Heute in den Feuilletons

Befehle eines Konzeptkunstgezeiges

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.05.2013. Sascha Lobo erzählt in Spiegel Online, wie Google sich in dem Android-Spiel "Ingress" mit der ganzen Welt gleichsetzt. Die Schriftstellerin Friederike Kretzen stellt in einer  NZZ-Reportage aus Bombay die Ohren auf, hört aber keinen Aufschrei der Kreatur. Die SZ ist enttäuscht über Ai Weiweis Beitrag zur Biennale Venedig. Lange nach dem Theatertreffen tobt auf Nachtkritik immer noch eine riesige Diskussion über Jérôme Bels Spektakel "Disabled Theater". Die Zeit wälzt das Luxusproblem der FAZ: Verstoßen Künstler gegen die Ethik ihrer Kunst, wenn sie ihre Werke von "Reichen" kaufen lassen?

Aus den Blogs, 29.05.2013

(Via Ekkehard Knörer) Auf Nachtkritik tobt seit einigen Tagen eine riesige Diskussion über Jérôme Bels auf dem Theatertreffen gezeigtes Spektakel "Disabled Theater". Ausgelöst hat sie Matthias Dell mit einem Artikel auf den Online-Seiten des Freitag. Es geht dabei um die Arbeit mit Behinderten im Theater: "Bel stellt seine Performer mit Behinderung aus - auch wenn jede positive Rezension ihn genau dagegen in Schutz nimmt. Wie anders aber soll man die eindimensionalen Befehle eines Konzeptkunstgezeiges verstehen ('Und dann hat Jérôme die Darsteller gebeten...'), die von einem Übersetzer ungerührt vorgetragen werden und die in ihrer Überschaubarkeit jeder Reduzierung, von der Bels große Arbeiten gelebt haben, Hohn sprechen: Lasst euch eine Minute angucken. Stellt euch mit Behinderung vor. "

Die viel gefeierte Snow Fall-Geschichte auf den Onlineseiten der New York Times zieht nun doch einige Gegner auf sich, schreibt Choire Sicha im Nieman Lab. Ihre Argumente:
"• Although it was an exceedingly well-reported story that lent itself well to lovely web expression, the story itself was not particularly newsworthy, or recent, or ground-breaking, or exclusive.
• During the story's construction, it became a situation where it seemed-at least from the outside-like the form began to demand unreasonable length of the content.
• It was a monetary sinkhole: while the coding seems spectacular (and it didn't destroy browsers, unlike recent efforts by Pitchfork), the sheer person-hours devoted to it were financially untenable."

Spiegel Online, 29.05.2013

Sascha Lobo erzählt, wie Google mit dem Android-Handy-Spiel "Ingress" Hunderttausende von Spielern süchtig macht und gleichzeitig seine Vision von der eigenen Gleichsetzung mit der Welt auslebt: "Das Spielfeld von 'Ingress' ist eine verfremdete Karte von Google Maps, der Spieler wird darauf per GPS verortet wie in einem gewöhnlichen Navigationsgerät. Um im Spiel von einem Portal zu einem anderen zu gelangen, muss man sich physisch von einem Ort zum anderen bewegen. 'Ingress' macht damit José Luis Borges' Gedankenspiel von einer Landkarte wahr, die so groß ist wie das Land, das sie abbildet: Das Spielfeld ist die gesamte Welt im 1:1-Maßstab."

Welt, 29.05.2013

Richard Kämmerlings beschreibt im Aufmacher die jüngsten Suhrkamp-Kapriolen und stellt fest: "was die Zukunft Suhrkamps angeht, ist lediglich sicher, dass nichts sicher ist". Hannes Stein findet es ganz okay, dass der amerikanische Philosoph Thomas Nagel in seinem umstrittenen Buch "Geist und Kosmos" vielleicht "ein bisschen zu nett zu Vertretern des 'Intelligent Design' ist". Alan Posener amüsiert sich übers Kinderdrehen im Buggy. Dan Brown bekennt im Interview, dass sein zweiter Namen Gerhard ist. Besprochen wird die deutsche Erstaufführung von Mieczyslaw Weinbergs Oper "Die Passagierin" in Karlsruhe und Olivier Assayas' Film "Die wilde Zeit".

Eine Meldung informiert uns, dass Werner Spies und ein Galerist von einem französischen Gericht in erster Instanz zur Zahlung von 652.883 Euro Schadenersatz verurteilt wurden. Geklagt hatte ein Sammler, der das von Wolfgang Beltracchi gefälschte, vermeintlich echte Max-Ernst-Gemälde "Erdbeben" gekauft hatte, nachdem Spies die Echtheit bezeugt hatte. Mehr dazu in Le Monde.

