Heute in den Feuilletons

Du herrlich Glas, nun stehst du leer

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
03.11.2012. In der taz erklärt Ruth Klüger, warum sie sich lieber auf Rädern, statt auf Wurzeln bewegt. In der NZZ erzählt Jan Koneffke, warum in Rumänien allenfalls fantastische Literatur an die Realität heranreicht. Cargo bringt eine Hommage auf die Filme von Hong Sang-Soo. Es wäre ein Fehler, die Neonazis nicht ernst zu nehmen, meint die Welt, und ein noch größerer, ihre Macht zu übertreiben. In der Abendzeitung blickt Joseph von Westphalen in die Abgründe der Selbstverantwortung. Und Dietrich Fischer-Dieskau singt Schumann.

TAZ, 03.11.2012

Felix Zimmermann spricht ausführlich mit der Shoah-Überlebenden und späteren Literaturwissenschaftlerin Ruth Klüger, über die gerade auch ein Dokumentarfilm gedreht wurde. Mit dem Begriff "Heimat" hat sie dabei ihre Probleme: "Ich brauche keine. Wissen Sie, die Welt ist derartig voller Flüchtlinge und Migranten, mehr als je. Wenn alle diese Leute eine Heimat brauchten, dann wären sie noch schlechter dran, als sie sowieso sind. Ich bin kein Baum, ich brauche keine Wurzeln. In diesem übertragenen Sinne, dass die Kindheit Wurzel ist: ja. Aber das ist nicht dasselbe wie ein Boden. Ich habe Füße, keine Wurzeln, ich kann gehen. Sogar Auto fahren."

Felix Dachsel und Wolf Schmidt erzählen die Geschichte, wie der Stern vor einem Jahr im Zuge der NSU-Aufdeckung auf einen Verschwörungstheoretiker mit dem Decknamen Maier hereinfiel. Dieser versprach ihnen eine sensationelle Aufdeckung, die "eine Verbindung herstellt zwischen Neonazis, islamistischen Bombenbauern, deutschen und US-amerikanischen Geheimdiensten. Doch das Papier ist eine Fälschung, das gilt inzwischen als sicher. Ermittler gehen davon aus, dass Maier der Mann war, der dem Stern die peinlichste Ente seit der Entdeckung der Hitler-Tagebücher beschert hat."

Weitere Artikel: Reiner Wandler schildert die Auseinandersetzungen hinter den Kulissen der spanischen Tageszeitung "El Pais", wo rund einem Drittel der Beschäftigten gekündigt werden soll. Ingo Arend berichtet von einer Abendveranstaltung mit dem Philosophen Jean-Luc Nancy. Jürn Kruse porträtiert den Schauspieler Matthias Brandt, der am kommenden Sonntag zum dritten Mal als Kommissar von Meuffels im "Polizeiruf 110" zu sehen ist. Julian Weber spricht mit Andy Butler von Hercules & Love Affair unter anderem über musikalische Wurzeln in Punk und Hardcore, die man der discogesättigten Musik so gar nicht anhört:



Besprochen werden das neue Album von Bat For Lashes und Bücher, darunter Petros Markaris Krimi "Zahltag" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

NZZ, 03.11.2012

Realismus ist Traumarbeit - so viel hat der in Bukarest lebende Schriftsteller Jan Koneffke in Rumänien gelernt. Er faltet seine These an Tudor Arghezis Roman "Der Friedhof" von 1936 auf. Aber in Bukarest reicht es im Grunde , vor die Tür zu treten und Ceaucescus grotesken Regierungspalast, das zweitgrößte Gebäude der Welt, zu betrachten: "Das Gebäude kam mir vor wie die wirkliche Emanation eines bösen Traums, so real wie phantastisch und so phantastisch wie real, umso mehr, als sein Erbauer bereits Geschichte war, und ich fragte mich, wie man es in einem realistischen Roman wohl würde darstellen können. Die umgekehrte Vorstellung, es in den Mittelpunkt eines phantastischen Romans zu stellen, wirkte wesentlich überzeugender."

