Heute in den Feuilletons

Stumm wird das Spanferkel zerteilt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
05.01.2013. Jakob Augstein ein Weltklasseantisemit? Zu viel der Ehre, findet der Kölner Stadt-Anzeiger. Augstein hat so wenig Ahnung von Israel wie das Simon-Wiesenthal-Center von deutschen Publizisten, meint Salomon Korn in der FAZ. Im Tagesspiegel sorgt sich Johnny Haeusler um die Freiheit des Netzes. Kein Wunder, dass man die Banker nicht versteht: sie verstehen sich ja nicht einmal untereinander, berichtet Andres Veiel der taz. Die Welt bedauert, dass Brieffreundschaften heutzutage nur noch mit dem Finanzamt gepflegt werden. SZ bedauert, dass HipHop-Lifestyle nur noch als Handy-Spiel existiert.

Tagesspiegel, 05.01.2013

Blogger und Autor Johnny Haeusler ruft dazu auf (beziehungsweise tat dies schon vor einer Woche), das World Wide Web als freies Netz zu bewahren und nicht den kalifornischen Milliardären zu überlassen, die um ihre Pfründe immer höhere Mauern errichten: "Wenn bit.ly und andere URL-Shortener den Geist aufgeben, funktionieren Millionen von Links im Web nicht mehr. Würde Apple beschließen, auf seinen Betriebssystemen nur noch Apps und keine Web-Browser mehr zuzulassen, hätte das Unternehmen seine Nutzer effektiv aus dem World Wide Web ausgesperrt und ein eigenes Netz kreiert. Doch Apps lassen sich nicht untereinander verlinken, und für einzelne Beiträge in News- oder Blog-Apps lassen sich keine Browser-Lesezeichen ablegen. Und wenn Facebook den automatischen RSS-Import von Blog-Beiträgen unterbindet und gleichzeitig privilegierten Unternehmen neue Möglichkeiten gibt, dann ist das Web, wie wir es kannten, tot."
Stichwörter: Apps, Facebook, Browser, Rss, World Wide Web

NZZ, 05.01.2013

Der Autor Norbert Hummelt erzählt von seinen Feiertagen, die er in der traurigen Atmosphäre eines Brandenburger Hotels in der Schorfheide verbrachte: "Stumm wird das Spanferkel zerteilt, und wem das Viergangmenu zu dekadent ist, der schmiert sich Stullen und belegt sie dick mit Wurst wie zu Hause. Wer eine vitale Regung zeigt, fällt auf - wie die dunkelhaarige Frau, die zur akkordeonbegleiteten Weise 'In der Weihnachtsbäckerei' abgeht wie bei einem Rockkonzert."

In Literatur und Kunst sträubt sich Bernhard Wiebel gegen eine Verharmlosung des Lügenbarons Münchhausen, dessen abenteuerliche Satiren tatsächlich Brisanz bargen. Leopold Federmair huldigt Peter Handke zum Siebzigsten. Daniel Ammann erkundet Möglichkeiten, das Schreiben im Film jenseits von flitzenden Federkielen und trommelnden Typenhebeln zu inszenieren. Carl Fingerhuth ruft zu einem öffentlichen Diskurs über die Gestaltung der Stadt auf.

Besprochen werden die Ausstellung "Bilderbedarf - Braucht Gesellschaft Kunst?" in der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, eine Schau des Pariser Belle-Epoque-Malers Jacques-Emile Blanche in der Fondation Pierre Bergé / Yves Saint Laurent und Bücher, darunter Christian Thielemanns Band "Mein Leben mit Wagner" und Henry James' Erzählungen "Wie alles kam" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

TAZ, 05.01.2013

Versteh einer diese Banker! Die verstehen sich ja nicht mal untereinander, erfährt man in Stefan Reineckes Gespräch mit Regisseur Andres Veiel, der gerade für ein Theaterstück über Banker in der Finanzwelt recherchiert hat: "Die Arbeitsbereiche sind so spezialisiert, die Sprache ist so kodiert, dass schon zwischen zwei Etagen die Verständigung schwierig ist. Wer weiß genau, was stochastische Volatilität ist? Es existiert schon in der Sprache Ausschluss."

Weiteres: Hendrik Zörner vom Deutschen Journalistenverband rechtfertigt gegenüber Martin Reeh die GEZ-Reform. Peter Unfried trifft sich in Berlin-Kreuzberg mit dem Stuttgarter Kolumnisten Joe Bauer zum Gespräch über Schwaben. Außerdem spricht Arno Frank in der "Wahrheit" mit "verboten".

