Heute in den Feuilletons

Doch eher blumig-ornamental

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.06.2013. Trotz allem: Noch ist die NSA ist nicht die Stasi, meint Fred Kaplan in der FAZ. Frank Schirrmacher fordert in der Sonntags-FAZ trotzdem ein europäisches Staats-Google. Spiegel Online ist da skeptisch, der BND nicht. In der Welt erklärt Zafer Sencak, warum sich die türkische Jugend den von Tayyip Erdogan verordneten Islam nicht mehr bieten lassen will. Die NZZ unternimmt eine Reise nach Timbuktu. Die taz meint: Auch nach der Wiederentdeckung von Hilma af Klint muss die Geschichte der Malerei nicht neu geschrieben werden.

FAZ, 17.06.2013

Der amerikanische Kolumnist Fred Kaplan warnt im Aufmacher davor, dass die Überwachungsmethoden, die im "Kampf gegen den Terror" entwickelt wurden, in einen Unterdrückungsstaat münden könnten (der FAZ-Artikel ist eine Ausführung dieses Artikels aus Slate). Bei aller Kritik an den Überwachungsmethoden, die Kaplan auch formuliert, eins möchte er vorab festhalten: "dass die NSA nicht die Stasi ist. Ihre Mitarbeiter hören keine Telefongespräche ab und lesen keine E-Mails. Ebenso wenig obliegt es ihnen, Kritiker der amerikanischen Regierung aufzuspüren (während der Daseinszweck der Stasi einzig darin bestand, Oppositionelle zu jagen). Und das heutige Amerika ist auch nicht mit Orwells '1984' zu vergleichen. Andernfalls würde die Polizei meine Wohnung stürmen, während ich diesen Beitrag schreibe, und die Welt würde nichts von den Artikeln erfahren, die in der Washington Post und dem Guardian erschienen sind (weil sie gar nicht erst veröffentlicht worden wären)."

Für Frank Schirrmacher sind wir dagegen schon über das 1984er Überwachungsmodell hinaus, weshalb er in der Sonntags-FAZ und im Gleichklang mit dem CSU-Politiker Hans-Peter Uhl) die Schaffung europäischer Alternativsysteme zu Google und Co fordert, "die sich der unmittelbaren kommerziellen Nutzung entziehen und damit die Verschmelzung der Kerne womöglich beendet: zumindest im Bereich von Suche und von sozialen Netzwerken. Das braucht Subventionen, eine Vision groß wie die Mondlandung. Aber auch das Silicon Valley ist das Ergebnis von fünfzig Jahren staatlicher Subvention." (Hmja, wir erinnern uns noch, wie Jean-Noel Jeanneney, damals Direktor der Bibliotheque Nationale, ein europäisches Google-Books propagierte. Das war vor gut acht Jahren. Und wo ist es?)

Weitere Artikel: In Istanbul geht der Protest gegen Erdogan auch nach der gewaltsamen Räumung des Gezi-Parks weiter, berichtet Karen Krüger. Lorenz Jäger war bei der Verleihung des Börne-Preises an Peter Sloterdijk. Julia Voss war bei einer Berliner Tagung zur Lage der Museen im Nationalsozialismus. Stefan Koldehoff berichtet über Ermittlungen gegen einen internationalen Kunstfälscherring.

Besprochen werden ein "Fliegender Holländer" an der Semperoper, eine Wagner-Fantasie von Hans Neuenfels in Zürich, Werkstattinszenierungen bei den Autorentheatertagen am Deutschen Theater in Berlin, eine französische Reportage über die Arbeitsbedingungen bei Amazon (Jean-Baptiste Malet: "En Amazonie. Infiltré dans le 'meilleur des mondes'"), Naomi Wolfs Buch "Vagina" und Rajesh Parameswarans Erzählband "Ich bin Henker" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 17.06.2013

Auf Spiegel online kommentiert Matthias Kremp die Forderungen nach staatlichen europäischen Kommunikationssystemen: "Wie schlecht so etwas funktioniert zeigt der Fall De-Mail. Nach Richtlinien vom Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik und einem entsprechenden Gesetz entwickelt, soll die deutsche E-Mail-Alternative rechtssicheren digitalen Datenverkehr zwischen Behörden, Bürgern und Unternehmen gewährleisten. Tatsächlich aber benutzt kaum jemand das System. Computerexperten kritisieren die nicht durchgängige Verschlüsselung der Nachrichten, De-Mails sind nicht kompatibel zu E-Mails und ihre Nutzbarkeit endet an der Staatsgrenze."

Auch die Leserkommentare zeigen ein profundes Misstrauen gegenüber staatlichen Kommunikationssystemen, was möglicherweise auch mit der Spon-Meldung zu tun hat, dass der BND gerade plant, die Überwachung der Internetkommunikation für 100 Millionen Euro aufzurüsten.

