Heute in den Feuilletons

Das ganz Ferne steht glasklar da

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.07.2013. Die taz stellt fest, dass es Hollywood-Filme sind, die uns längst an die Idee der Totalüberwachung gewöhnt haben. Der Guardian erklärt in diesem Zusammenhang, was der Begriff  "Three-Hop-Queries" bedeutet. Thomas Stadler empfiehlt in Internet-Law ein Nachdenken über den Sinn von Geheimdiensten in Demokratien. In der NZZ erklärt Urs Widmer, warum er sich in seinen Memoiren auf die ersten dreißig Jahre beschränkt. Und in der Zeit verabschiedet sich Boris Groys vom Internet als einem Raum der Freiheit: Willkommen in der erweiterten Kampfzone.

Spiegel Online, 18.07.2013

Ein Gericht in Kirow hat den russischen Oppositionspolitiker und Blogger Alexej Nawalny in einem höchst umstrittenen Prozess wegen Veruntreuung schuldig gesprochen, informiert uns eine Meldung bei Spiegel online. Er soll eine staatliche Holzfirma um etwa 400.000 Euro betrogen haben, das Strafmaß ist noch nicht festgelegt. Nawalny wollte für das Amt des Moskauer Bürgermeisters kandidiere. "Bürgerrechts-Legende Ljudmila Alexejewa sprach von einem 'politischen Prozess, um Nawalnys politische Karriere zu beenden'. ... In Moskau warnten die Behörden vor möglichen Protesten der Opposition gegen einen Schuldspruch. Es gebe keine Genehmigung dafür, hieß es."

Aus den Blogs, 18.07.2013

(Via Global Voices) Die sehr nützliche Website The Interpreter, die wichtige Artikel aus dem Russischen übersetzt, bringt Alexej Nawalnys letzten und hochemotionalen Blogpost vor seiner Verurteilung. Er wendet sich an jeden einzelnen in seinem Publikum: "No one is in a position to resist stronger than you. It is your duty to the rest, if you realize it; it is the sort of thing that it is impossible to delegate to someone else. There is no one else, except you. If you are reading this, then you are in fact the resistance."

(Via Carta) Thomas Stadler fordert in seinem Blog Internet-Law ein Nachdenken über den Sinn von Geheimdiensten in Demokratien: "Die Geheimdienste haben ein rechtsstaatliches Paralleluniversum begründet, das sich mit den Schlagworten 'Staat im Staate' oder 'Deep State' umschreiben lässt. Also genau das, was in einem freiheitlich-demokratischen Staat nie passieren darf, ist geschehen. Es haben sich mächtige Organisationen etabliert, die unzureichend demokratisch kontrolliert werden und die ein erstaunliches Eigenleben führen können."

Im neuesten Machtdose-Podcast präsentiert Roland Graffé seine neuesten Trouvaillen aus der Welt der freien Netzmusik.

Weitere Medien, 18.07.2013

Auch die Amerikaner müssen damit rechnen von der NSA abgehört zu werden. So ist die NSA in den USA fähig zu sogenannten "three-hop queries", wie eine Handvoll Kongressabgeordnete erfahren musste. Spencer Ackerman erklärt den Begriff im Guardian so: "'Hops' refers to a technical term indicating connections between people. A three-hop query means that the NSA can look at data not only from a suspected terrorist, but from everyone that suspect communicated with, and then from everyone those people communicated with, and then from everyone all of those people communicated with."
Stichwörter: Guardian, NSA, USA, Referenden, Thonet

TAZ, 18.07.2013

Auf den vorderen Seiten meint Thomas Drake, Whistleblower und Ex-NSA-Analyst, im Interview, dass der BND enger mit der NSA zusammenarbeitet, als wir es uns vorstellen: "Ich bin seit fast sechs Jahren aus dem NSA raus. Ich kann nur nahelegen, dass es geheime Absprachen gibt. Und Sie sehen ja selbst das außergewöhnliche Unbehagen der deutschen Regierung. Sie haben in Deutschland ein Schatten-Überwachungssystem." Warum es keine Whistleblower im BND gibt, erklärt er sich so: "Das müsste jemand sein, der bereit ist, dieselben Risiken einzugehen wie Snowden und ich. Wenn Sie ein Whistleblower werden, geht die Regierung gegen Sie vor. In meinem Fall hat die Regierung mein Leben, meine Familie, meine Freunde zerstört. Das meiste von alldem ist nie öffentlich geworden."

