Heute in den Feuilletons

Skulptur aus flüssigem Material

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2013. In der Welt stellt Ruth Klüger eine alte Frage zum Holocaust in der Literatur ganz neu. In der NZZ denkt Terezia Mora über Literatur an Grenzen nach. Außerdem beleuchtet die NZZ Lutoslawskis Liebe zu Cage. Die FR huldigt dem Kollateralnutzen von Frankreichs Uranpoltik. Und ach, seufzt die SZ: Was waren das für Zeiten, als ARD und ZDF Mut zur Zumutung zeigten.

Welt, 26.01.2013

Zum Holocaust-Gedenktag stellt Ruth Klüger in der Literarischen Welt die Frage, ob sich der Holocaust durch Literatur bewältigen lasse, ganz neu und konfrontiert uns mit einer Szene, die sie erlebt hat: "Vor nicht langer Zeit bat mich eine junge Frau, meine Autobiografie, die von einer Kindheit im Nazi-Europa handelt, zu signieren und sagte dazu mit einem innigen Lächeln: 'I love the Holocaust.'" Klüger schildert ihre Bestürzung, aber sie nimmt die Frau ernst: "War es moralisch richtig, dass ihr die Holocaustliteratur so viel Spaß machte?"

Weitere Artikel in der Literarischen Welt: Klaus Harpprecht wünscht sich von Michael Gassmann ein Buch über Bach als Weltmusiker.

Bsprochen werden untere anderen Tom Wolfes neuer Roman "Back to Blood", neue Lyrikbände von Adam Zagajewski (hier), Tomaž Šalamun (hier) und Esther Kinsky (hier), Michael Köhlmeiers Roman "Die Abenteuer des Joel Spazierer", Helga Hirschs Essay "Endlich wieder leben" über die Nachkriegszeit aus der Sicht von Frauen (besprochen von Necla Kelek), Szilárd Rubins Krimi "Die Wolfsgrube" und Bruno Preisendörfer erinnert an Johann Gottfried Seume, der vor 250 Jahren geboren wurde.

Im Feuilleton führt Kai-Hinrich Renner ein Interview mit einem recht müde wirkenden Harald Schmidt. Claus Lochbihler erinnert an den Songwriter Jimmy Van Heusen, der in diesen Tagen hundert Jahre alt geworden wäre. Jenny Hoch geht mit Sonja Kirchberger essen.

Besprochen wird Mozarts "Lucio Silla" unter Mark Minkowski in Salzburg.

TAZ, 26.01.2013

Sehr aufmerksam beobachtet Dorothea Hahn das Zeitungssterben in den USA, wo manche prognostizieren, dass in fünfzehn Jahren von momentan 1300 Titeln nur noch eine Handvoll existieren wird, während andere wegen der rasenden Verbreitung von Tablets die tägliche Zeitung bereits für 2015 für obsolet erklären. Dass bereits jetzt in zahlreichen Städten keine Zeitung mehr erscheint, hat für diese handfeste Folgen: So zeigen Untersuchungen, "dass dort die Wahlbeteiligung sinkt, dass weniger Menschen bereit sind, öffentliche Ämter zu übernehmen und dass auch andere Formen von öffentlicher Aktion nachlassen. In den neuen Nachrichtenwüsten der USA schauen keine ReporterInnen mehr Ratsleuten und Bauunternehmen auf die Finger." (Etwas, das wir uns von der bräsigen deutschen Lokalpresse auch mal gewünscht hätten.)

Außerdem: Der Pharmazeut und Autor Felix Hasler erklärt im Interview, warum er es für "Unsinn" hält, wenn man meint, man könne "das Gehirn als isoliertes, kulturunabhängiges Objekt im Labor untersuchen und dadurch herausfinden, was das Menschsein wirklich ausmacht." Bettina Gaus bedankt sich bei der Journalistin, die Rainer Brüderles Anbaggereien öffentlich gemacht hat. Marlene Halser resümiert den Prozess Ottfried Fischer gegen Bild. Heiko Werning glaubt, dass "wir Heino doch sträflich unterschätzt" haben. Andreas Fanizadeh schreibt den Nachruf auf den Autor Jakob Arjouni.

