Heute in den Feuilletons

Wanderprediger des Grauens

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.07.2013. In der taz und in der FAZ lotet Ulrich Beck nach Prism das Freiheitsrisko aus. In der NZZ fragt Peter Glaser, ob sich die Revolution in 3D ausdrucken lässt. Zugleich stellt sich in der noch 2D gedruckten "Mega" heraus, dass Karl Marx an den Bewegungsgesetzen der Geschichte keine rechte Freude hatte. Die Welt analysiert die Symptome der Festivalitis. Die SZ zieht zu Prism und zu Cormac McCarthy rhetorisch die Magnum.

TAZ, 20.07.2013

Risikoforscher Ulrich Beck deutet im Gespräch mit Tim Caspar Boehme den Prism-Skandal auch als Krise nationalstaatlicher Institutionen: Zwar verfüge etwa Deutschland über zahlreiche Instanzen zum Schutz eines "vorbildlichen" Grundgesetztes, doch sind diese "durch diese Art globaler Kontrolle völlig unwirksam und unwirklich geworden, auf einen Schlag. Obwohl sie existieren, verfügen sie über keine politischen Mittel, um auf diese neuen Bedingungen angemessen zu reagieren. Das ist ganz bezeichnend bei globalen Risiken, dass erst einmal die nationalstaatlichen Institutionen, auch wenn sie funktionieren, angesichts dieser Gefahr nicht greifen und versagen. Das haben wir beim Klimawandel genauso wie bei der Finanzkrise und das sehen wir jetzt in neuer Weise auch bei diesem digitalen Freiheitsrisiko."

Außerdem: Jörn Kabisch ist völlig ratlos, warum sich so wenige Menschen über die Prism-Spähaktionen aufregen. Der ungarische Schriftsteller Peter Esterházy reagiert auf Stichwort-Zuruf (auf "Studium der Mathematik" etwa mit "Ich habe ziemlich intelligent nichts verstanden."). Theodora Mavropoulos berichtet vom Anstieg der rechten Gewalt in Griechenland.

Besprochen werden die Ausstellung "Michelangelo schultern" im Bremer Marcks Haus (Bild: Emma Critchley, Figures of Speech series 2, No. 3), die Ausstellung "Slapstick!" im Kunstmuseum Wolfsburg, das neue Album von Mavis Staples (hier zuletzt in der Daily Show) und Bücher, darunter Sam Millars "viehischer" Krimi "Die Bestien von Belfast", mit dem sich Katharina Granzin keineswegs im Bett einkuscheln will (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

NZZ, 20.07.2013

Bringen 3-D-Drucker tatsächlich die von Interneteuphorikern wie Chris Anderson prognostizierte Revolution, fragt Peter Glaser und führt auch einige skeptische Stimmen an: "Die Verheißung lautet: Die Masse erobert sich die Produktionsmittel zurück, Designer können ihre Produkte selbst vermarkten, und Kleinserien sollen zu einer Blüte von Nischenmärkten führen." Selbst das Postwesen würde revolutioniert. Allerdings: "Jeder 3-D-Drucker würde also mit den verbliebenen Arbeitern in der herkömmlichen Produktion konkurrieren und massiv Druck auf Löhne und Preise ausüben." (Bild: 3D-Sonnenbrille von Ron Arad, via dezeen.)

Weitere Artikel: Rolf Urs Ringger bleibt für die gleichnamige Kollume "Schlaflos". Andreas Kilcher erinnert an den Journalisten und Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin (beziehungsweise Fritz Rosenthal), der vor hundert Jahren geboren wurde. Marc Zitzmann schreibt den Nachruf auf den französischen Autor Henri Alleg.

Besprochen werden Opern in Bregenz, Inszenierungen in Avignon und David Marksons Romanexperiment "Wittgensteins Mätresse".