NZZ, 29.05.2013

Die Schriftstellerin Friederike Kretzen schickt eine Reportage aus Mumbai, wo sie die Menschen im größten Slum der Stadt, in Dharavi, bei der Arbeit an der Globalisierung beobachtet hat: "Warum werden die Menschen nicht auf der Stelle grün wie die Hunde blau? Wo sind die Verformungen, Auswüchse, Verkrümmungen, die solche Arbeitsbedingungen Menschen antun? Sie leben darin, für sie ist es eine Form von Normalität. Das Schockierende dieser engen, armen und vor allem giftigen Lebensumstände - und das macht es wohl so grausam - ist ihre Geregeltheit. Kein Chaos, kein Schrei, keine Auflehnung der Kreatur, das Grausame ist vielmehr diese ungeheuer emsige, betriebsame Produktivität, mit der die Müllsortierer, die Plastikzerkleinerer, Plastik-Köche, Bäcker, Stahlköche, Töpfer und Schneider an ihren Öfen, Feuern, Tischen und Nähmaschinen arbeiten. Es scheint in Ordnung zu sein."

Weiteres: In der Reihe zu Grundlagen der Demokratie widmet sich Felix Trautmann dem Paradox, dass ein Volk erst existieren muss, um sich selbst zu konstituieren.

Besprochen werden unter anderem die Ausstellung "Creating Camelot" über John F. Kennedys Hoffotografen Jacques Lowe im Washingtoner Newseum, Michel Houellebecqs bisher nur auf Französisch erschienene Gedichte "Configuration du dernier rivage" und Walter Benjamins Kunstwerk-Aufsatz in der kritischen Gesamtausgabe (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Freitag, 29.05.2013

"Der Rausch des freien Netzes ist vorüber. Es ist der Morgen danach", meint Jakob Augstein und wünscht dem Springers Bildzeitung viel Erfolg mit ihrem Paywall: "Zyniker und Apokalyptiker mögen mit den Schultern zucken. In einer Komödie von George Bernard Shaw bedroht das Feuer die Bibliothek von Alexandria; jemand ruft aus, das Gedächtnis der Menschheit werde verbrennen, und Julius Cäsar sagt: Lasst es brennen. Es ist ein Gedächtnis von Ruchlosigkeit. Mit der Haltung kann man auch der Zerstörung des Journalismus beiwohnen. Aber wer kann sich solch einen moralischen Luxus leisten?"

Christoph Bartmann beleuchtet die Bedeutung von Yahoos Entscheidung, seine Angestellten aus dem Home Office wieder zurück ins Büro zu holen.

SZ, 29.05.2013

Catrin Lorch ist ein bisschen sauer, dass Ai Weiwei für den deutschen Pavillon in Venedig eher Mäßiges abgeliefert hat, nebenbei aber im Auftrag einer Londoner Galerie in einer französischen Kirche die Aufsehen erregende Diorama-Installation S.A.C.R.E.D. (mehr) eingerichtet hat, die Ai Weiweis Haftbedingungen - inklusive einer "hyperrealistischen Ai-Puppe" - nachstellt: "Der dissidente Künstler verabschiedet sich so in eine neue Existenz - die des Märtyrers. Schon das Akronym lässt sich ja rasch als 'Sacred' lesen. ... Natürlich ist man geneigt, Ai Weiwei viel zu verzeihen, nach all dem Unrecht, das er erlitten hat. Doch war es zentral für die aktivistische Kunst Ai Weiwei, dass er das westliche Kunstsystem vor allem als Plattform nutzte. Nun richtet er alle Scheinwerfer auf sich und ergeht sich in wolkigen Gemeinplätzen. Vage sind dabei auch seine künstlerischen Formulierungen."

Weitere Artikel: Susan Vahabzadeh spricht mit Regisseur Olivier Assayas über dessen neuen, von Tobias Kniebe besprochenen Film "Die wilde Zeit". Allenthalben stadtmarketingträchtige "Reizvergröberung" an der Berliner Volksbühne, meckert Peter Laudenbach nach einer Performance von "Porn of Pure Reason", die "mit Vernunft etwa so viel zu tun [hat] wie Immanuel Kant mit youporn". Henning Klüver meldet, dass sich der italienische Rechtsphilosoph Paolo Becchi für den in Italien weitgehend isolierten Beppe Grillo stark macht.

Online amüsiert sich Bernd Graff über den Film "The Room", den er für "den schlechtesten Film aller Zeiten" hält. Wir glauben: Bernd Graff hat einfach noch nie den völlig unfassbaren "Turkish Star Wars" von 1982 gesehen. Unter anderem bietet diese Trashgranate wertvolle Fitness-Tipps:



Besprochen werden neue Jazzveröffentlichungen und Bücher, darunter die deutsche Erstveröffentlichung von Pierre Bosts Roman "Ein Sonntag auf dem Lande" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 29.05.2013

Andreas Kilb empfiehlt Olivier Assayas' Siebziger-Jahre-Drama "Die wilde Zeit". Das Problem der Rekonstitution, das viele Historienfilme so lächerlich erscheinen lässt, löse der Regisseur, indem er Laienspieler engagierte: "Ein Lebensgefühl wird beschworen, aber nicht durch das routinierte Spiel von Könnern, sondern durch Anverwandlung. Die Jugend von 2012 verkörpert die Jugend von 1971. Sie gibt ihr zurück, was kein Schauspieler ihr geben könnte: Unschuld, Unmittelbarkeit, Verletzlichkeit."