Weitere Artikel in Literatur und Kunst: der Architekturtheoriker Jörg Gleiter bringt die Schwierigkeit, Architektur zur Sprache zu bringen, zur Sprache. Sascha Roesler erinnert an das zerstörte erste Gebäude des Frankfurter Instituts für Sozialforschung, ein heute an die Nazizeit erinnernder natursteinverblendeter Kasten aus dem Jahr 1924.

Fürs Feuillleton schreibt Andrea Köhler ein eher betrübliches Stimmungsbild aus dem amerikanischen Krisenwahlkampf, der so gar nicht mehr mit Change und Hope verknüpft ist. Der Städteplaner Reinhard Seiss bilanziert mit Grausen die Zersiedelung österreichischer Städte ("expressiv-kitschige Einfamilienhäuser, banale Massenwohnbauten, minderwertige Investorenarchitektur sowie billige Handels- und Gewerbehallen") Andreas Ernst erinnert an den Beginn der Balkankriege vor hundert Jahren.

Besprochen werden Bücher, darunter eine Neuedition von André Pieyre de Mandiargues' Roman "Der Rand".

Welt, 03.11.2012

Reinhard Mohr liest einige Neuerscheinungen zu den Zwickauer Naziterroristen und zieht einen doppelten Schluss: "So dumm es ist, neonazistische Taten kleinzureden - womöglich noch deshalb, um den "guten Ruf" irgendwelcher Städte oder Dörfer nicht zu gefährden -, so falsch wäre es, diese Bande von Idioten zur Gefahr für die Republik zu erklären und sie damit auch noch aufzuwerten."

Weiteres in der Literarischen Welt: Luc Bondy erinnert sich im Gespräch an die frühe Zeit in der Schaubühne, wo die Arbeitstmosphäre auch nicht immer blendend war - und er spricht über seine Pläne fürs Pariser Odéon-Theater. Besprochen werden unter anderem Marie N"Diayes neuer Roman "Ein Tag zu lang", Joseph Stiglitz" Buch über den "Preis der Ungleichheit" in den USA und Andrew Blums Suche nach den physischen Seiten des Netzes: "Kabelsalat".

Aufmacher des Feuiletons ist Tilman Krauses Besprechung der Corot-Ausstellung in Karlsruhe. Mara Delius spekuliert über Obamas nach Sandy möglicher Weise erhöhten Amtsbonus. Matthias Heine freut sich auf eine heitere Spielzeit im Berliner HAU unter neuer Leitung. Miram Hollstein geht mit dem Regisseur Niko von Glasow im Berliner Restaurant Honigmond essen. Und Manuel Brug bepricht eine Recital-CD der Mezzosopranistin Joyce DiDonato.

Aus den Blogs, 03.11.2012

So begeistert zeigt sich Ekkehard Knörer bei Cargo von der gestern im Kino Arsenal in Berlin gestarteten Retrospektive mit Filmen von Hong Sang-Soo (bei der unter anderem auch die Perlentaucher-Autoren Lukas Foerster und Nikolaus Perneczky Vorträge halten), dass er hier seine zahlreichen Texte zum Werk des koreanischen Regisseurs gesammelt zusammengestellt hat. Warum aber finden dessen Filme - auf Festivals (wenngleich kaum in Berlin) gezeigt und gefeiert - in Deutschland ihren Weg weder in die Kinos, noch auf DVD? "Was in Deutschland Erfolg hat, hat Hong nicht zu bieten: keine Extravaganz in den Bildern, keine dick aufgetragenen Gefühle, keine feierlich überreichten Botschaften, überhaupt: nichts, das irgendwie warme Gefühle oder Gedanken hervorruft. Rein inhaltlich tut sich außer großen Sprüchen, verletzenden Sätzen, Verblendung, Betrinken, Liebe und Liebesbetrug in seinen Filmen meist wenig. Stattdessen: Form, Raffinesse, Intelligenz, List und Tücke. Die Form stellt sich freilich nicht aus, macht sich geltend vielmehr in kleinen Irritationen." Irritiert sind auch die Gäste eines Restaurants in diesem Filmausschnitt:



