Heute in den Feuilletons

Es sind die verrückten Wissenschaftler, die ich liebe

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.11.2012. Die Welt erlebt einen intensiven Moment mit Tori Amos und lernt auch von ihrer Literaturpreisträgerin Zeruya Shalev, wie langweilig wir sind: Immer auf dem Mittelweg. In der NZZ erinnert sich Martin Meyer freudig daran, wie Hans Blumenberg ihn vom Schlafen abhielt. Die taz fürchtet, dass Toleranz auch nur eine perfide Form der Machtausübung sein könnte. In der FAZ wünscht sich Bodo Kirchhoff eine literarische Bestsellerliste. Und die SZ verliebt sich in die Zahnlücke von Léa Seydoux. Im Tagesspiegel trinkt Rudolf Thome ein grünes Fläschchen mit Hong Sang-soo.

Welt, 10.11.2012

Echt intensiv fand Sören Knittel die Begegnung mit der Sängerin Tori Amos, die er in Berlin zum Mittagessen traf: "'Claude Debussy und Richard Wagner waren doch total wild', ruft sie, 'die waren nicht irgendwie außerhalb und haben ihre Musik analytisch konzipiert - die waren doch mittendrin!' Dann noch einmal: 'Mit-ten-drin!' Diese Emotionen, dieses Aufgewühltsein, das 'Drin'-Sein beim Komponieren und später beim Auftreten, das sei ihr wichtig, auch bei ihrer eigenen Musik. 'Es sind die verrückten Wissenschaftler, die ich liebe.'"

Weiteres: Manuel Brug unterhält sich mit Rolando Villazon über sein neues Verdi-Album. Besprochen werden die etwas desaströse Uraufführung von Daniel Kehlmanns Stück "Der Mentor" in Wien und eine Ausstellung zum Filmklassiker "Kinder des Olymp" in der Pariser Cinémathèque Française.

Die Literarische Welt huldigt der Autorin Zeruya Shalev, die gestern den Welt-Literaturpreis erhielt und in ihrer Dankesrede darüber sprach, was es bedeutet, eine israelische Autorin zu sein: "Das Land versucht, mich zu ändern, und ich versuche, das Land zu ändern, und wie die meisten Paare scheitern auch wir die meiste Zeit."

In seiner Laudatio erklärt Albert Ostermaier: "Zeruya Shalevs Bücher zeigen uns, wie eingeschlafen wir sind, wie taub und betäubt, wie ruhiggestellt und Bedürfnis befriedigt, wie ermutigt mutlos wir sind, wie schmerzgestillt, immer auf dem Mittelweg."

Besprochen werden unter anderem Kiran Nagarkars Bombay-Roman "Die Statisten", Ulrike Jureits geopolitische Studie "Das Ordnen von Räumen" und Dagmar Röhrlichs Geschichte der Erde "Urmeer".

Tagesspiegel, 10.11.2012

Filmemacher Rudolf Thome schreibt eine schöne Liebeserklärung an seinen koreanischen Kollegen Hong Sang-soo, dessen Filme gerade im Berliner Arsenal-Kino gezeigt werden: "Filme von Hong Sang-soo sehen ist wie Alkohol trinken. Man wird betrunken davon. Soju ist ein teuflisches Gesöff, fast doppelt so stark wie Wein, aber süß wie Saft. Hong Sang-soo baut seine Filme um diese kleinen grünen koreanischen Flaschen herum."

NZZ, 10.11.2012

Zum Auftakt einer neuen Rubrik namens "schlaflos" schreibt Martin Meyer eine kleine Kulturgeschichte der Insomnia und erinnert sich an spätnächtliche Telefonate mit dem Philosophen Hans Blumenberg: "Wie für Proust war für Blumenberg die Nacht der Tag seiner Arbeit. Höchst selten indessen und nur für redaktionelle Notfälle rief er einmal zur normalen Morgen- und Bürostunde an. Die Abschiedsformel lautete dann stets und für ihn völlig konsequent: 'Gute Nacht, Herr Meyer.'"

Vor neunzig Jahren schuf Fritz Lang mit Dr. Mabuse die Verkörperung des ultimativen Schreckens; Jörg Becker fasst die Entstehungsgeschichte des Stummfilmklassikers zusammen und überlegt, welche zeitgeschichtlichen Tendenzen die Mabuse-Figur wohl heute abbilden könnte: etwa das "Symptom für die dramatisch wachsende Kluft zwischen Kapital und Arbeit, Reichtum und Armut, zwischen der 'kapitalistischen Erzählung' vom unaufhaltsamen Wachstum und den destruktiven Intermezzi katastrophischer Krisen, die immer auf den Krieg als systemisch notwendige Kapitalvernichtung verweisen."