Lange Zeit waren Marx' Werke ein "Ich sehe was, was du nicht siehst" (nämlich die Bewegungsgesetze der Geschichte, für die man nur das "Kapital" lesen musste), so Helmut König in Literatur und Kunst. Nun leistet ausgerechnet die monumentale Marx-Engels-Ausgabe (Mega) "ein Stück grandioser Aufklärung und Entheroisierung" - unter anderem stellt sich heraus, dass das "Kapital", die Heilige Schrift, in weiten Stücken von Engels aus Stückwerk kompiliert wurde. "Sichtbar wird hier ein Marx, der an seinem Hauptwerk keine Freude hatte und der deswegen auch keinen ernsthaften Ehrgeiz zu dessen Vollendung an den Tag legte."

Außerdem unterhält sich Ulf Meyer mit dem Architekten Jacques Herzog von Herzog und de Meuron, der ausgerechnet für ein das Stadtbild dominierendes Hochhausprojekt in seiner Heimatstadt Basel (Bilder) arg kritisiert wird. Georg Renöckl empfiehlt die Krimis der franzöischen Autorin Dominique Manotti. Tom Schoper porträtiert den Bündner Architekt Valerio Olgiati.

Welt, 20.07.2013

Festivalitis. Wer nicht nach Bayreuth kann, dem winken als Alternative "die berühmten 'Raritäten der Klaviermusik' in Husum". Und Manuel Brug sagt auf der Forumsseite ein paar unbequeme Wahrheiten: "Ohne den regulären, hoch subventionierten Betrieb, der die Künstler heranzüchtet, die Kollektive unterhält, gäbe es keine Festivalsaison. Eine Institution wie das Festspielhaus Baden-Baden wird zwar direkt kaum subventioniert, aber seine Starviolinistinnen und Sopranprimadonnen sind anderswo groß geworden. Hier schöpfen sie nur in meist risikolosen Programmen den Rahm ihrer Existenz ab."

Fürs Feuilleton beobachtet Marc Reichwein den Hitlergrußprozess gegen Jonathan Meese. Marko Martin erinnert an den Religionswissenschaftler Schalom Ben-Chorin beziehungsweise Fritz Rosenthal, der vor hundert Jahren geboren wurde. Der in Stanford lehrende Germanist Adrian Daub fährt Bahn im Silicon Valley. Manuel Brug geht mit Lubitsch-Tochter Nicola Lubitsch im Lubitsch essen.

Besprochen werden die Uraufführung des veroperten "Kaufmanns von Venedig" des Polen André Tchaikowsky in Bregenz und venezianische Ausstellungen über Glas in der Kunst in den Stanze del Vetro und im Palazzo Cavalli Franchetti & Berengo Centre for Contemporary Glass and Art Murano (links im Bild "Geister" von Thomas Schütte).

In der Literarischen Welt kommentiert Ruth Klüger ihre eigenen Gedichte - ein Tabubruch, wie sie gesteht. Dabei tut sie das schon in ihren Gedichten selbst, wie ein nebenstehendes Gedicht über die "deutsche Sprache" zeigt:

"(…) In diesen Lauten löst sich nun die schmale,
die Kinderstimme, die klug-schlau das Leiden
in Verse stülpte, wie in eine Schale..."

Außerdem liest Dana Buchzik Katharina Hartwells "kühnes" Debüt "Das fremde Meer". Wolfram Wette fragt in einem Essay zum 20. Juli nach dem Handlunsspielraum einfacher Soldaten. Richard Kämmerlings empfiehlt Peter Stamms neuen Roman "Nacht ist der Tag". Besprochen werden außerdem Andreas Platthaus' Studie "1813 - Die Völkerschlacht und das Ende der Alten Welt" und eine Höredition des "Ulysses".

Weitere Medien, 20.07.2013

Joseph von Westphalen kann sich keine Straßennamen merken, schreibt er im Abendblatt. Ist aber nicht schlimm: "Noch peinlicher als ein schlechtes Namensgedächtnis ist die Unfähigkeit, sich Gesichter zu merken. Diese Schwäche hat wenigsten einen hübschen Namen: Prosopagnosie. Wer darunter leidet, lächelt wahllos alte Bekannte oder wildfremde Leute an, weil er sich nicht anmerken lassen will, dass er die Leute nicht zuordnen kann. Dagegen ist Straßennamenahnungslosigkeit harmlos."