Im Kulturteil denkt Bert Rebhandl darüber nach, inwiefern das Hollywoodkino die Datensammelwut à la NSA geahnt haben könnte, und kommt zu dem Schluss, die neuen Superheldenfilme gewöhnten uns schon mal daran, dass im Ernstfall alle Informationen an einer zentralen Stelle zusammenfließen: "In 'Pacific Rim' ist dieses Wunschbild zu einer Art holografischer Induktionsstation weiterentwickelt worden, auf die jederzeit jede beliebige Information geholt werden kann. Der allwissende Staat, der hier schon zu einer allwissenden, hegemonial bestimmten Weltgesellschaft weitergedacht ist, verflüchtigt sich geradezu in eine Cloud, aus der heraus keine politischen Entscheidungen mehr kommen, schon gar keine irgendwie legitimierten, sondern nur noch die Daten, die es zur Ausübung der Heldenfunktion braucht."

Weitere Artikel: Jenni Zylka unterhält sich mit dem amerikanischen Regisseur Zal Batmanglij über seinen Post-Occupy-Thriller "The East", in dem eine Öko-Terroristenvereinigung Anschläge auf korrupte Konzerne verübt. Brigitte Werneburg erklärt, weshalb der Künstler Jonathan Meese wegen des Verwendens von "Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen" heute in Kassel vor Gericht steht. Ophelia Abeler schreibt in ihrer New York-Kolumne über das einträgliche Geschäft mit Immobilien für Stadtflüchter auf Long Island. Anja Maier berichtet über die Präsentation von Hans-Olaf Henkels aktueller "Schmähschrift" namens "Die Euro-Lügner".

Besprochen werden Nicolas Winding Refns Thriller "Only God Forgives", der Film "Just the Wind" von Bence Fliegauf über eine Roma-Familie in Ungarn und die Ausstellung "Paper Weight" im Münchner Haus der Kunst, die 15 stilbildende unabhängige Magazine zeigt, darunter etwa das New Yorker Magazin White Zinfandel.

Und Tom.

Perlentaucher, 18.07.2013

Jochen Werner schwebt nach Adam Sandlers neuer Komödie "Kindsköpfe 2" im 7. Kinohimmel: "Es gibt hier keine Fesseln mehr: keine vorgetäuschte Absicht, irgendetwas erzählen zu wollen oder müssen, kein Zwang zu einer Struktur, die mehr sein wollte als ein bloßes Fließen von einem Ereignis zum nächsten, das sich nicht notwendig aus dem ersteren ergeben muss, kein Drang, irgendetwas zu entwickeln oder irgendwie anders zu sein als einfach nur: da. 'Kindsköpfe 2', das ist durch und durch modernes Kino". Von Guillermo del Toros Riesenmonster/Riesenroboter-Fantasie "Pacific Rim" war unser Kritiker Thomas Groh unterdessen höchstens halb begeistert: "Glück und Enttäuschung liegen dicht beisammen. Nur Regisseur Del Toro, der hier nach zwei abgebrochenen Projekten seinen ersten Film seit fünf Jahren vorlegt, nur Del Toro droht unter Robot-Hydraulik und Monsterschwarte verschüttet zu werden."

Welt, 18.07.2013

Michael Pilz erinnert sich an das Bruce-Springsteen-Konzert in Ost-Berlin vor 25 Jahren, das heute fast als ein Auftakt zum Wendejahr erscheint. Er weiß auch noch, was Springsteen auf Deutsch zum DDR-Publikum sagte: "'Es ist schön, in Ostberlin zu sein. Ich bin nicht für oder gegen eine Regierung. Ich bin gekommen, um Rock'n'Roll für euch zu spielen.' Springsteen fügte noch hinzu: 'In der Hoffnung, dass eines Tages alle Barrieren umgerissen werden.' Für eine barrierefreie Welt. Ein Diplomat in Lederweste."

Weitere Artikel: Holger Ehling sieht die Preispolitik von Amazon Deutschland bei Ebooks als Kampfansage.

Besprochen werden Filme, darunter Nicolas Winding Refns Gewaltorige "Only God Forgives" mit dem schönen Ryan Gosling, der Film "Csak a Szél" (Nur der Wind) des Ungarn Bence Fliegauf, der vor anderthalb Jahren auf der Berlinale lief und die Situation der Roma in Ungarn beleuchtet und Guillermo del Toros Monsterparade "Pacific Rim".

