Heute in den Feuilletons

Genug Papier verschwendet

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2012. Anlässlich des Petreaus-Skandals philosophiert die SZ über die Schriftmedien der Liebe; die FAZ denkt angesichts des auch auf Twitter ausgefochtenen Konflikts zwischen Israel und Hamas über die Schriftmedien des Krieges nach. Die taz würdigt Gudrun Guts Beitrag zur Poptheorie. In der NZZ erklärt Erwin Mortier die diversen belgischen Separatismustendenzen. Und die Welt amüsiert sich über Gewinner und Verlierer der Political Correctness.

Welt, 16.11.2012

Der Architekt Christoph Ingenhoven, diesjähriger Gewinner des Internationalen Hochhauspreises, erklärt Britta Nagel im Interview, warum Hochhäuser zu Recht ein Imageproblem haben: "Weil gute Hochhäuser weltweit Mangelware sind." Elmar Krekeler fährt mit Héctor Tobar durch Los Angeles und lässt sich die Schauplätze zeigen, an denen Tobars neuer Roman "In den Häusern der Barbaren" spielt. Alan Posener freut sich über eine Verjüngungskur durch die Songs des britischen Sängers Jake Bugg. Jan Küveler notiert in der Glosse mit Blick auf Xavier Naidoo, dass auch der perfekte Schwiegersohn auf die "möglicherweise justiziable Nachtseite der Political Correctness" fallen kann. Der Deutschen Bank fehlt noch ein Konzept für ihre Kunsthalle, stellt Tim Ackermann fest.

Auf der Forumsseite amüsiert sich Henryk Broder über den Preis für Zivilcourage Das unerschrockene Wort, der 2013 nicht Salman Rushdie oder Pussy Riot verliehen wird, sondern einer Regensburger Initiative, die den Aufkleber "Rassisten werden hier nicht bedient" an die Türen ihrer Lokale klebt: "Die Guten wollen sich gut fühlen - zum Nulltarif."

NZZ, 16.11.2012

Der Sieg der flämisch-nationalistischen Partei N-VA bei den jüngsten Lokalwahlen hat die Konföderalismus-Debatte in Belgien neu angeheizt, berichtet der belgische Schriftsteller Erwin Mortier. Wie genau diese Konföderation aussehen soll, davon habe freilich jede Seite ihre eigenen Vorstellungen: "Auch die französischsprachigen Belgier haben als Reaktion auf das flämisch-nationale Getöse bereits zur Föderation Wallo-Brux aufgerufen. Das sieht zweifellos niedlich auf dem Briefpapier aus, aber staatsrechtlich ist es so sinn- wie folgenlos. Nichts hindere die Flamen, hieß es sodann vonseiten der Wallonen, ebenfalls eine Föderation Flämisch-Brüssel zu gründen. Glücklicherweise fanden sie kein Gehör - es wird schon genug Papier verschwendet."

Do-it-yourself boomt, überall wird geschreinert, geschrebert und gestrickt. Joachim Güntner hält es jedoch für Unfug, den Trend zum Selbermachen gleich zur sozialen Utopie, zum Ausstieg aus der Konsumgesellschaft zu erklären: "Alles Selbermachen hat den Charakter des Mitmachens und Weiterführens. Niemand beginnt bei null. Das individuelle Etwas des Selbstgemachten tritt erst am Ende der Fertigungskette zum Produkt hinzu."

Weitere Artikel: Susanne Ostwald zieht eine überwiegend positive Bilanz des 7. Internationalen Filmfestivals Rom, das erstmals unter der Leitung von Marco Müller stattfand. Marc Zitzmann stellt den Pariser Erotik-Verlag La Musardine vor.

Besprochen werden Marcel Schwalds Sprachperformance "Host Club" am Theater Bern und Dylan Horrocks' Graphic-Novel-Klassiker "Hicksville" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 16.11.2012

Sophisticated findet Nadja Geer nicht nur Gudrun Guts neues Album "Wildlife", sondern die ganze Frau: "Weiblichkeit ja, scheint Gudun Guts Album zu sagen, aber dafür gibt sie nicht ihren ganz persönlichen Konstruktivismus auf. 'Ich finde es nicht gut, wenn die Frau das Immanente ist' - das ist schon ein spitzenmäßiger Satz, den Gudrun Gut da in einem Interview gesagt hat, und er ist weit radikaler, als er sich anhört, denn in der Poptheorie werden Frauen oft genau so dargestellt." (Hier kann man die Songs hören)

Außerdem: Rudolf Walther resümiert einen Vortrag von Sighard Neckel am Frankfurter Institut für Sozialforschung zum Thema "Jenseits der bürgerlichen Gesellschaft: Refeudalisierung und Postdemokratie". Daniel Bax wundert sich, dass Xavier Naidoo sich wundert, wegen eines gemeinsamen Raps mit Kool Savas angezeigt worden zu sein.