FAZ, 20.07.2013

Im Aufmacher feiert Tilman Spreckelsen eines der für ihn besten Jugendbücher der letzten Jahre, "43 Gründe, warum es aus ist" des amerikanischen Autors Daniel Handler und der Illustratorin Maia Kalman - ein Mädchen schreibt darin einen langen Brief an ihren ersten Freund und erklärt, warum sie Schluss macht (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr). Hier singen die beiden Autoren ein Loblied auf die Bibliotheken:



Weitere Artikel: Ulrich Beck fürchtet im Interview, dass die Institutionen des Rechtsstaats beim Datenschutz versagen. Nils Minkmar klagt über eine ihre Bürger infantilisierende Politik. Harald Welzer setzt seine Reihe zur nachhaltigen Zukunft mit der Erzählung über ein satirisches Immobilienprojekt in München fort, das die Verhältnisse zur Kenntlichkeit entstellt. Ulf Meyer begeht eine neue Kunstbibliothek des Architekten Sou Fujimoto in Tokyo (Bilder und Video hier).

Besprochen werden die Ausstellung "The Civil War and American Art" im Metropolitan Museum und natürlich Bücher, darunter Peter Stamms neuer Roman "Nacht ist der Tag".

SZ, 20.07.2013

In der SZ am Wochende betreibt Heribert Prantl rhetorische Höhlengrabungen, um nach dem Prism-Skandal unter Tage den Zustand des Grundgesetzes zu eruieren. Sein Arbeitsbericht: "Der Boden des Grundgesetzes verliert seine Stabilität. Die Statik des deutschen Rechtsstaats, der auf diesem Boden errichtet wurde, wankt. Die Tektonik der Verfassung bricht. Die Sicherheit der Menschen im Recht leidet, die Geborgenheit im Rechtsstaat geht verloren."

Im Feuilleton geht's ähnlich dramatisch zu. Cormac McCarthy wird 80 Jahre alt. Christopher Schmidt führt aus diesem Anlass durch das Werk des Autors und schwingt sich bei dieser Würdigung glatt zum Hohepriester einer ziemlich düsteren Messe auf: "McCarthys Epik gleicht einem eisigen Sengstrahl, von archaischer Wucht sind seine ausufernden Landschaftsschilderungen. (...) McCarthys Sound ist der psalmodierende, schwere Gesang eines Wanderpredigers des Grauens. Die Dialoge, stark dialektal geprägt vom southern drawl, zeugen vom verkümmerten Innenleben der Figuren - naturalistischen Verismus hat man das genannt - und stehen in schroffem Gegensatz zur elaborierten Sprache der Beschreibungen, diesem gleißenden Tableau einer ins Mythische überhöhten Leere." Dabei ist heute so ein schönes Wetter.

Weitere Artikel: Alexander Menden berichtet vom Manchester International Festival, bei dem er sich unter anderem von Willem Dafoes Qualitäten als Theaterschauspieler überzeugen ließ. Alex Rühle resümiert das Indische Filmfestival in Stuttgart, wo ihm die beiden Filme "Filmistaan" und "Shahid" besonders gut gefallen haben. Außerdem erklären die SZ-Redakteure auf zwei Seiten ihre Liebe zu den Mittelmeerländern Italien, Spanien, Griechenland und Frankreich.

Die Emmy-Nominierungen für die von der Onlinevideothek Netflix produzierten Serie "House of Cards" schicken "Schockwellen" durch den klassischen Fernsehbetrieb, schreibt Katharina Riehl auf der Medienseite. Sie sieht eine "jahrelang geltende Gewissheit gebrochen. Dass das Netz die Inhalte auffängt, die von den klassischen Medien, den Fernsehsendern und Filmstudios, hergestellt wurden. Plötzlich hat der Internetdienst seine eigenen Inhalte. Und er ist der größte Anbieter dieser Art in den USA, größer als Hulu - und derzeit mit mehr US-Abonnenten als der Paysender HBO."

Besprochen werden die aus Fanvideos zusammengestellte Dokumentation "Springsteen and I", die am 22.7. einmalig in 90 deutschen Kinos zu sehen ist, zwei in Bregenz aufgeführte Opern, das gerade frisch indizierte Shindy- und Bushido-Album "NWA" und Bücher, darunter gesammelte Interviews mit Peter Sloterdijk (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).