sich von der Online-Wirklichkeit beleidigt zu fühlen. Strauß ist nicht Idiot und nicht der Reaktionär, als der er sich (zu recht) missverstanden fühlt; er ist Wortführer jener plurimi, für die Online zum Synonym einer 'medialen Zunft' geworden ist, die nichts als 'Sprachlumpen' und Massenware produziert."

Weitere Medien, 05.08.2013

Das Bakelit-Telefon von Manufactum ist auch keine Lösung, meint Jospeh von Westphalen in seiner Kolumne für die Abenzeitung: "Wer Wert darauf legt, nicht von Geheimdiensten abgehört zu werden, sollte sich ein solches Telefon übrigens nicht bei Manufactum (perfekt nachgebaut, aber innen mit moderner Technik) kaufen, sondern beim Trödler. Nur das echte, alte, analoge Innenleben macht den digitalen, unsere Freiheit so rührend beschützenden Überwachern das Lauschen schwer."
Stichwörter: Manufactum

FAZ, 05.08.2013

Die Gegenwartsseite bringt eine Rede des bekannten syrischen Philosphen Sadik J. Al-Azm, der die Perspektive auf den syrischen Konflikt umdreht: "Den internationalen Diskurs über Syrien prägt primär die Sorge um den Schutz der Minderheiten: Christen, Kurden, Alawiten, Drusen, Ismailiten, Turkmenen, Tscherkessen und andere. Es ist jedoch die Mehrheit - nämlich die Sunniten -, die grausam getroffen wird von den Armeeeinheiten, den Milizen und den Scud-Raketen einer kleinen Minderheit, die über die absolute Macht und den gesamten Reichtum des Landes verfügt."

Im Feuilleton zieht Wolfgang Michal acht Wochen nach den Enthüllungen Edward Snowdens Bilanz. Die zentrale Frage, die sich für ihn stellt ist die der Souveränität: "Ist die Regierung nicht souverän, können die Bürger nicht nur die vom Bundesverfassungsgericht garantierte 'informationelle Selbstbestimmung' vergessen, auch die Totalüberwachung durch das Internet der Dinge ist dann ungehindert möglich."

Weitere Artikel: Günter Kowa freut sich über eine Entdeckung der Kunsthistorikerin Bettina Seyderhelm, die eine Altartafel aus der Dorfkirche von Pratau bei Wittenberg der Werkstatt Lukas Cranach des Älteren zuschreiben konnte.

Besprochen werden die Jubiläumsausstellung "Ihre Geschichte(n)" im Bonner Kunstverein (links im Bild: Suse Weber: Tanzschule für eine Marionette, 2010, Courtesy Galerie Barbara Weiss, Berlin, und die Künstlerin, Foto: Jens Ziehe), Stefan Herheims - laut Eleonore Büning erfrischend unpolitische - "Meistersinger"-Inszenierung in Salzburg mit indisponierten Wiener Philharmonikern, Wiederaufnahmen in Bayreuth, die Ausstellung "Faszination Nofretete" über den expressionierten Künstler Bernhard Hoetger und Ägypten" im Landesmuseum Hannover und Bücher, darunter Geert Maks Reisereportage "Amerika!" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 05.08.2013

Völlig fasziniert beobachtet Kristina Maidt-Zinke den Dirigenten Jean-Christophe Spinosi beim Barock-Festival in Beaune: "Hochspannung liegt in der Luft, Klänge blitzen auf, flirren, brennen ... Der Korse Spinosi gestikuliert, rockt, elektrisiert, springt vom Podium, um nachzulauschen, ist schon wieder oben, erklärt, schwärmt, feuert an und bringt auf den Punkt, was sich ereignete, als die Engel bei Nacht den Hirten erschienen: 'Le plus grand spectacle de l'histoire de l'humanité!'"

Hier dirigiert er allerdings Ravels "Bolero":



Weitere Artikel: Michaela Metz stellt den brasilianischen Lyriker Ricardo Domeneck vor, der gerade in Leipzig las (mehr samt Video hier). Thomas Steinfeld empfiehlt Rudolf Helmstetters Essay über die Begriffsgeschichte des Worts "Erfolg" (zu finden in der aktuellen Ausgabe des Merkur). Lothar Müller schreibt den reich bebilderten Nachruf auf Josef Darchinger, der mit seinen Fotografien viele Jahre lang Politik und Leben in der alten Bundesrepublik protokollierte. André Bosse staunt, dass Prefab Sprout ihr neues Album "Crimson/Red" zuerst bei Youtube hochgeladen haben.

Besprochen werden neue DVDs, eine Ausstellung über Reichtum im Hygienemuseum in Dresden, Stefan Herheims "Meistersinger"-Inszenierung bei den Salzburger Festspielen, Henry Masons Salzburger "Sommernachtstraum" und Bücher, darunter Nathanael Wests "Miss Lonelyhearts" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).