Besprochen werden das neue Album des sich vor Kontaktaufnahmen zierenden House-Produzenten Pépé Bradoch und Bücher, darunter der Briefwechsel zwischen Bertolt Brecht und Helene Weigel (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 26.01.2013

Dass hinter humanitären Einsätzen grundsätzlich nur wirtschaftliche Interessen stehen, macht Thomas Schmid in der FR/Berliner Zeitung noch einmal ganz deutlich. Huldvoll gesteht er dann jedoch zu, dass die Interventionen gelegentlich auch einen "Kollateralnutzen" mit sich bringen können. So auch in Mali, wo die Franzosen zwar nur wegen der Uranvorkommen ntervenierten, doch immerhin: "Wenn in einigen Wochen oder Monaten in Nordmali keine Hände mehr amputiert werden und die Menschen wieder rauchen und Musik hören dürfen, darf dies ruhig als Kollateralnutzen einer interessengeleiteten Intervention verbucht werden."
Stichwörter: Mali, Musik

NZZ, 26.01.2013

Terezia Mora erzählt in einem schönen Essay, was es heißt, an einer Grenze aufzuwachsen: "'Ich fahre nach Ungarn' bedeutete im Sprachgebrauch meiner Urgroßmutter, sich sage und schreibe 15 Kilometer gen Osten zu bewegen, ins westlich gelegene 'Österreich' waren es nur 5 Kilometer. Und hier war eben hier. Das wurde dann bald präzisiert, es brauchte nicht mehr als zwei Weltkriege dazu, und als ich die Augen aufschlug, stand da mit widerwärtiger Stabilität der Eiserne Vorhang."

Man würde es nicht erwarten, aber Witold Lutoslawski war von John Cage beeinflusst, schreibt Hartmut Lück in einem großen Artikel zu Lutoslawskis hundertstem Geburtstag. Seit Lutoslawski Cages Klavierkonzert mit seinen komponierten Zufällen gehört hatte, ließ er in seinen Werken Improvisation zu - an Stellen, die in der Partitur durch Pfeile bezeichnet waren: "Die Pfeile besagen, dass zwischen ihnen der Dirigent nicht agiert - er gibt lediglich den Einsatz für diese sogenannte 'kontrollierte Aleatorik' und an deren Ende wiederum das Zeichen zum Beginn des nächsten, genau notierten Abschnitts. Der Komponist nannte diese Art Musik mehrfach eine 'Skulptur aus flüssigem Material'."

Dies kann schön wild klingen (mehr dazu hier):



Außerdem erinnert sich in Literatur und Kunst Rolf Urs Ringger in kleinen Vignetten an Hans Werner Henze. In einem Interview aus einem Jahr 2008 redet Henze mit Marco Frei übers Sterben. Besprochen wird Johannes Jacobus Voskuils Roman "Das Büro" (mehr hier). Feuilletonaufmacher ist eine große Besprechung der Rubens-Ausstellung im Wuppertaler Von-der-Heydt-Museum.

SZ, 26.01.2013

Was waren das für Zeiten, als ARD und ZDF noch Oasen öffentlich-rechtlichen Wagemuts waren, schwärmt Peter Richter auf der Seite Drei nach dem Besuch bei Martin Wiebel, langjähriger WDR-Redakteur, der neben zahlreichen Filmproduktionen auch eine ambitionierte, letztlich jedoch gescheiterte Verfilmung der Werke von Norbert Elias und Philippe Aries betreute: "Man darf an dieser Stelle die Behauptung aufstellen, dass das die langfristig am fruchtbarsten investierten Gebührengelder waren, die je ausgegeben wurden. Es wurde zwar nicht eine Minute gesendet. Aber die Arbeit ging nicht verloren. Im Gegenteil. Es wurden berühmte Bücher und Aufsätze daraus: Schivelbuschs Geschichte der Genussmittel zum Beispiel, schon lange ein Standardwerk unter dem Titel 'Das Paradies, der Geschmack und die Vernunft'. Eine Habilitation über die Erfindung der Uhrzeit von Gerhard Dohrn van Rossum. Martin Warnkes berühmte Studie (Auszug als pdf) zu den Gründen, warum das deutsche Wohnzimmer aussieht, wie es leider aussieht."