Perlentaucher, 17.06.2013

Nach dem Theologen Jan-Heiner Tück, der keineswegs den absoluten Wahrheitsanspruch von Religion (jedenfalls nicht seiner) aufgeben will, greift nun der Publizist Daniele Dell'Agli in die Monotheismus-Debatte im Perlentaucher ein und plädiert ganz entschieden gegen eine Entschärfung von Jan Assmanns Idee der moasaischen Unterscheidung. Dass die Bibel nicht nur Hass predigt, ist für ihn kein Argument: "So durften wir uns darüber belehren lassen, dass man in der Bibel, vor allem im Alten Testament, Belege für die ganze Vielfalt der unterschiedlichen Neigungen, Begabungen oder Dämonien des homo sapiens sapiens finden - vom Hohelied der Liebe bis zu den Liturgien des Massenmords. So what? Wogegen soll das ein Einwand sein? Zu prüfen, warum uns heute jene Stellen beunruhigen, die die dunklen, niederen Affekte buchstäblich verherrlichen?"

Welt, 17.06.2013

Doppelt zubetoniert sei die Politik der Türkei, schreibt Zafer Senocak auf der Forumsseite, durch den Kemalismus und den wirtschaftlich modernen und moralisch rückständigen Islamismus Erdogans, gegen den die gebildete Jugend jetzt aufsteht: "Zu Umweltfragen, zu Fragen der sozialen Gerechtigkeit, zu Rechten von Minderheiten haben Muslime dagegen bis heute wenig zu sagen. Nur in Fragen der Sexualität und der Geschlechterrollen sind sie immer schon Experten gewesen. Die heutige Türkei mit ihrer jungen Bevölkerung aber scheint dieses beschränkte Moralverständnis nicht mehr zu akzeptieren."

Auf den Kulturseiten singt Manuel Brug eine Hommage auf Barbra Streisand, die in Berlin eines ihrer raren Konzerte gegeben hat: "Das Tolle ist: Streisand versteckt sich nicht. Sie ist von gestern, obwohl sie immer noch da ist. Sie war nie wirklich trendig, und deshalb ist sie so zeitlos. Eine Diva ohne Podest und wie eine gute Bekannte." Hanns-Georg Rodek ist den Franzosen dankbar, dass sie bei den europäisch-amerikanischen Freihandelsgesprächen auf der kulturellen Ausnahme bestanden haben. Tilman Krause erinnert an Felix Hartlaub, der heute hundert Jahre alt geworden wäre.

Besprochen werden die Ausstellung "Im Dienst des Kaisers" im Landesmuseum Mainz und Ereignisse der Ruhrfestspiele.

In der Welt am Sonntag legt Michael Wolffsohn zum Thema SPD und Israel nach. Vor einer Woche hat er Dokumente präsentiert, die zeigen, dass Willy Brandt 1973 leider nicht vermittelte (hier als pdf-Dokument) - obwohl Golda Meir ihn darum gebeten hatte. Gestern ging's weiter mit Brandts Nachfolger: "SPD-Kanzler Helmut Schmidt provozierte mehrfach nicht nur Israels Rechtsparteien, sondern das gesamte Spektrum des jüdischen Staates. Schmidt legte der ägyptisch-israelischen Friedenspolitik, sprich Sadat und Begin, seit 1977 Knüppel zwischen die Beine. Trotzdem wurde im März 1979 zwischen beiden Staaten ein Friedensvertrag geschlossen, der bis heute (wie lange noch?) gültig ist. Im Herbst 1980 erklärte Kanzler Schmidt Israel zur 'größten Gefahr für den Weltfrieden'."

NZZ, 17.06.2013

Mit sehr viel Verständnis für die Islamisten, die Mali ins Chaos gestürzt hatten, erzählt Markus Haeflinger, wie Abdel Kader Haïdara und die Bibliothekare von Timbuktu ihre kostbaren Manuskripte in Sicherheitheit brachten: "Als die Unesco im Juli die Alarmglocken läutete und auf die Gefährdung des Weltkulturerbes von Timbuktu hinwies, fühlten sich die Jihadisten provoziert und begannen die Mausoleen der Stadtheiligen von Timbuktu zu zerstören. Zum kritischen Zeitpunkt im Juli hatte Haïdara Maßnahmen ergriffen, um die öffentlichen und privaten Handschriftensammlungen zu verstecken und später heimlich nach Bamako zu evakuieren. Schon im April habe er auf dem Handwerkermarkt in Mopti, einer 300 Kilometer südlich gelegenen Stadt im Einflussbereich der Regierungstruppen, Hunderte von Blechkisten kaufen lassen. Die Kisten von der Grösse einer Truhe werden überall in Westafrika hergestellt und sind unauffällig. Die Verantwortlichen verpackten die Schriften in Kisten, versahen diese mit einem Code und verteilten sie auf über 30 Privathäuser."

