Heute in den Feuilletons

Weitere Aspekte der Neuigkeit

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
09.07.2013. In der Washington Post versteht Amerikas berühmtester Whistleblower, Daniel Ellsberg, sehr gut, warum Edward Snowden Amerika verließ. Der Guardian bringt neue Auszüge aus dem Snowden-Interview. Das Wall Street Journal erzählt, wie das FISA-Geheimgericht das Wörtchen "relevant" neu definierte. Die NZZ durfte die Google-Datenbrille leider nicht aufsetzen. In der FAZ attackiert Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Rotgrünen, die von Vorratsdatenspeicherung träumen.

Weitere Medien, 09.07.2013

Amerikas berühmtester Whistlebower, Daniel Ellsberg, der einst die "Pentagon Papers" enthüllte, tritt in der Washington Post Edward Snowden zur Seite. Ellsberg hatte seine Sache unter Nixon noch in den USA verfechten können - aber er hat größtes Verständnis dafür, dass Snowden das Weite suchte: "The country I stayed in was a different America, a long time ago... I hope Snowden's revelations will spark a movement to rescue our democracy, but he could not be part of that movement had he stayed here... He would almost certainly be confined in total isolation, even longer than the more than eight months Manning suffered during his three years of imprisonment before his trial began recently."

Snowden hat Asyl in Venezuela Asyl beantragt, meldet Spiegel Online.

Glenn Greenwald, Laura Poitras und Ewen MacAskill präsentieren auf der Website des Guardian einen neuen Auszug aus einem Anfang Juni geführten Videointerview mit Edward Snoden, der erklärt, warum er nicht in den USA geblieben ist. Er sagt auch die Reaktionen der amerikanischen Regierung voraus: "I think they are going to say I have committed grave crimes, I have violated the Espionage Act. They are going to say I have aided our enemies in making them aware of these systems. But this argument can be made against anyone who reveals information that points out mass surveillance systems."

Zwei Reporter des Wall Street Journal haben herausgefunden, dass die NSA die Telefongespräche von Millionen Amerikanern abhören darf, seit das Geheimgericht FISA das Wörtchen "relevant" umdefinierte: "In classified orders starting in the mid-2000s, the court accepted that 'relevant' could be broadened to permit an entire database of records on millions of people, in contrast to a more conservative interpretation widely applied in criminal cases, in which only some of those records would likely be allowed, according to people familiar with the ruling."

Der FISA Court ist inzwischen eine Art geheimer Neben-Supreme-Court, der eine Reihe von Geheimgesetzen geformt hat, schreibt Eric Lichtblau in der New York Times. "In one of the court's most important decisions, the judges have expanded the use in terrorism cases of a legal principle known as the 'special needs' doctrine and carved out an exception to the Fourth Amendment's requirement of a warrant for searches and seizures, the officials said. The special needs doctrine was originally established in 1989 by the Supreme Court in a ruling allowing the drug testing of railway workers, finding that a minimal intrusion on privacy was justified by the government's need to combat an overriding public danger. Applying that concept more broadly, the FISA judges have ruled that the N.S.A.'s collection and examination of Americans' communications data to track possible terrorists does not run afoul of the Fourth Amendment, the officials said."

Und die Washington Post erklärt in einem ausführlichen Artikel, wie die amerikanische Regierung Telekom-Firmen zwingt, Überwachungsmöglichkeiten für Telefongespräche weltweit einzurichten.

Die EU wird kaum gegen die Überwachungsmaßnahmen protestieren, fürchtet in Open Democracy Ben Hayes nach den mehr als laschen Reaktionen im Jahr 2000 auf die Bekanntwerdung des Echelon-Spionagesystems. Er setzt seine Hoffnungen auf Deutschland: "It is the only EU member state where the public anger is at palpable levels and where the Federal Prosecutors Office is reportedly considering criminal charges (to be fair Italy has a better track record than most in holding US intelligence agencies to account for their misdeeds, but its fragile coalition government surely lacks the appetite for a new fight with the US administration). The German civil liberties movement has made great strides in recent years as those in many other countries have waned; only if it can elicit a meaningful domestic response is there any hope that the rest of the EU might take a meaningful stand, never mind reach for their once cherished human rights conventions."