Im Feuilleton: Der Historiker Stephan Stracke erzählt unter Rückgriff auf Tanja von Franseckys Forschungen die Geschichte von Shoah-Überlebenden, die sich durch einen Sprung aus den fahrenden Deportationszügen retten konnten. Christiane Schlötzer begleitet die ersten Stipendiaten der deutschen Kulturakademie in Istanbul auf deren Erkundungsspaziergängen durch die Stadt. Roland Huschke plaudert mit Dustin Hoffman über dessen (von Susan Vahabzadeh besprochenes) Regiedebüt "Quartett".

Besprochen werden eine Ausstellung über "Zeitgenössisches Design zwischen Poesie und Provokation" im MAKK Köln, Philipp Preuss' Inszenierung von Jelineks "Kein Licht. Prometheus" am Schlosstheater Moers und Bücher, darunter Dirk Kurbjuweits neuer Roman "Angst" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende erklärt Helmut Martin-Jung, warum das freie und quelloffene Betriebssystem Linux nicht nur das beste, sondern auch das wichtigste Betriebssystem der Welt ist. Thomas Steinfeld macht sich Gedanken über den Trend zur Selbstoptimierung. Harald Hordych besucht Frankfurts Hochhäuser. Rudolph Chimelli skizziert das historische Verhältnis Frankreichs zu Mali. Und wer hat den Begriff "Berufsjugendlicher" erfunden, Frau Kuttner? "Doofe, alte, frustrierte Journalisten?", gibt sie im Interview zurück.

FAZ, 26.01.2013

Die schlimmsten Fehler bei so etwas wie der Berliner Flughafenplanung werden gleich zu Anfang gemacht, meint der Architekt Albert Speer im Gespräch mit Dieter Bartetzko: "Im Anschluss führen dann schlechtes Management, Kompetenzstreitigkeiten verschiedenster Behörden, Hierarchien und unpräzise Vorgaben dazu, dass sämtliche Maßnahmen sich viel zu lange hinziehen und zweitens auch nicht konsequent abgestimmt sind." Als Beispiele des Gelingens nennt Speer fest terminierte Projekte, etwa Stadien, die zu Fußball-WMs fertig sein müssen - das klappt immer!

Weitere Artikel: Kerstin Holm beschreibt die russische Sitte der Eistaufe - in eigens aufgestellten Becken mit Eiswasser vollziehen die Russen damit die Taufe Jesu als Ganzkörpererfahrung nach. Mark Siemons versucht einen Sinn in chinesischen Zensurmaßnahmen, etwa am neuen "James Bond"-Film zu finden. Karen Krüger berichtet, dass die türkische Feministin Pinar Selek in der Türkei erneut zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde - zum Glück lebt sie inzwischen im Exil in Straßburg. Jan Wiele verfolgte eine Podiumsdiskussion zu Martin Mosebachs Bestrebungen, Blasphemie wieder "gefährlich" zu machen.

Online wird gemeldet, dass die WDR-Intendantin und ARD-Vorsitzende Monika Piel "aus persönlichen Gründen" zurücktritt.

Besprochen werden ein Konzert des Orchestras of the Age of Enlightenment unter Simon Rattle mit den späten Mozart-Sinfonien, der Action-Film "Flight" mit Denzel Washington, ein Konzert Aimee Manns in Köln und Bücher, darunter eine vom britischen Krimi-Autor David Hewson besorgte Romanfassung der dänischen Krimi-Serie "Kommissarin Lund" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Und das Internet ist jetzt die Tiefdruckbeilage: Nur im Internet schreiben Swantje Karich über das Gesicht in der Kunstgeschichte (hier) und Dietmar Dath über das Gesicht in der Popkultur (hier). Und Patrick Bahners gibt einen "Grundkurs 'Lincoln'".

Für die Frankfurter Anthologie liest Dieter Lamping ein Tucholsky-Gedicht: "Augen in der Großstadt".