Freitag, 18.07.2013

Heute steht Jonathan Meese vor Gericht, weil er bei einer Veranstaltung zum Thema "Größenwahn in der Kunst" den Hitlergruß gezeigt hat. Zu seiner Verteidigung will er sich - wie Bushido - auf die Freiheit der Kunst berufen, berichtet Lennart Laberenz, den das kalt lässt: "Wenn Meese hitlergrüßend durch die Gegend läuft und der fleischgewordene Integrationsbambi Bushido aus dem Wohlstandsgetto Grunewald ein durchaus langweiliges Musikvideo produziert, kann man sie leider nicht wegen intellektuell mangelhafter Leistung vor den Kadi stellen. Man kann allerdings beobachten, wie nett sich die Aufmerksamkeitsparasiten in den Milieus der Kunstindustrie eingerichtet haben. Ob hinterher eine Geldstrafe herauskommt, ist da kaum mehr als eine Fußnote."

Außerdem: Robert Misik empfiehlt Colin Crouchs neues Buch "Jenseits des Neoliberalismus". Und Katharina Teutsch plaudert mit dem scheidenden - Sebastian Kleinschmidt - und neuen - Matthias Weichelt - Chefredakteur von Sinn und Form über Vergangenheit und Zukunft der Zeitschrift.

NZZ, 18.07.2013

Der Schriftsteller Urs Widmer berichtet in einem Essay über die Arbeit an seiner im August erscheinenden Autobiografie und erklärt, weshalb er sich darin auf seine ersten dreißig Jahre beschränkt: "Meine späteren Jahre, von 1968 bis heute, sind in mir viel diffuser aufbewahrt. Ich verwechsle ganze Jahrzehnte! Das Gedächtnis ist ein seltsames Ding: Das ganz Ferne steht glasklar da, voll ausgeleuchtet, und das Nahe ist von so viel Nebel umgeben, dass es öfter als oft gänzlich unsichtbar wird."

Weiteres: Die seit zwei Jahren auch in der marokkanischen Verfassung als Teil der nationalen Identität anerkannte Berberkultur gewinnt an Ansehen und Sichtbarkeit, beobachtet Astrid Kaminski. Sibilla Bondolfi referiert die Geschichte des jiddischsprachigen Films und würdigt die Arbeit des National Center for Jewish Film in Boston, das sich um die Erhaltung dieser weitgehend vergessenen Kinokultur bemüht.

Besprochen werden Stephan Lacants Spielfilmdebüt "Freier Fall" und Bücher, darunter Christoph Buchs Roman (Leseprobe) "Baron Samstag oder das Leben nach dem Tod" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 18.07.2013

Mit Prism und dem Datenhunger der sozialen Netzwerke sieht Yvonne Hofstetter, Geschäftsführerin der auf Datenanalyse spezialisierten Firma "Teramark Technologies", ein neues Zeitalter heraufdämmern, in dem Datenströme nicht nur erfasst, sondern regulierend und prognostisch eingesetzt werden. Sie plädiert für einen international greifenden Datenschutz: "Dabei sollte sich der Blick nicht nur auf das Verhältnis Staat/Bürger richten. Eine Regulierung insbesondere auch der Privatunternehmen, die in großem Stil unsere digitalen Fußspuren aufzeichnen und auswerten, ist nicht weniger dringend. Die Vorstellung, dass ein globales privatwirtschaftliches Unternehmen für sich beanspruchen könnte, die 'bessere Demokratie' zu sein, weil es aufgrund unserer tagesaktuellen Daten schließlich am besten wisse, was das Volk will und denkt, ist so gruselig, dass wir nicht mehr einen einzigen Tag verlieren sollten."

Weiteres: Bert Rebhandl porträtiert den Schauspieler Ryan Gosling, dessen Karriere ihn mit seinem neuen Film "Only God Forgives" endgültig auf bestimmte Genres festzulegen droht. Kerstin Holm liefert Hintergründe zur umstrittenen Reform der Russischen Akademie der Wissenschaften. Ursula Scheer besucht eine Tagung über Frauen im Digitalzeitalter. Dieter Bartetzko ärgert sich grün und blau über den Umgang der Stadt Frankfurt mit ihrem architektonischen Altstadt-Erbe. Tobias Rüther erlebt in Berlin beim Konzert von Vampire Weekend einen anderthalbstündigen "Popsommer". Knapp sechs Minuten davon gibt es auf Youtube:



Besprochen werden die Ausstellung "Heimsuchung" im Bonner Kunstmuseum und Bücher, darunter Sabine Peters' Roman "Narrengarten" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 18.07.2013

Der ökonomische Duktus in den neuen Richtlinien der europäischen Kulturförderung steht zwar zu Recht in der Kritik, meint Eva Mackensen, doch sieht sie darin auch eine Strategie, um Schlimmeres abzuwenden: "Möglicherweise bewahrt er den Kultursektor vor massiven Kürzungen der EU-Fördermittel. Nur wenn betont wird, dass Kultur auch ein Wirtschaftsfaktor ist, dass sie Arbeitsplätze schafft und Anteil am Bruttoinlandsprodukt hat, lässt sich Kulturförderung als ökonomisch sinnvolle Maßnahme rechtfertigen. Gelder zur Kulturförderung aber künftig danach zu vergeben, ob die geförderten Projekte wirtschaftlich effizient sind und ein breites Publikum ansprechen, ginge auf Kosten von Europas kultureller Vielfalt."