Besprochen werden die Ausstellung "Lebensmittel" im Martin-Gropius-Bau in Berlin und Bücher, darunter Christopher Brookmyres Krimi "Wer schlafende Hunde weckt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 05.01.2013

Martin Weigert macht sich auf Netzwertig grundsätzliche Gedanken über die sozialen Netzwerke und kommt zu dem Ergebnis: "Facebook ist ein in der Geschichte der Menschheit bisher einzigartiges Experiment. Nur weil das soziale Netzwerk sich jetzt über viele Jahre erfolgreich in einer bestimmten Struktur präsentiert hat, bedeutet dies nicht, dass sie die idealste Form für die Zukunft darstellt. Die Zeit ist gekommen, dem generalistischen Newsfeed die Existenzfrage zu stellen."
Stichwörter: Zukunft, Soziale Netzwerke

Weitere Medien, 05.01.2013

Frank Olbert kommentiert im Kölner Stadtanzeiger die Broder-Augstein-Debatte: "Während sich Augstein einer Verschwörung von Fundamentalisten gegenübersieht und damit Antisemitismus zumindest befördert, packt Broder reflexhaft die Nazi-Keule aus. Neben der Spur sind beide. Bei alldem aber fragt man sich, was Augstein die Prominenz verschafft, zu den zehn Wortführern des Antisemitismus gerechnet zu werden."

Birgit Walter befasst sich in der FR/Berliner Zeitung mit der schwierigen Arbeitssituation von Theaterschauspielern und -mitarbeitern, insbesondere am Maxim Gorki Theater in Berlin, wo nach Intendantenwechsel zahlreiche Kündigungen ausgesprochen wurden.

Welt, 05.01.2013

Die unübersichtliche Lage des syrischen Bürgerkriegs stellt eine enorme Gefahr für Journalisten dar, berichtet Alfred Hackensberger: Nirgends sind in den vergangenen zwei Jahren so viele Reporter gestorben wie in Syrien. Doch der Tod zwischen den Fronten ist nicht das einzige Risiko: "Eine ganz neue Gefahrendimension sind mittlerweile Entführungen. Mindesten vier Journalisten wurden von Milizen der FSA gekidnappt oder vom Regime verhaftet."

Weitere Artikel: Manuel Brug schreibt den Nachruf auf den Münchner Schauspieler Thomas Holtzmann. Sky Nonhoff gratuliert Adriano Celentano zum 75. Geburtstag. Anna Miller geht mit dem Artdirector Beda Achermann Jasmintee trinken. Der Designer, Autor und Nachtklub-Betreiber Rafael Horzon interviewt sich selbst zu seiner neuen Platte "Me, my Shelf and I". Besprochen werden der ZDF-Dreiteiler "Das Adlon" ("Mehr große Fernsehoper geht nicht", findet Manuel Brug) und Martin Kušejs Inszenierung von David Mamets "Die Anarchistin" am Münchner Residenztheater.

In der Literarischen Welt bedauert der Schriftsteller Burkhard Spinnen in einem Essay, dass schriftlicher Verkehr zunehmend den unangenehmen Dingen vorbehalten bleibt, während gute Nachrichten lieber (fern)mündlich überbracht werden: "Die letzten beiden Jahrhunderte haben solche Mauern aus gedrucktem Kanzlei- und Amtsdeutsch aufgehäuft, hinter dem die Wahrheit immer wieder eingesperrt und ermordet wurde, dass schließlich als Reaktion darauf die guten Nachrichten dem Ritual und der Schriftlichkeit mehr und mehr entrissen wurden."

Weiteres: Jan Küveler telefoniert mit Jonathan Lethem über dessen neues Buch "Bekenntnisse eines Tiefstaplers". Besprochen werden unter anderem Manfred Flügges Eva Herrmann-Biografie "Muse des Exils", Neuübersetzugen von "Madame Bovary" und der "Kameliendame", Gaito Gasdanows "Das Phantom des Alexander Wolf", M. Agejews "Roman mit Kokain", Richard Hughes' wiederentdeckter Roman "In Bedrängnis" (Leseprobe bei "Vorgeblättert"), Bernd Stövers USA-Geschichte "United States of America", Richard von Schirachs "Die Nacht der Physiker" (Leseprobe bei "Vorgeblättert") und Sylke Kirschnicks Kulturgeschichte des Zirkus "Manege frei!".

