Heute in den Feuilletons

Ein echtes Straßenkind

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.11.2012. Die taz lauscht beim Open-Mike-Wettbewerb Matrosenlyrik und Primzahlgeschichten. Im Falter bleibt Daniel Kehlmann bei seiner Kritik am deutschen Regietheater. Im Arts Journal beklagt Bernhard Haitink einen pathologischen Mahler-Kult. Welt und Berliner Zeitung diskutieren über die Zukunft der Krawallschachteln in der Politik. Und die SZ beobachtet BBC-Journalisten, die BBC-Journalisten zur Krise bei der BBC befragen.

TAZ, 13.11.2012

Beim Berliner Open-Mike-Wettbewerb hat Detlef Kuhlbrodt eine bürgerliche Erfahrung gemacht: "Komischerweise beeinflusste der Sitzplatz zwar das Wohlbefinden, aber nicht unbedingt das Urteil über die Texte. Viele, die man etwas bedrängt direkt vor der Bühne gehört hatte, fand man trotzdem toll, wie etwa die seltsame, äußerst präzise Matrosenlyrik des 1989 in der Ukraine geborenen Autors Yevgeniy Breyger, den Auftritt des späteren Preisträgers Martin Piekar, des einzigen Autors, der popkulturelle Zeichen zwischen queer und Grufti trug und ein wenig an den Sänger Antony Hegarty erinnerte, oder auch die sehr schöne Primzahlengeschichte '17, 23, 17, 23' von Kerstin Schubert, die aus der Perspektive eines autistischen Mädchens erzählt war. "

Weiteres: Aram Lintzel beobachtet eine zunehmende ästhetische Konvergenz in der Gesellschaft: "Besserverdiener und Arme ohne Geld betreiben modisches Aneignungspingpong, sie werden zu Preppies der Unterklasse und zu Prolls der Oberschicht." Besprochen werden die Fluxus-Retrospektive "Kunst für Alle" im Dortmunder U, Hans Nieswandts Knef-Remix und Luiz Ruffatos Roman "Es waren viele Pferde" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

NZZ, 13.11.2012

Joachim Güntner berichtet von Erkenntnissen der Neurologie, nach denen die Hirnaktivitäten beim Lesen auf einem beleuchteten Display niedriger sind als bei einem Reader mit E-Ink oder sogar auf Papier. Dies bewertet die Studie offenbar als positiv. Thomas Schacher berichtet von den Tage für Neue Musik in Zürich.

Auf der Medienseite berichtet Cornelia Derichsweiler von den Protesten bei El Paìs. Ein Viertel der eigentlich schwarze Zahlen schreibenden Zeitung soll entlassen werden, um Verluste des Mutterkonzerns auszugleichen.

Besprochen werden die Architekturausstellung "9 + 1 Ways of Being Political" im New Yorker Moma, Frank Castorfs Rückkehr zu Dostojewski mit dem Stück "Ein junges Weib (Die Wirtin)" an der Berliner Volksbühne, Daniel Odijas Roman "Auf offener Straße" und Matthias Göritz' Gedichte "Tools" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 13.11.2012

Daniel Kehlmanns neues Stück "Der Mentor" ist gerade in Wien uraufgeführt wurde. Im Gespräch mit Wolfgang Kralicek im Falter hält er an seiner Kritik des heutigen Regietheaters fest: "Was deutschsprachige Dramatik angeht: Es wäre eben schön, wenn das Spektrum breiter wäre. Jelinek und Pollesch werden aufgeführt, weil sie so schreiben, wie die Regisseure das wollen, und andere, die das nicht tun, führt man nicht auf, und Regisseure, die anderes Theater machen wollen, werden an den großen Bühnen nicht engagiert. Und wer immer etwas an diesem System kritisiert, wird sofort lächerlich gemacht..."

Götz Aly sieht in der Wahl der Grünen Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt das Ende von Hart & Laut in der Politik, wie er in der Berliner Zeitung schreibt: "Die Zeit derjenigen ist abgelaufen, die gegen die Wand donnern, nach kurzer Besinnungslosigkeit von einer 'herben Klatsche' schwadronieren und sodann, als wäre nichts gewesen, einfach weiterbrausen wollen. Die Freundinnen und Freunde der nassforschen Umgangssprache, die Krawallschachteln, die hyperaktiven politischen Sprechautomaten à la Claudia Roth, Horst Seehofer oder Oskar Lafontaine verlieren an Zuspruch."

Aus den Blogs, 13.11.2012

In seinem Blog auf artsjournal.com zitiert der bekannte Musikkritiker Norman Lebrecht aus einem Bernhard Haitink-Interview in der Branchenzeitschrift Das Orchester. Darin wendet sich der Dirigent gegen den "Mahler-Kult": "Es ist ein Steckenpferd von mir und eine große Sorge. Dieser Mahler-Kult: Es gibt Leute, die nur zu einem Konzert kommen, wenn Mahler gespielt wird. Nach einer Aufführung von Mahlers dritte Sinfonie habe ich einmal einen Brief gekommen: 'Ich war so gerührt, ich habe das ganze Stück über geheult.' Fast hatte ichzurückgeschrieben: 'Sie sollten einen Psychiater aufsuchen.' Das habe ich natürlich nicht getan. Es sind Einzelfälle, aber dieser Mahler-Kult - damit wird Mahler nicht gedient. Aber es ist so, und vielleicht wird es nach diesem Jubiläum wieder weniger werden."