(via Merkur-Blog) Verzwickt ist die (offenbar immerhin nicht mit Gebühren versehene) Abmahnung, die Michael Rutschky für sein Zeitungstagebuch-Projekt im Blog Das Schema erhalten hat: Anhand von Fotos und Textausschnitten konturierte und kommentierte er, wie thematische Gegensatzpaare ("einst/jetzt", "oben/unten" etc.) in Zeitungen bedient werden. Der (spannend zu lesende) Briefwechsel mit der stellvertretenden Anwältin ist hier dokumentiert, das mindestens ebenso spannende Projekt damit aber auch in seiner bisherigen Form, leider, eingestellt. (abgemahnt wurde im übrigen ein Blogpost über diesen Text in der FR)

(via) Außerdem erfahren wir bei VR-Zone.com, dass das iPhone nun auch endgültig zum Schießen von Titelbildern des Time Magazine geeignet ist.

Weitere Medien, 03.11.2012

In seiner Kolumne für die Abendzeitung schildert Joseph von Westphalen einen Nachteil des Alleinlebens: "Der arme Single kann sich und seine Zerstreutheit nur allein verwünschen. Je mehr Personen der Haushalt hat, desto wüster kann man andere beschuldigen und ihre unerträgliche Unordentlichkeit oder ihr ebenso unerträgliches Aufräumen verantwortlich machen." Ein Trost ist aber: "Ein nicht ins Kneipenklo geplumpstes, sondern zu Hause verlegtes Handy kann man anrufen, um das geortete Stück dann gerade rechtzeitig aus der schmutzigen Wäsche zu fischen."

SZ, 03.11.2012

Tim Neshitov ist nach Mogadischu gereist und porträtiert den alten Schauspieler Said Harawe, der einst sozialistische Propaganda machte und heute von der durch Kriege und politische Clans zersplitterten Geschichte des somalischen Theaters erzählt. Und "wenn er abends die wenigen Freunde und Fans bei sich versammelt, die den Bürgerkrieg in Mogadischu überlebt haben, wenn sie süßen Tee trinken und Khat kauen, die bittere Alltagsdroge Ostafrikas, dann singt er immer noch. Nicht etwa den Hit der Siebzigerjahre, 'Die Partei ist der Lehrer der Revolution', sondern Volkslieder."

Weitere Artikel: Heinz Schlaffer denkt in einem Essay mit Jean Paul über den schönen (Wider-)Schein des Schmerzes in den Künsten nach. Peter Richter turnt sich schnaufend durchs Lieblingsfitnessprogramm von Romneys Wunsch-Vizepräsident Paul Ryan und stöhnt: Ein "Fitnessprogramm für Leute, die schon fit sind." Im Berliner HAU-Theater bleibt unter der neuen Intendantin Annemie Vanackere zumindest manches beim Alten, freut sich Peter Laudenbach, der schon fürchtete, auf die gelegentliche erfrischende "Performance-Schlägerei kurz vor Mitternacht" verzichten zu müssen. Alles an Sir Simon Rattles Auftritt in München war "Handwerk, Absicht, Können, Leichtigkeit, Lust" seufzt Reinhard J. Brembeck versonnen. Susan Vahabzadeh plaudert mit Daniel Craig über dessen neuen Bond-Film "Skyfall".

Auf der Medienseite kann Bastian Obermayer es nicht fassen, dass das Fernsehen trotz NSU-Skandal kein Interesse an Thomas Kubans auf der Berlinale gefeierten Dokumentarfilm "Blut muss fließen" über die Rechtsrock-Szene zeigt.