SZ, 05.01.2013

Der New Yorker Graffiti-Uradel ist im Blingbling-Barock geendet, seufzt Peter Richter und erinnert wehmütig an die alten Zeiten des HipHop zwischen Breakdance und Graffiti: "Um sich klar zu machen, was zwischen damals und heute in New York passiert ist, kann man einfach U-Bahn fahren. Jeder, der ein Smartphone besitzt, spielt darauf 'Subway Surfer': Ein ertappter Graffitisprayer muss über fahrende Züge vor dem Bahnwärter flüchten. Zwei alte Jugendkulturtechniken, das illegale Sprayen und Surfen auf Bahnwagen, hängen heute also tot im App-Store über dem Zaun, und von außen sind die Züge so sauber silbern und spiegelglatt, als hätte es Spraydosen niemals gegeben.

Weiteres: Für Lothar Müller steht das Wiesenthal-Ranking von Jakob Augstein im größeren Zusammenhang symbolischer Weltpolitik: "Das Ranking gehört zur publizistischen Ausweitung der Kampfzone, in der aktuell in Israel wie in den Vereinigten Staaten um die künftige Politik Israels im Nahostkonflikt gestritten wird." Jens Bisky meldet, dass sich in der Causa Suhrkamp nun auch Autoren des wissenschaftlichen Verlagsprogramm "fassungslos" gezeigt haben. Den ziemlich überraschenden Kinoerfolg von "Ziemlich beste Freunde" hält Joachim Hentschel mitunter auch für das Resultat einer beherzten Social-Media-Kampagne. Burkhard Müller begibt sich auf die Suche nach den Ursprüngen der Heiligen Drei Könige. Für den Kunstmarkt war 2012 "ein Jahr der Rekorde und Höchstpreise", bilanziert Dorothea Baumer. Egbert Tholl schreibt den Nachruf auf den Schauspieler Thomas Holtzmann.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Elaine Sturtevant in der Kunsthalle Zürich und Walter Kempowskis Aufzeichnungen aus den Jahren 1956 - 1970 (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende erklärt Reymer Klüver, warum sich die Völkergemeinschaft mit einem Eingreifen in den syrischen Bürgerkrieg so schwer tut. Helmut Martin-Jung verzweifelt über der Ausdifferenzierung des einst so überschaubaren Mediums Fernsehen. Joachim Käppner erinnert an die Befreiungskriege. Außerdem plaudert Antje Wewer mit dem Schauspieler Bradley Cooper.

FAZ, 05.01.2013

Hansgeorg Hermann erklärt, warum der französische Comic-Autor Jacques Tardi die ihm angetragene Aufnahme in die Ehrenlegion pflichtgemäß anarchistisch und "mit größter Entschiedenheit" abgelehnt hat: Keine Macht und keine Privilegien, und schon gar nicht von einem Orden, dessen Großmeister die Pariser Kommune niederkartätschen ließen. Julia Voss nimmt es sehr positiv auf, dass sich immer mehr Museen an Kindern ausrichten. Hans Hütt schildert die irrsinnige Karriere des "Stabilitätsankers" in der politischen Rhetorik. Nadya Hartmann unterhält sich mit dem Islamwissenschaftler Thomas Bauer, der die in Orient wie Okzident gepflegte Gegenüberstellung von kurzem "Goldenen Zeitalter" und tausend Jahre währendem Niedergang aufbrechen will. Jordan Mejias sammelt Reaktionen auf Al Dschasiras Expansion in die USA. Gerhard Stadelmaier verabschiedet den verstorbenen Schauspieler Thomas Holtzmann. Salomon Korn nimmt in einer Meldung Jakob Augstein gegen den Vorwurf in Schutz, einer der "gefährlichsten Antisemiten der Welt" zu sein. (In einem Interview online glaubt Korn allenfalls, dass Augstein so wenig Ahnung von Israel hat wie das Simon-Wiesenthal-Center von deutschen Publizisten).

Besprochen werden Teju Coles Roman "Open City", Barbara Beys' Blick auf das Amsterdam unter deutscher Besatzung "Leben mit dem Feind" und ein Bildband zu Marcel Proust, der vor hundert Jahren "Die Suche nach der verlorenen Zeit" begann (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

In der Frankfurter Anthologie, die nach Abschaffung von Bilder und Zeiten jetzt die Aufmacherseite des Feuilletons füllt, schreibt Albert von Schirnding über Heinrich Deterings Gedicht "Kilchberg"

"täglich andere Ängste
und immer dieselbe Angst
die erste die letzte die längste
..."