Weitere Artikel: Marisa Buovolo beleuchtet die enge Zusammenarbeit Rainer Werner Fassbinders mit der Kostümbildnerin Barbara Baum: ihre Entwürfe spiegeln kongenial "die seelischen Abgründe seiner Frauenfiguren wider und stülpen das Innen nach aussen". Andrea Köhler berichtet von überwältigender Hilsbereitschaft im von "Sandy" verwüsteten New York.

Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller reflektiert über das problematische Reizwort der "Postdemokratie", das zwar "den Sinn der Bürger für Gefahren" schärfen, aber auch den "Willen zum politischen Engagement schwächen" könne. Uwe Justus Wenzel macht sich ausgehend von drei neuen Büchern über Demokratie (von Juliane Rebentisch, Catherine Colliot-Thélène und Miguel Abensour) Gedanken über die Vorstellung vom 'Volk', das dem Demokratiebegriff zugrunde liegt. Abgedruckt ist die Dankesrede des Staats- und Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde, des erst zweiten Juristen unter den 59 Preisträgern des Sigmund-Freud-Preises für wissenschaftliche Prosa der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Daniel Ender zieht eine kritische Bilanz der 25. Auflage des Neue-Musik-Festivals "Wien Modern" , das "zu einer Spielwiese der Beliebigkeit geworden" sei. Außerdem besprochen werden eine Inszenierung von Daniel Kehlmanns "Der Mentor" am Wiener Theater in der Josefstadt ("ein leidlich gelungener Abend, Verbesserungen sind aber durchaus möglich", resümiert Martin Lhotzky) und die Ausstellung "Hollywood Costume" im Londoner V&A.

TAZ, 10.11.2012

Der am 16. November anstehende "Tag der Toleranz" lässt Jasmin Kalarickal ziemlich skeptisch über den Begriff "Toleranz" nachdenken: Eigentlich bedeutet der ja nur ziemlich gönnerhaftes "Dulden". "Völlig zu Recht können Minderheiten den Gedanken der Toleranz zurückweisen. Wer will schon von der Großzügigkeit der Mehrheit abhängig sein ... Es geht um Normen, um die Frage des vermeintlich 'Anderen'. Es geht um Macht."

Weiteres: Norman Birnbaum resümiert den zurückliegenden Wahlkampf in den USA. Im Gespräch mit Ambros Waibel hält es Marco D'Eramo für voreilig, Obama als Präsident der gesammelten Mehrheit der Minderheiten einzuschätzen, und rechnet für die Zukunft mit "Kompromissen, die aber nicht so aussehen dürfen, als seien sie welche". Eine neue Studie bekräftigt die Kritiker der umstrittenen Gemaabgabenreform, berichtet Lars Friedrich. Jan Feddersen versucht verzweifelt, sich aus Werbemailverteilern auszutragen: "Reklame? Oh, Unkraut!" Jürgen Vogt schaut eine von Hugo Chávez mitkonzipierte Telenovela.

Besprochen werden einige Bücher, darunter D. T. Max' Biografie über David Foster Wallace, in der man man "so ziemlich alles" erfährt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 10.11.2012

Eine Europäische Politische Union zum Zweck der Euro-Rettung sieht der Politologe Jan-Werner Müller bis auf weiteres noch nicht heraufdämmern. Zum einen gibt es im Einzelnen noch viel zu viele Unklarheiten, zum anderen scheint ihm das Instrument selbst für das Vorhaben nicht ganz geeignet: "Sogar ein direkt gewählter Kommissionspräsident hätte keine Handlungsspielräume, da die Regeln nur dann glaubwürdig sind, wenn sie nicht nach Belieben geändert werden können. Meinte man es hingegen mit der Demokratie ernst, dann ist nicht ersichtlich, wie eine Politische Union die Euro-Rettung garantieren kann. Denn Demokratie heißt Unberechenbarkeit - man weiß nie, wie es ausgeht; doch Unberechenbarkeit vertragen die Märkte bekanntlich ganz und gar nicht."

Weiteres: Joachim Hentschel erliegt in einem Pariser Café dem Charme der Schauspielerin Léa Seydoux, die mit noch nicht 30 schon für fast alle großen Filmregisseure vor der Kamera gestanden und sich mit Jean-Luc Godard über das Kino gestritten hat. Rudolf Neumaier führt durch die derzeit angesagte Mode unter katholischen Priestern. Harald Eggebrecht stellt den Cellist Christian Poltéra vor.