Weitere Artikel: Fassungslos schildert Hubert Wetzel die Hintergründe zweier Notwehrfälle in Florida, bei denen eine schwarze Angeklagte zu 20 Jahren Haft verurteilt, ein weißer Angeklagte aber freigesprochen wurde. Die empfindlichen Verzögerungen beim Wiederaufbau des Kölner Stadtarchivs belasten nicht nur das Budget der Stadt, sondern vor allem auch die Archive im ganzen Bundesgebiet, die Kölner Archivalien bei sich untegebracht haben, berichtet Bernd Dörries. Lothar Müller gratuliert dem Dichter Jewgeni Jewtuschenko zum 80. Geburtstag.

Besprochen werden Bence Fliegaufs Film "Just the Wind", der Ökoaktivisten-Thriller "The East", eine Ausstellung mit Arbeiten von Birgit Brenner in der Kunsthalle Tübingen, das Berliner Konzert von Vampire Weekend (Joachim Hentschel genießt "die oft verkannte Unbeschwertheit, die im Intellektuellen auch liegen kann") und Bücher, darunter Heinrich Steinfests Roman "Das himmlische Kind" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 18.07.2013

Aus der Überwachungsdebatte, die Edward Snowden mit seinen Enthüllungen losgetreten hat, hält sich die Bundesregierung weitgehend raus, meint Heinrich Wefing im Aufmacher der Zeit und konstatiert: "Die Politik ist von der Technik abgehängt worden - ökonomisch, juristisch und intellektuell." Josef Joffe hofft in seinem Kommentar auf ein Bündnis von Amerikanern und Europäern gegen die NSA-Schnüffelei, denn "in Wahrheit ist dieser Kampf keiner zwischen dem gekränkten Europa und dem hochfahrenden Amerika, sondern ein gemeinsamer zwischen den Freiheitsfreunden und den Hightech-Autoritäten."

Im Feuilleton sieht der Medientheoretiker Boris Groys mit den aktuellen Entwicklungen eine Dynamik in Gang gesetzt, die "letztendlich zur Abschaffung des Internets in seiner jetzigen Form" führen wird: "Aus dem friedlichen Ort der weltweit frei fließenden Kommunikation wird das Internet endgültig zur erweiterten Kampfzone."

Weitere Artikel: "Ich denke, dass die Entwicklung des menschlichen Intellekts in Verbindung mit neuen Technologien uns in Kontakt mit einer tieferen Menschlichkeit bringen könnte", verkündet Matt Damon im Interview mit Katja Nicodemus. Hanno Rauterberg hat das Örtchen Buffdale in Utah besucht, in dem die NSA gerade ihr gigantisches Speicherzentrum Data City errichtet. Ijoma Mangold unterhält sich mit Karl Heinz Bohrer über die Verschwörer des 20. Juli. Bushido kämpft bloß gegen seine "Verborisbeckerisierung" an, beschwichtigt Iris Radisch. Gert Kähler schildert die Auswirkungen des demografischen Wandels auf Nordfriesland.

Besprochen werden der Film "Just the Wind" von Bence Fliegauf über den Mord an einer Roma-Familie, neue CDs von Bill Frisell und The Elwins, die DVD von Jacques Rivettes Dreizehnstünder "Out 1 - Noli me tangere" und Bücher, darunter Edgar Wolfrums Bilanz von "Rot-Grün an der Macht" (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

Im Wirtschaftsteil äußert Wirtschaftsweisen-Chef Christoph Schmidt Skepsis an Angela Merkels Ankündigung, durch gezielte Industriepolitik die deutsche IT-Branche auf Weltniveau zu hieven. Apropos Weltniveau: Simon Heinrich schildert den Fall dreier Gemeinden in der Eifel, deren Bewohner den Ausbau ihrer Internetleitungen selbst in die Hand nehmen. Die Übertragungsgeschwindigkeit beträgt dort, wie in vielen anderen ländlichen Gebieten, ein Viertel von der Guatemalas, informiert eine Infografik. In der Zeit im Osten erklärt Burkhard Müller, weshalb Ostdeutschland als Drehort für Hollywood-Filme Konjunktur hat, und Anne Hähnig listet 50 Mythen auf, die George Clooney ebendort während der Dreharbeiten an seinem Film "The Monument Men" generiert hat.