Besprochen werden die Ausstellung "Geschlossene Gesellschaft" in der Berlinischen Galerie, die "Künstlerische Fotografie in der DDR 1945-1989" zeigt, und das neue Album "Wildlife" der Berliner Musikerin Gudrun Gut. "Allgemeinplätze zweier erschreckend selbstverliebter Männer" bescheinigt Jörg Sundermeier schließlich dem gemeinsam vom Dalai Lama und Stephane Hessel verfassten Buch "Wir erklären den Frieden!" (mehr dazu in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 16.11.2012

Der Verband der deutschen Filmkritik fordert in einem offenen Brief an die Presseagenturen und Filmverleiher mehr originalsprachliche Pressevorführungen. Auch das Kinoteam des Perlentaucher unterstützt das Anliegen ausdrücklich.
Stichwörter: Filmverleih

SZ, 16.11.2012

Die Liebesaffäre um Ex-CIA-Direktor David Petraeus und dessen zehntausende indiskrete Mails (bei Gawker finden wir eine verdienstvolle Überblicksgrafik) lässt Burkhard Müller nochmal gründlich materialistisch über die Schriftmedien der Liebe philosophieren. Was ändert sich, wenn Liebessehnsucht auf Distanz nicht mehr Gegenstand von papiernen Briefen oder Flüstereien am Telefon ist? Die Mail "ist vielleicht in mancher Hinsicht ein romantischeres Phänomen als der handfeste Brief, an dem man sich notfalls die Hände abwischen konnte wie an einer Schürze. Die Mail west, was von ihrer nüchtern technischen Gestalt verdeckt wird, ganz im Äther. ... Und da bei Abfassung und Absendung der Mail alle physischen Tätigkeiten und Hemmnisse aufgehoben sind, kein Kiel mehr übers Papier kratzt, kein Postkasten aufgesucht, noch nicht einmal eine Marke abgeleckt werden muss, kann der Zustand schwellenlos dauern."

Weitere Artikel: Tim Neshitov würdigt den schwerkranken russischen Philosophen Grigorij Pomeranz. Trotz Thea Dorns Versuch der Schadensbegrenzung endete der Auftaktabend des Münchner Literaturfests als "Zickenkrieg der Lobbyisten", berichtet Christopher Schmidt. Wolfgang Wittl entnimmt den Forschungen der Musikwissenschaftlerin Rita Steblin, dass die Sängerin Elise Barensfeld Beethovens "Elise" gewesen sein könnte. Experten bezweifeln, dass es sich bei der Aufnahme auf einer kürzlich aufgetauchten Wachsrolle tatsächlich (wie in diesem Fernsehbeitrag behauptet) um ein Dokument der berüchtigten "Hunnenrede" Wilhelms II. handelt, berichtet Till Briegleb. Rudolf Neumaier meldet die Beteiligung eines katholischen Pfarrers am rechtsextremen Hetzblog kreuz.net.

Besprochen werden die 9. Shanghai Biennale, Wiener Aufführungen von "Iphigenie en Aulide" (hier) und "Alceste" (hier) sowie David Mitchells Roman "Die tausend Herbste des Jacob de Zoet" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 16.11.2012

Der aktuelle Konflikt zwischen Israel und Hamas wird auch im Netz, vor allem aber auf Twitter ausgefochten (von Israels Seite aus etwa hier), beobachtet Michael Hanfeld auf der Medienseite: "Über den Krieg wird heute also in maximal 140 Anschlägen langen Fragen und Antworten geredet. Doch liegt natürlich nicht nur darin eine Verkürzung. Bevor der erste Kriegsberichterstatter einen Beitrag abgesetzt hat, sind die Einschläge hüben wie drüben tausendfach kommentiert worden." In Deutschland ergreift unterdessen die taz auf Twitter eindeutig Partei und man ist echt froh, dass die Leser antworten können.

Im Feuilleton hält es Peter Leppelt, selbst Geschäftsführer eines Datenschutzunternehmens, für unerträglich, dass betriebliche Datenschutzbeauftragte mangels Weisungsbefugnis zum Dasein "als zahnloser Tiger oder Witzfigur" verdammt sind. Mark Siemons erläutert die verblüffenden Aspekte der Antrittsrede des neuen chinesischen Parteivorsitzenden Xi Jinping. Niklas Maak stellt die Berliner Arbeit des gerade mit dem Häring-Preis ausgezeichneten Architekturbüros Barkow Leibinger vor. Christian Wildhagen erfreut sich am dieses Jahr "besonders originellen" Programm der Tage Alter Musik in Herne. Jürg Altwegg weiß, dass sich die jungen Leute im arabischen Kulturkreis heute untereinander weit besser verständigen können als noch vor der Jahrtausendwende. Oliver Jungen meint bei einer Lesung des Autors John Lanchester (weitere Tourdaten) trotz aller Gesellschaftskritik "alten Adel vor sich zu haben". Oliver Tolmein befasst sich mit einem Gesetzentwurf zur medizinischen Zwangsbehandlung.

Besprochen werden Yash Chopras Bollywood-Film "Solang ich lebe", die Ausstellung "Trading Style - Weltmode im Dialog" im Weltkulturenmuseum in Frankfurt ("Hingehen und unbedingt die Kinder mitnehmen", rät Wiebke Hüster) und Bücher, darunter Harald Hartungs "Tag vor dem Abend" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).