Besprochen werden das neue Album von Robbie Williams (das "weder Abschied noch Vermächtnis, sondern eine Rückkehr ins Hochleistungskorps der Popindustrie" darstelle, findet Max Scharnigg), die Ausstellung "Der nackte Mann" im Lentos Kunstmuseum in Linz (Johan Schloemann begutachtet daselbst "allerlei Penisse in verschiedenen Ausfertigungen") und Jürgen Schlumbohms Studie über eine Göttinger Entbindungsanstalt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende sorgt sich Miriam Meckel um die Freiheit im Netz, die sie durch immer neue, verschleierte Tracking- und Data-Mining-Manöver von Google und Facebook bedroht sieht: "Wenn wir nicht wissen, welches die Funktionsweisen und Mechanismen sind, die uns im Internet steuern oder zumindest beeinflussen, dann können wir keine Entscheidung darüber treffen, wo und wie wir dabei sein wollen."

Weiteres: Reymer Klüver schildert die wechselvolle Geschichte des Libanon. Oliver Herwig besichtigt Designprodukte aus kompostierbarem Plastik. Titus Arnu porträtiert den Berliner Künstler Frank Höhne, der nur das macht, worauf er "Bock" hat. Bei einer offenbar grausig unwitzigen Comedy-Busreise durch Berlin fühlt sich Sarah Khan in die Rolle des "Provinzdepp" gedrängt. Außerdem plaudert Kristin Rübesamen mit Vanessa Redgrave.

FAZ, 03.11.2012

Edo Reents beklagt im ganzseitigen Aufmacher eine zunehmende Infantilisierung der Gesellschaft durch Werbung und Medien und mehr noch die Digitalisierung. Andreas Kilb beobachtet eine Pressekonferenz Helmut Bergers (oder genauer des Mannes, "der Helmut Berger war"). Jürgen Dollase war für seine Gastrokolumne im Luxusrestaurant des Pariser Hotels Georges V. essen, das seine Ansprüche nicht befriedigen konnte. Günter Kowa inspiziert den neuen Sitz des Bundeskulturstiftung in Halle. Jan Wiele unterhält sich für die Medienseite mit dem Historiker Hans-Ulrich Wehler über den Rommel-Film der ARD. Auf der letzten Seite porträtiert Swantje Karich Kasper König, der nach vierzig Jahren Abschied vom Museum Ludwig nimmt.

Für Bilder und Zeiten berichtet Patrick Bahners über immer raffiniertere Methoden der amerikanischen Wahlforschung. Johanna Adorjan erinnert an ein Treffen Papst Pauls VI. mit 3.000 Roma im Jahr 1965. Jan Wiele stellt den Holländer Wijnand Boon vor, der durch Europa wandert und sich seine Unterkünfte via Twitter sucht. Auf der Schallplatten-undPhono-Seite geht's unter anderem um eine Schostakowitsch-Einspileung des Los Angeles Philharmonic unter Esa-Pekka Salonen und um eine Platte der stets noch aktiven Band Aerosmith (die vom Infantilisierungskritiker Edo Reents besprochen wird). Für die letzte Seite hat Olivier Guez den amerikanischen Autor Gary Shteyngart getroffen, der den Niedergang Amerikas beklagt.

Besprochen werden Jan-Ole Gerster Debütfilm "Oh Boy" (mehr hier), Glucks "Iphigenie" in Stuttgart und Bücher, darunter der Roman "Keine Zeit wie diese", in dem Nadine Gordimer mit dem ANC abrechnet (mehr ins unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Für die Frankfurter Anthologie liest Peter von Matt ein (von Schumann vertontes) Gedicht Justinus Kerners - "An das Trinkglas eines verstorbenen Freundes:

Du herrlich Glas, nun stehst du leer,
Glas, das er oft mit Lust gehoben;
Die Spinne hat rings um dich her
Indes den düstern Flor gewoben. (...)"

Hier singt Dietrich Fischer-Dieskau: