Heute in den Feuilletons

Es zeichnet sich der Morgenstern ab

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.05.2013. In der Welt wendet sich Necla Kelek gegen das Recht von Eltern, Mädchen unter 14 Jahren mit Kopftuch in die Schule zu schicken. In der taz widerspricht Bommi Baumann der These Wolfgang Kraushaars, die radikale Linke sei antisemitisch gewesen: Kunzelmann sei die Ausnahme. Die NZZ versucht ein Psychogramm der französischen Demonstanten gegen die Schwulenehe. Springer will 200 Mitarbeiter bei der Bild entlassen und viele andere in den Onlinestall ohne Tarifbindung stecken, meldet der Spiegel. Der "Große Gatsby" lässt sich gar nicht verfilmen, beteuert die FAZ. Und bitte lauschen Sie den trockenen Sforzati Daniil Trifonovs.

TAZ, 13.05.2013

Im Interview mit Wolfgang Gast und Stefan Reinecke widerspricht Michael "Bommi" Baumann, früherer Haschrebell und Stadtguerillero, den von Wolfgang Kraushaar geäußerten Thesen zu linkem Antisemitismus um 1970: Mit Ausnahme von Dieter Kunzelmann, der die treibende Kraft hinter dem versuchten Bombenanschlag auf das jüdische Gemeindezentrum in Westberlin von 1969 war, habe es keine ernstlich antisemtitischen Tendenzen in der Szene gegeben. "Die Reaktionen auf den Brandanschlag waren durch und durch ablehnend. Daher ist die These, dass alle Militanten damals Antisemiten waren, vollkommener Schwachsinn... Kraushaars Versuch, der Linken Antisemitismus nachzuweisen, hat ja was Zwanghaftes."

Weitere Artikel: Katrin Bettina Müller zieht eine zufriedene Bilanz des diesjährigen Theatertreffens. Frank Gerstenberg stellt ein Kölner Theaterprojekt mit Nachfahren von Opfern und Tätern des Nazi-Regimes vor. Johannes Gernert berichtet von einer Tagung der "Quantified Self"-Szene in Amsterdam. Besprochen wird "Vagina. Eine Geschichte der Weiblichkeit" von Naomi Wolf (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Welt, 13.05.2013

Auf der Forumsseite kritisiert Necla Kelek die Deutsche Islamkonferenz dafür, dass sie sich zwar ausgiebig für religiöse Rechte der Eltern einsetzt, für Maßnahmen zur Gleichberechtigung von Jungen und Mädchen aber überhaupt nicht interessiert. Kelek wendet sich insbesondere gegen das Recht von Eltern, Mädchen unter 14 Jahren mit Kopftuch in die Schule schicken zu dürfen: "Das Kopftuch ist nicht islamisch. Es gibt keine religiöse Verpflichtung, ein Kopftuch zu tragen. Ich kann mich dabei auf den Koran und die Überlieferungen berufen. Man(n) kann so tun, als sei das Kopftuch im Islam religiös geboten, aber der Koran lässt auch andere Interpretationen zu. Wer das Kopftuch will, ist Traditionalist und interpretiert die Überlieferung im eigenen Interesse. In Deutschland gehört er damit zu der Minderheit von Muslimen, die diese Religion nicht spirituell, sondern als Gesetz begreifen und einen "Scharia-Islam" vertreten."

Im Feuilleton packt Iris Alanyali jetzt noch das Grausen, wenn sie daran denkt, wie das ZDF-Morgenmagazin die Frauenquote feierte. Der Saxophonist Joshua Redman spricht im Interview anlässlich seiner neuen CD über Jazz, Krisen und den Tod des Saxofons.

Besprochen werden eine Ausstellung über die Ursprünge des reformierten Glaubens in Deutschland im Kurpfälzischen Museum in Heidelberg, Dimiter Gotscheff Inszenierung von Heiner Müllers "Zement" im Münchner Residenztheater, Händels Oper "Siroe" bei den Göttinger Händel-Festspielen und einige CDs.

NZZ, 13.05.2013

Bei den Protesten gegen die Schwulenehe in Frankreich geht es nicht nur um Homophobie, sondern auch um die Destabilisierung einer von einer Minderheit als Tyrannei empfundenen Regierung, berichtet Marc Zitzmann: "Die selbsternannten Rebellen, ja Résistants vergleichen sich mit den Freiheitskämpfern des Arabischen oder des Prager Frühlings, aber auch mit den königstreuen Konterrevolutionären, die während der 1790er Jahre in Westfrankreich gegen die jakobinische 'Terreur' aus Paris fochten."

Weiteres: Andrea Spalinger schildert, wie sunnitische Hardliner den Sufismus in Pakistan als Aberglauben diskreditieren. Besprochen werden eine Inszenierung von Dea Lohers "Diebe" am Luzerner Theater und eine Retrospektive zum 100. Geburtstag von Yuki Katsura im Museum of Contemporary Art in Tokio.

Weitere Medien, 13.05.2013

In der FR/Berliner Zeitung unterhält sich Arno Widmann mit dem amerikanisch-israelischen Talmud-Forscher Daniel Boyarin, der gerade am Berliner Wissenschaftskolleg ein Buch über die Diaspora beendet hat: "Ich habe viel von W. E. B. Du Bois (1868-1963) gelernt, dem Afro-Amerikaner - so sagen wir heute, er hat diesen Ausdruck nie verwendet -, der vom doppelten Bewusstsein der Schwarzen sprach. Sie seien, so erklärte er, gleichzeitig innerhalb und außerhalb der amerikanischen Kultur. ... Erkenntnistheoretisch ein sehr privilegierter Ort. Hier kann die Entzauberung der herrschenden Verhältnisse stattfinden. Marx hat dem Proletariat diesen 'Standpunkt' zugeschrieben. Das gleichzeitige Drinnen- und Draußen-Sein - darum geht es. David Halperin spricht von gay savoir. Er meint nicht, dass Schwule per se ein anderes Verständnis der Welt haben. Es geht ihm darum: Wer drinnen und draußen ist, der hat einen anderen Blick auf die Gesellschaft. Das ist die Position der Minderheiten, der Juden zum Beispiel, das ist die Diaspora-Position. Es ist kein Zufall, dass so viele Kritiker Juden sind. Das hat nichts mit Rasse, Genetik oder einer besonderen Intelligenz zu tun. Es ist das Ergebnis ihrer ambivalenten Situation."