Weitere Artikel: Lena Bopp rät den Aktivistinnen von Femen, das T-Shirt anzubehalten - besonders stört sie die antireligiöse Provokation des Topless Jihad Day, durch den das Schicklichkeitsgefühl von Muslimmen verletzt wird, die nun auf Facebook ihren Muslima Pride artikulieren. Swantje Karich protestiert gegen das Wetter. Wiebke Huester erinnert an den Skandal um den "Sacre du printemps" vor hundert Jahren, dessen in Paris mit verschiedenen Ereignissen gedacht wird. Jürg Altwegg und Patrick Bahners notieren französische und amerikanische Sorge über die Suhrkamp-Krise. Eugen Ruge, dessen Roman "In Zeiten des abnehmenden Lichts" gerade ins Griechische übersetzt wird, schickt Notizen von einer Riese in die Krise. Internetskeptiker Evgeny Morozov befasst sich heute mit Google Maps (hier das Original aus Slate).

Besprochen werden eine Ausstellung über den amerikanischen Bürgerkrieg in Washington, Fank Martins "Tristan"-Variation "Le Vin herbé" an der Staatsoper in Berlin und Bücher, darunter ein Novellenband von Hartmut Lange (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Zeit, 29.05.2013

Verstoßen Künstler gegen die Ethik ihrer Kunst, wenn sie ihre Werke von "Reichen" kaufen lassen, wie Julia Voss kürzlich in der FAZ Georg Baselitz vorwarf? So schwere Geschütze möchte Hanno Rauterberg nicht auffahren: "Wer allerdings meint, seine Kunst sei doch immer dieselbe, egal, wo sie gezeigt und von wem sie bestellt und bezahlt wird, erweist sich als hoffnungslos naiv. Die Kunst ist weit stärker als Literatur oder Film von dem Rahmen abhängig, in dem sie erscheint. Gerade weil alles Kunst sein kann, ein Urinoir ebenso wie eine Kartoffel, weil es also nicht auf das Objekt selbst, sondern auf dessen Wahrnehmung ankommt, ist sie auf ihre Glaubwürdigkeit angewiesen."

Peter Kümmel hat mit Matthias Lilienthals Beiruter Stadterkundung X Wohnungen einige schöne Einblicke in eine von allen Seiten malträtierte, doch sehr lebendige Stadt erhalten: "Wir besuchen das armenische Flüchtlingslager Camp Sanjak. Es wurde in den zwanziger Jahren errichtet, verfällt zusehends und beherbergt bis heute 80 Familien. In einer Hütte hat sich der Schuhmacher und Designer Raffi Pamboukian niedergelassen, der hier High Heels nach Kundenwunsch produziert (raffipamboukian@hotmail.com) es beginnt, mitten im Flüchtlingslager, bei gedämpftem Licht und Wodka Orange, eine kleine Modenschau: Wir werden genötigt, auf hohen Hacken ein paar Schritte zu gehen."

Weitere Artikel: Thomas E. Schmidt und Adam Soboczynski dröseln noch einmal auf, wie es im schier ausweglosen Streit um Suhrkamp zum jüngsten Manöver des Verlags kam, Gläubigerschutz zu beantragen. Im Interview erklärt der von Suhrkamp Generalbevollmächtigte Fran Kebekus die rechtliche Lage. Katja Nicodemus schreibt melancholisch über Alter und Vergänglichkeit in Cannes, das sie nach dem Verlust ihrer Akkreditierung von seiner bürokratischen Seite erlebt hat. Ozzy Osbourne und Geezer Butler plaudern im Interview über die gute alte Zeit des finsteren Heavy Metals und die erste Black-Sabbath-CD seit 28 Jahren. Iris Radisch schreibt zum Tod von Sarah Kirsch.

Besprochen werden Guillem Balagés Biografie des zukünftigen Bayern-Trainers Pep Guardiola (die Hans-Ulrich Gumbrecht allerdings schlimm hagiografisch findet), Kevin Powers' Roman "Die Sonne war der ganze Himmel" und Marek Edelmans Erinnerungen an "Die Liebe im Ghetto" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Wirtschaftsteil befassen sich Götz Hamann und Marcus Rowetter mit der Allgegenwart digitaler Kameras und stellen zum Thema Datenerfassung und Überwachung klar: "So problematisch es ist, wenn Maschinen alles über uns herausfinden - persönliche Daten sind zugleich die Währung, mit der Menschen die Wohlstandsgewinne der vergangenen Jahrzehnte bezahlt haben."