Besprochen werden die Ausstellung "Juden. Geld. Eine Vorstellung" im Jüdisches Museum Frankfurt (die Joachim Güntner sehr beachtenswert, aber nicht in allen Punkten überzeugend findet) und Hans Neuenfels' Inszenierung "Richard Wagner - Wie ich Welt wurde" in der Zürcher Schiffbauhalle.

Aus den Radios, 17.06.2013

Mit teils sehr großer Begeisterung haben die Feuilletons Jamil Ahmads mit 82 Jahren veröffentliches, literarisches Debüt "Der Weg des Falken" besprochen. In der br-Sendereihe "Radiotexte" liest nun Helmut Stange aus dem Buch: Hier die MP3-Datei aus deren Podcast.
Stichwörter: Mp3, Podcasts

Aus den Blogs, 17.06.2013

Cyndi Lauper wird sechzig. Hier eine der schönsten Hommagen, die der Jazz je dem Pop darbrachte:

Stichwörter: Jazz, Pop

TAZ, 17.06.2013

Auch nach der Wiederentdeckung von Hilma af Klint müsse die Geschichte der abstrakten Malerei nicht neu geschrieben werden, stellt Brigitte Werneburg verärgert fest, die Kuratorinnen der Berliner Schau im Hamburger Bahnhof hätten der schwedischen Malerin mit ihren vollmundigen Äußerungen einen Bärendienst erwiesen: "Damit schrauben die Kuratorinnen die Erwartungen so hoch, dass die vielen, erstmals im Original zu sehenden Arbeiten nur enttäuschen können. Wirken sie auf den ersten Eindruck doch eher blumig-ornamental als abstrakt und stellt die Idee, die Pastellkreidefarben des Kindermalbuchs in das große Format der Leinwand zu überführen, zwar ein eigenwilliges und originelles Konzept dar, das die meist streng symmetrisch angelegten Kompositionen dann aber doch stark an die Illustration annähert."

Weiteres: Fatma Aydemir berichtet von einer Berliner Veranstaltung zu den Protesten in istanbul. Astrid Kaminski hat beim Moussokouma-Festival im Berliner HAU Choreografien aus Afrika angesehen. Ulrike Baureithel liest die Feministischen Studien. Besprochen werden Diana Pintos Reisebericht "Israel ist umgezogen" und Klaus Theweleits Buch der Königstöchter "Pocahontas II." (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Und Tom.

SZ, 17.06.2013

Auf Seite Drei berichtet Christiane Schlötzer von der brutalen Räumung des Istanbuler Gezi-Parks am vergangenen Samstagabend und erzählt dabei wahre Horrorstorys, wie etwa die des skrupellos unter Tränengas-Beschuss genommenen Divan-Hotels, wo Verletzte untergebracht waren. Zugleich kamen die türkischen Medien endlich ihrer journalistischen Berichterstattungspflicht nach: "Das sorgte für eine atemberaubende Gleichzeitigkeit: Im Vergnügungsviertel Beyoglu sehen Touristen, während sie Fisch essen, im Fernsehen, was gerade nur wenige Hundert Meter entfernt passiert. Die Kellner kassieren ab, während draußen vor dem Fenster Krieg ist, wo die Mutigen oder die Verzweifelten, die Arme ausgebreitet, auf die Wasserwerfer warten."

Unterdessen im Feuilleton: Die Münchner Staatsanwaltschaft ermittelt wegen versuchten Mordes gegen den Schriftsteller Ulrich Enzensberger, nachdem dieser von einem Ex-Genossen bezichtigt wurde, 1970 an einem Brandanschlag auf einen Richter beteiligt gewesen zu sein, meldet Willi Winkler (mehr dazu hier). Tim Neshitov berichtet von Moskauer Prozessen gegen russische Kunstfälscher, die vor allem die russische Avantgarde im großen Stil ausschlachten: "Allein in Moskau sollen an die tausend Handwerker zugange sein, die Fälschern zuliefern, sich aber als Restauratoren bezeichnen." Peter Laudenbach verabschiedet den scheidenden Intendant des Berliner Maxim Gorki Theaters, Armin Petras. Joachim Käppner erinnert an den Aufstand des 17. Juni 1953. Das Berliner Poesiefestival fordert ein "Deutsches Zentrum für Poesie", berichtet Florian Kessler. Eva-Elisabeth Fischer informiert sich beim Düsseldorfer Tanzkongress über Bewegung als Sprache. Zum 100. Geburtstag des Schriftstellers Felix Hartlaub dokumentiert die SZ außerdem Auszüge aus einem 1996 geführten Gespräch mit Hartlaubs Schwester Geno (die komplette Fassung erscheint demnächst in der Zeitschrift Sinn und Form).

Besprochen werden die von Simon Rattle dirigierte Aufführung von Benjamin Brittens "War Requiem" (deren Aufzeichnung in Bälde hier zu hören sein wird), die Öko-Sexaktivisten-Doku "Fuck for Forest" und Scott Bradfields Roman "Die Leute, die sie vorübergehen sahen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).