Aus den Blogs, 13.05.2013

Springer will bei der Bild laut einem Bericht des Spiegel, den turi2 zitiert, 20 Millionen Euro einsparen und 200 Mitarbeiter entlassen. Nebenbei erfährt man, warum sich Online bei Springer so lohnt: "Ein weiteres Planspiel sehe vor, Redakteure von Bild, B.Z. und bild.de in die Bild Digital GmbH zu überführen, die ohne Tarifbindung arbeitet. Chefredakteur Kai Diekmann, der im Juni aus dem Silicon Valley zurück nach Berlin kommt, ist not amused."

Weitere Medien, 13.05.2013

Eingemauert im status quo haben sich die Herrn Verleger und Chefredakteure beim European Newspaper Congress in Wien, berichtet eine entsetzte Petra Sorge auf cicero.de: "Ansonsten tauschte man Rezepte aus, die vor zehn Jahren schon als modern galten: lockeres Zeitungsdesign mit mehr Weißraum, freigestellte Fotos, tiefgründige Erzählgeschichten, Infografiken."
Stichwörter: Infografik, Wien

FAZ, 13.05.2013

Bevor am Mittwoch das Festival von Cannes mit der Verfilmung des "Großen Gatsby" eröffnet wird, hält Johanna Adorjan schon mal fest, dass sich der Roman gar nicht verfilmen lässt. Zum Beispiel dürfte "die Party, die im dritten Kapitel geschildert wird, die mit Abstand beste Party sein, die jemals beschrieben wurde. Worte wie Sommernächte, Flüstern, Sekt und Sterne schaffen eine Atmosphäre, deren Magie kein Film jemals einfangen könnte, weil weder die Wirklichkeit noch ein Abbild von ihr es mit den Verführungskünsten von Fitzgeralds Ton aufnehmen kann."

Weitere Artikel: Harald Welzer setzt seine Serie ökologischer Mutmachgeschichten mit dem Beispiel der Stadt Andernach fort, in deren Grünrabatten seit neuestem Gemüse angebaut wird. Irene Bazinger besuchte den Stückemarkt des Theatertreffens, der sich diesmal dem "Verfall und Untergang der westlichen Zivilisation" widmete. Wolfgang Schneider verfolgte eine Berliner Diskussion mit Liao Yiwu, Agnes Heller und Günter Wallraff über die Bücherverbrennungen vor achtzig Jahren. Bert Rebhandl schreibt zum Tod des Filmregisseurs Peter Sehr.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Bilderkammer des Bruno Schulz" im Martin-Gropius-Bau, die Oper "Der Idiot" von Mieczysław Weinberg in Mannheim und Bücher, darunter darunter Allen Frances' Essay "Normal - Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 13.05.2013



Stephan Speicher liefert Hintergründe zur baldigen, aufwändigen Restauration (hier dazu mehr) von Caspar David Friedrichs Bildern "Abtei im Eichwald" und "Mönch am Meer" aus der Alten Nationalgalerie in Berlin. Von dem Vorhaben verspricht er sich einiges: "Man wird die Qualitäten der peinture deutlicher sehen. ... Und ändern werden sich die Himmel. Beide Bilder, so trübe sie den Erdenzustand schildern, sprechen von der Hoffnung auf Erlösung. So öde dem Mönch Strand und Meer erscheinen, es zeichnet sich - so ein Zeitgenosse, der das frische Bild sah - der Morgenstern ab, Symbol der Auferstehung. Derzeit muss man noch raten, wo der Morgenstern steht."

Mit großer Begeisterung berichtet Helmut Mauró vom ersten deutschen Konzert des jungen Pianisten Daniil Trifonov in der Berliner Philharmonie: "Er ist ein Meister der intellektuellen Überraschung, des Aufrüttelns, der ästhetischen und gedanklichen Neuorientierung. Seine trockenen Sforzati sind wie Stromschläge." Eine Aufnahme dieses Auftritts gibt es tatsächlich schon auf Youtube:



Weitere Artikel: "Kunst von Frauen, vor allem auch älteren, hat Konjunktur", stellt Catrin Lorch unter anderem nach Lektüre dieses Interviews aus der aktuellen Ausgabe von Frieze fest. Andrian Kreye unterhält sich mit der Regisseurin Pamela Yates, deren Dokumentarfilme (hier einer davon) die Verurteilung des einstigen guatemalischen Staatschefs Rios Montt mitbegünstigten. Nina Hoss gibt die Hedda Gabler bei den Ruhrfestspielen "überraschend fragil", schreibt Martin Krumbholz. Fritz Göttler schreibt den Nachruf auf den Regisseur Peter Sehr.

Besprochen werden Sean Bakers Film "Starlet", Angélica Liddells bei den Wiener Festwochen aufgeführtes Stück "Todo el cielo sobre la tierra" ("Muttersein ist scheiße, Sex ist scheiße, es gibt kein weibliches Glück auf dieser Welt", lernt Egbert Tholl) und Bücher, darunter Joe R. Lansdales Splatter-Thriller "Dunkle Gewässer" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).