Besprochen werden der Dokumentarfilm "More than Honey", der sich mit dem Bienensterben befasst, Alan Bennetts "People" am National Theatre in London, die Ausstellung "Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit" im Lenbachhaus in München und Bücher, darunter Don DeLillos Erzählungsband "Der Engel Esmeralda" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende erinnert Julian Hans an die Stalinschen Säuberungen um 1937 (auch um zu verdeutlichen, dass sich die Verfahren gegen Pussy Riot und andere Oppositionelle mit diesen nicht vergleichen lassen). Johan Schloemann weint die ehrlichen Tränen eines Snobs angesichts dessen, dass man nicht mal mehr beim Reisen erster Klasse von den Signaturen des Pöbels wie Bild-Zeitung und Fast-Food verschont bleibt und dass umgekehrt einst teure Design-Innenausstattungen dank günstigem schwedischen Nachbau nun für jedermann in greifbarer Nähe liegen. Außerdem spricht Antje Wewer mit Marianne Panton.

FAZ, 10.11.2012

In Deutschland wird seit Jahrhunderten beschnitten, im Nahen Osten sogar seit dem Altertum, schreibt Reinhard Bingener in einem Kommentar. Dieser Praxis das "Kindeswohl" entgegenzusetzen, sei nicht stichhaltig: "Die einen Eltern halten ihre Kinder bewusst von jeder Religion fern und halten das für einen Dienst am Kindeswohl, andere machen sie mit ihrer eigenen Tradition vertraut und halten das mit ebenso gutem Recht für einen Dienst am Kindeswohl. Der weltanschaulich neutrale Staat muss mit dieser Vielfalt umgehen."

In Bilder und Zeiten spricht Bodo Kirchhoff mit Hubert Spiegel über das Schreiben: "Wer wie ich sechs Jahre an einem Roman arbeitet, geht mit seiner Lebenszeit ein hohes Risiko ein. Und dieses Risiko hat in den letzten dreißig Jahren erheblich zugenommen. Der Kuchen der Aufmerksamkeit des Publikums ist nicht größer geworden. Aber die Mittel, sich ein Stück davon herauszuschneiden, werden immer raffinierter, und das Vorgehen dabei immer dreister. Was helfen könnte, wäre die Einführung einer literarischen Bestsellerliste, um nicht länger mit dem ganzen Unterhaltungsschrott konkurrieren zu müssen."

Weiteres: Zum hundertsten Geburtstag von Kurt Tucholskys "Rheinsberg" umreisst Peter Walther die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte des "Bilderbuchs für Verliebte", angereichert um eine Farbaufnahme von Rheinsberg der Fotopioniere Rudolf Hacke und Julius Hollos aus dem Jahr 1911. Swantje Karich berichtet von der zunehmenden Beliebtheit sogenannter "Tweetups", des digitalen Austauschs über Kunsterfahrung. Melanie Mühl kann dem verbreiteten Bestreben von Firmen, ihre "Büros in Wohlfühloasen zu verwandeln", nicht viel abgewinnen.

Besprochen werden die amerikanische TV-Serie "American Horror Story" (die "dem gegenwärtigen Rest des Gruselfeldes vom Comic bis zum 3D-Blockbuster zeigt, was eine Harke ist", wie Dietmar Dath schwärmt) und Musik, darunter eine Aufnahme von Leonardo Vincis wiederbelebte Oper "Artaserse" (die "Meisterwerken Händels in nichts nach[steht]", findet Dirk Schümer). In der Frankfurter Anthologie stellt Joachim Sartorius Jakob van Hoddis' Gedicht "Kinematograph" vor:

"Der Saal wird dunkel. Und wir sehen die Schnellen
Der Ganga, Palmen, Tempel auch des Brahma,
Ein lautlos tobendes Familiendrama
Mit Lebemännern dann und Maskenbällen..."

Im Feuilleton ist Hanns Zischlers Dankesrede anlässlich seiner Aufnahme in die Mainzer Akademie der Wissenschaften und Literatur abgedruckt. Mark Siemons hat die innenpolitischen Entwicklungen Chinas in den englischsprachigen chinesischen Presseorganen China Daily und Global Times verfolgt und erkennt eine allgemeine Strategie: "einen Wandel andeuten und gleichzeitig darauf vorbereiten, dass fast alles beim alten bleibt". Robert Dollase bekommt im "La Mer" auf Sylt Gurke zum Dessert. Mit der Verfilmung von David Mitchells Roman "Cloud Atlas" haben Tom Tykwer und die Geschwister Wachowski den ersten sechsdimensionalen Film geschaffen, stellt Dietmar Dath beeindruckt fest.

Besprochen werden außerdem ein Konzert der Jazzsängerin Madeleine Peyroux in Heidelberg, Uraufführungen von Daniel Kehlmanns "Der Mentor" am Wiener Theater in der Josefstadt ("Die Pointen fallen hier, aber sie zünden nicht", urteilt Gerhard Stadelmaier) und William Forsythes Tanzstück "Study # 3" im Frankfurt LAB (bei der Wiebke Hüster "die knisternde Spannung heruntergespielter Virtuosität" erlebt) sowie Bücher, darunter Ralph Dohrmanns Debütroman "Kronhardt" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).