Auf die Frage, ob es ein Mysterium sei, dass Juden nach 1945 nach Deutschland zurückgekommen sind, antwortet Henryk Broder in Ingo Langners Tagespost-Interview (online auf achgut): "Eher eine pathologische Dummheit. Wenn man seine eigene Hinrichtung überlebt hat, zieht man hinterher nicht in das Haus des Henkers. Genau das haben die Juden nach 1945 getan. Damit konnten sie eine moralische Überlegenheit gegenüber den Deutschen erlangen. Die edlen Opfer, die den Tätern vergeben. Und die Deutschen haben als Gegenleistung die Absolution bekommen. Und jetzt, ich sagte es schon, passen die Deutschen darauf auf, daß die Juden nicht rückfällig werden, indem sie die Palästinenser so behandeln, wie die Nazis die Juden behandelt haben. Das ist die deutsch-jüdische Symbiose im 21. Jahrhundert."

Welt, 13.11.2012

Ein pro und contra. Richard Herzinger hat in Stefan Raabs neuer Politiktalkshow außer ein paar unflätigen Witzen nicht viel Neues gesehen: "Die zur Erstsendung geladenen Politprofis spulten ihre Routinenummer ab, so lange unverdrossen vor sich hin zu reden, wie man sie lässt." Aber Andreas Rosenfelder findet trotzdem, dass "wir von Stefan Raab viel lernen können".

Weitere Artikel: Paul Badde hörte im Vatikan eine Messe Georg Ratzingers in Anwesenheit des großen Bruders zur Feier von 500 Jahren Sixtinischer Kapelle. Iris Alanyali berichtet von einer Berliner Tagung, die fragte, ob auch in Deutschland interessante Fernsehserien entstehen können. Thomas Schmid schreibt zum Tod des Politikwissenschaftlers Wilhelm Hennis. Tilman Krause erinnert an Ludwig Uhland, der vor 150 Jahren gestorben ist.

SZ, 13.11.2012

"Reine Literatur" sei der Skandal um David Petraeus' Rücktritt vom Posten des CIA-Direktors wegen einer Affäre mit der verheirateten Paula Broadwell, delektiert sich Willi Winkler. Insbesondere Broadwells Rolle in der ganzen Geschichte ist für den literarisch versierten Connaisseur von großem Reiz: "Wenn Klaus Theweleit, der einst über 'Männerphantasien' geschrieben hat, die Zeit findet, müsste er sich mit der Verwandlung dieser Frau in eine Kampfmaschine beschäftigen. Durch die Affäre wurde nicht etwa der Ehemann gedemütigt, sondern der ältere Liebhaber."

Weitere Artikel: Joseph Hanimann liest neue französische Romane über den Ersten Weltkrieg und verspürt einen "einen Hauch von ideologiefreier Realität, die vom saloppen Antiheroismus unserer Gegenwart gleich weit entfernt ist wie vom Heldenton der alten Kameraden". Ira Mazzoni berichtet von einer Tagung über den horrenden Energieverbrauch von Museen. Felix Stephan erlebt beim 20. Open-Mike-Wettbewerb in Berlin das Wohnutensil als Generationsmotiv. Helmut Mauró stellt die Arbeit des privat finanzierten Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra vor, das "einen stabilen Anschluss an die europäische Kulturlandschaft aufbauen" will.

Die zweite Seite der SZ ist dem momentanen BBC-Skandal um Jimmy Saville und der Sendung Newsnight gewidmet. Dass die BBC die Geschichte unter den Teppich kehrt, kann man wirklich nicht behaupten, findet Christian Zaschke, der sich an Monty Python erinnert fühlt, wenn der angeschlagene Sender Gespräche überträgt, in denen "BBC-Journalisten vor dem Londoner BBC-Hauptquartier ... andere BBC-Journalisten zur Krise bei der BBC" befragen.

Besprochen werden neue Klassikveröffentlichungen, die Mockumentary "Fraktus", eine Skulpturenausstellung von Martin Honert im Hamburger Bahnhof in Berlin und Bücher, darunter die von Helmut Dieterlamm und Werner Roller herausgegebenen "John Lennon Letters" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 13.11.2012

"Fifty Shades of Grey" sind der FAZ einen weiteren Aufmacher wert. Heute geht die Anglistin Julika Griem zur Erklärung des literarischen Massenphänomens auf tiefenstrukturelle Spurensuche. Im Streit um das Frankfurter Julius-Bild hält Dieter Bartetzko Kia Vahlands in der SZ geäußerte Kritik am Städelmuseum für "ehrenrührig" und "rufschädigend". Hans-Christian Rössler stellt Christina Friedrichs Projekt "Keep me in Mind" vor, für das die letzten Shoah-Überlebenden ihre Erinnerungen gesammelt haben. Katharina Teutsch resümiert den 20. Open-Mike-Wettbewerb in Berlin, der auch als "wichtigster Nachwuchspreis für deutschsprachige Literatur" immer "noch ein echtes Straßenkind" ist. Paul Ingendaay berichtet vom zunehmenden Protest gegen Zwangsräumungen in Spanien.

Im Medienteil würgt Johanna Adorján regelrecht am heute auf Sat1 ausgestrahlten, dritten Teil der mittlerweile sesshaft gewordenen "Wanderhure".

Besprochen werden eine Ausstellung über Kunst im Zweiten Weltkrieg im Musée d' Art Moderne in Paris, Vincent Boussards "Madama Butterfly"-Inszenierung an der Hamburger Staatsoper und Bücher, darunter Alexandra Klobouks dystopisches Bilderbuch "Polymeer" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).