TAZ, 09.07.2013

Tim Caspar Boehme war auf dem Copenhagen Jazz Festivals. Julia Grosse beobachtet den erschütternden Distinktionsverlust des Single-Status. Jörg Sundermeier mokiert sich über die Empörung in Sachen Tempora und Prism, die ihm zu einseitig, zu naiv und zu antiamerikanisch ist, wobei man leider nicht erfährt, gegen wen sich seine Kritik richtet.

Besprochen werden die Ausstellung "Overdrive, L.A. constructs the future 1940-1990" im Getty Center und die "Moses"-Inszenierung in Oberammergau, bei der Sabine Leucht wieder die Volksmassen zu "bildschönen Arrangements" gruppiert fand.

Und Tom.

Welt, 09.07.2013

Der Autor und Neurologe Oliver Sacks gratuliert sich selbst zum Geburtstag: "Achtzig! Ich kann es kaum glauben."

Besprochen werden Peter Konwitschnys Inszenierung von Verdis Oper "Attila" als Farce am Theater an der Wien, Martin Schläpfers Choreografie "b .16" an der Deutschen Oper am Rhein und ein "Macbeth" in Manchester mit Kenneth Branagh in der Hauptrolle.

Aus den Blogs, 09.07.2013

Marcel Weiß von neunetz.com und Perlentaucherin Anja Seeliger unterhalten sich über Datagate:



Tina Brown schreibt in The Daily Beast zur Scheidung von Rupert Murdoch (und die nagelneuen Gattinnen von Leonard Lauder und George Soros): "Except for the age of the newly single men on the dating market-80 is the new 55-it is astonishing to see how nothing has changed in the social dynamics of divorce. The ease with which the Viagra set can find themselves a younger wife, compared to women of the same age (or even 20 years younger), remains the same since the William Howard Taft era."

Das Geheimgericht FISA hat nun auch begonnen, über Twitter zu kommunizieren:


NZZ, 09.07.2013

Seit Monaten lässt Google seine Datenbrille auf Youtube und von Bloggern feiern, erzählt Stefan Betschon, aber als er Google-Glass ausprobieren wollte, wurde ihm beschieden, dass das Produkt noch gar nicht angekündigt sei. Für Betschon ein typischer Fall der neuen Halbinformation, mit der vor allem Google und Apple nicht mehr kommunizieren, sondern "zum Spekulieren anregen": "Man lässt eine Neuigkeit in Blogs von Mitarbeitern aufscheinen, man macht eine kleine Schar von ausgewählten Kommunikatoren mit einzelnen Aspekten der Neuigkeit bekannt, man lässt die Neuigkeit in fein abgewogenen Dosen in das Unterbewusste der Öffentlichkeit einsickern. Und je nachdem, wie die Öffentlichkeit reagiert, erhöht man die Dosis, gibt weitere Aspekte der Neuigkeit bekannt, oder zieht sich zurück und distanziert sich scharf von den privaten Meinungen der bloggenden Mitarbeiter, von den Spekulationen von Journalisten."

Weiteres: Joseph Croitoru schildert das Vorgehen des ägyptischen Militärs gegen die Medien der Muslimbrüder. Andreas Breitenstein berichtet vom Literaturfestival Leukerbad, bei dem sich auch Marie-Luise Scherer und Salman Rushdie die Ehre gaben. Stefan Hentz gratuliert dem Gründer des Jazz-Labels ECM, Manfred Eicher, zum Siebzigsten. Joachim Güntner schreibt zum Tod des Marbacher Bibliothekars Paul Raabe.

Besprochen werden unter anderem Pierre Michons Revolutionsroman "Die Elf", Elémir Bourges' Roman "Götterdämmerung" sowie der Schweden-Band "Das Lächeln der Mittsommernacht" von Lars Gustafsson und Agneta Blomqvist (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 09.07.2013

Felix Stephan spricht mit den IT-Experten Sandro Gaycken und John Mroz. Gayckens Befund über Sicherheit und Freiheit des Internet stimmt nicht gerade zuversichtlich für die Zukunft: "Das Internet [ist] eine riesige Überwachungsmaschine. Es gibt Freiheit im Internet nur so lange, wie sich niemand dafür interessiert. Sobald aber Sicherheitsinteressen oder kommerzielle Ziele ins Spiel kommen, ist das vorbei. Ich sage voraus, dass wir langfristig im Westen ein freies Internet haben werden, weil es politisch so gewollt ist. Aber in anderen Ländern wird es totalitär sein." Mroz setzt auf die Amerikaner: "Wir werden viele Gegenmaßnahmen erleben. Die Amerikaner sind richtig wütend."

Weitere Artikel: Helmut Mauró staunt beim Klavier-Festival Ruhr unter anderem über Marc-André Hamelins "mit härtester Pranke und größter pianistischer Verzweiflung" vorgetragene Brahms-Interpretation. Hans-Jürgen Balmes gratuliert dem Musikproduzenten Manfred Eicher zum 70. Geburtstag. Außerdem berichtet Andrian Kreye von einer Begegnung mit dem Jazzsaxofonisten Charles Lloyd, dessen Album "Forest Flower" er als "Geniestreich" rühmt: Es beginnt "mit einer der verführerischsten Melodien" der Jazzgeschichte:



Besprochen werden Kenneth Branaghs in Manchester aufgeführte "Macbeth"-Inszenierung (bei der "die Effekte sitzen", schreibt Alexander Menden), eine Ausstellung mit Fotografien von Garry Winogrand in der Galerie Thomas Zander in Köln und Bücher, darunter Julia Kissinas "Frühling auf dem Mond" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 09.07.2013

Vor einer Woche hatte Sigmar Gabriel die Bundesregierung für ihre passive Rolle im Datagate-Skandal angegriffen. Nun reitet Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger die Gegenattacke: Wer hatte noch ein Grundrecht auf Sicherheit reklamiert, hinter das die Freiheit zurücktreten soll? Ach, richtig, das war der SPD-Innenminister Otto Schily. Die Opposition findet auch die Vorratsdatenspeicherung toll, schreibt die Ministerin: "Nicht einmal einen Monat ist es her, dass die grün-rote Landesregierung von Baden-Württemberg auf der Justizministerkonferenz einen Antrag auf Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung stellte. Dieser Antrag wurde, mit der Ausnahme von Niedersachsen, von allen rot-grünen Landesregierungen mitgetragen. Da darf man durchaus die Frage stellen, wer eigentlich die digitalen Feinde der offenen Gesellschaft sind, von denen der SPD-Vorsitzende Gabriel in dieser Zeitung schrieb."

Weitere Artikel: Endlich wieder ein Opernskandal, so Eleonore Büning erfreut über Peter Konwitschnys Inszenierung von Verdis "Attila" im Theater an der Wien, die das lokale Publikum in leider unverständlichem Wienerisch protestieren ließ. Kiwi-Verleger Helge Malchow verteidigt das Weltwunder des deutschen Literaturbetriebs mitsamt seiner Buchpreisbindung gegen ein drohendes Freihandelsabkommen mit den USA. Stefan Schulz besucht eine Tagung des Chaos Computer Clubs, der nun ganz in die Welt der chiffrierten Mitteilungen emigriert. Morten Friedel folgte den Frankfurter Poetikvorlesungen Juli Zehs. Es werden einige Briefe Ernst Jüngers und des LSD-Erfinders Albert Hofmann abgedruckt.

Auf der Medienseite wettert Sefan Schulz gegen Google, das sich immer mehr aufführt wie Gott und Bloggern und Internetagazinen nun androht, sie von Hand zu maßreglen, wenn sie sich nicht den von Google erlassenen Regeln fügen (ein paar Whistleblower aus diesem Konzern wären ganz sicher auch willkommen!)

Besprochen werden ein Ballettabend in Düsseldorf, ein "Macbeth" in der Regie Kenneth Branaghs in Manchester, Arcadi Volodos' auf CD gebanntes Plädoyer für den spanischen Komponisten Federico Mompou...

...hier die Transkription der Melodie "Sólo las flores sobre ti"



... und Bücher, darunter Sabine Appels Biografie über Caroline Schlegel-Schelling (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).