Heute in den Feuilletons

Das ist Lyrik, das ist Kunst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.10.2012. Die Welt feiert einen Film über die polnische Punkband Paktofonika. In der taz hat Hans Ulrich Gumbrecht Überlebensprobleme. Die NZZ fragt: "Wo lässt sich schöner von der Antike träumen als in Tunesien?" Für Spiegel Online fährt Sascha Lobo mit Big Brother in London Auto. In Meedia bedankt sich Zeit Online-Chef Wolfgang Blau bei den deutschen Onlinejournalisten, aber nicht bei den deutschen Medienkapitänen, und geht ab zum Guardian. Und natürlich: Dagens Nyheter besingt eine magische halbe Stunde.

TAZ, 17.10.2012

Hans Ulrich Gumbrecht spricht im Interview mit Elke Dauk über sein Buch "Nach 1945", die Übermacht der Vergangenheit und den Verlust der Zukunft: "In unseren alltäglichen Ängsten, auch in unseren alltäglichen Träumen, aber auch in unserem alltäglichen Verhalten gehen wir eigentlich nicht mehr davon aus, dass zumindest in großen Zügen diese Zukunft gestaltbar ist. Sondern wir gehen davon aus, dass die Zukunft besetzt ist mit einer Reihe von konvergierenden Bedrohungen, die auf uns zukommen. Also zum Beispiel eine Bedrohung wie die demografische Entwicklung, eine Bedrohung wie die Begrenztheit der Ressourcen, eine Bedrohung durch den Klimawandels und so weiter. Da haben wir gar keine Gestaltungsmöglichkeiten der Zukunft, sondern wir haben Überlebensprobleme."

Weiteres: Julian Weber liest mit Freude die neue Zeitschrift Pop. Kultur und Kritik des Bielefelder Transcript Verlages. Ingo Arend berichtet von der Design-Biennale in Istanbul.

Auf den Tagesthemenseiten unterhält sich Mirco Keilberth mit dem libyschen Journalisten Mohammed Abujanah, der das Attentat auf das amerikanische Konsulat in Bengasi für einen Weckruf hält: "Nur ein Teil der Brigaden wie Ansar al-Scharia sind wirkliche Extremisten. Die Radikalen kommen sogar meist aus dem Ausland, dem Libanon, Algerien oder Tunesien. Von denen lassen wir uns nicht sagen, wie wir zu leben haben. Wir Libyer sind bereits konservative Muslime, und die absolute Mehrheit hier will einen moderaten und typisch libyschen Islam."

Und Tom.

Welt, 17.10.2012

"Bruder Dawid, dein Film haut uns um", ruft Gerhard Gnauck Leszek Dawid zu, der mit "Du bist Gott" einen supererfolgreichen Spielfilm über die polnische HipHop-Band Paktofonika und ihren Sänger "Magik" gedreht hat, der sich 2000 umbrachte: "Die Texte sind schwer übersetzbare, doch keineswegs inhaltsleere Bewusstseinsströme. Sie reimen sich, und siehe da, im HipHop verändert sich auch das Polnische: Die vielen Zischlaute werden vermieden, es wird eine vokalbetonte Sprache daraus. Wer die Band rappen hört und sieht, der versteht, auch wenn er bisher - wie der Rezensent - mit dieser Musik nichts anzufangen wusste: Das ist Lyrik, das ist Kunst. Auch dann noch, wenn ein Text so schnell heruntergehaspelt wird, dass es wirkt wie ein Lippensport." Hier eine Hörprobe des echten Piotr "Magik" Luszcz:



Weiteres: In der Blasphemiedebatte behauptet Matthias Heine, dass es für die "Aufgeklärten und Abgeklärten Gefühle zweierlei Rechts gibt", die religiösen, die nicht geschützt sein sollen, und alle anderen. In der Leitglosse möchte Michael Pilz Kraftwerk lieber nicht in die Hall of Fame des Rock 'n' Roll einziehen sehen. Die bankrotte Stadt Wuppertal ist gerade dabei, ihr Schauspiel abzuschaffen, berichtet Stefan Keim. Alan Posener mokiert sich über "Hofkonservative" wie Spiegel-Autor Jan Fleischhauer. Besprochen wird Christian Spucks "Romeo und Julia"-Choreografie in Zürich.

NZZ, 17.10.2012

Roman Hollenstein geht ganz verzaubert durch das neue Bardo-Museum in Tunis, das ihm trotz einiger architektonischer Schwächen die gesamte Kulturgeschichte Tunesiens präsentierte: "Wo lässt es sich schöner von der Antike träumen als in Tunesien?"

Weiteres: Gerhard Gnauck erzählt, wie die Stadt Daugavpils im verarmten Osten Lettlands versucht, aus ihrem Berühmten Sohn Mark Rothko ein bisschen Kapital zu schlagen. Uwe Justus Wenzel liest in Annette Schavans Doktorarbeit nach, wann ein Fehlverhalten diskreditiert und wann es "nur peinlich" ist.

Besprochen werden eine Werkschau des Malers Aldo Solari im Kunstmuseum Solothurn, Mark Behrs Roman "Wasserkönige" und Jeremias Gotthelfs Band "Wilde, wüste Geschichten" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Weitere Medien, 17.10.2012

In FR/Berliner Zeitung erzählt Inge Deutschkron im Interview, wie sie und ihre Mutter in Berlin versteckt die Nazizeit überlebten und warum sie sich auch nach 1945 in Deutschland nie recht erwünscht fühlte: "Ich bin wachsam. Die lächerlichen Vorwände, die NPD nicht zu verbieten, empören mich. Muss ich als Opfer der Nationalsozialisten für die Steuern zahlen? Ich habe schon eine Klage beim Bundesverfassungsgericht erwogen. Und diese Nazi-Größen wurden nach 1945 erst in ihre Positionen gebracht. Ich musste mir anhören: Frau Deutschkron! Ist doch so lange her! Sie müssen endlich vergeben können."

Das zweite Obama/Romney-Duell zu später Stunde verpasst? Hier ein Stream der Debatte in voller Länge. Die ersten Kommentare aus den USA sind sich unterdessen weitgehend einig: Die Huffington Post jubelt mit großem Ausrufezeichen über Obamas Rückkehr, CNN schätzt den Erfolg etwas vorsichtiger ein. Bei Slate notiert man unterdessen penibel alle Regelverstöße des Duells.

Außerdem hier nochmal aufs Schmerzhafteste, wie man auf Schwedisch die Butter vom Brot mopst.

Und der Teaser von Dagens Nyheter, übersetzt mit Google Translate: "In einer Stunde war Schweden in der Nähe von insgesamt Demütigung gegen Deutschland in Berlin. Dann kam eine historische Wende im Olympiastadion, wo die 0-4 wurden 4-4 in eine magische halbe Stunde. Es ist wahrscheinlich das verrückteste Spiel, das ich gespielt habe, sagt kryssmakaren Rasmus Elm."

Eine Meldung bei Spiegel online informiert uns über einen spektakulären Kunstraub: In der Rotterdamer Kunsthalle wurden vor zwei Tagen sieben Bilder von Pablo Picasso, Henri Matisse, Claude Monet, Paul Gauguin, Lucian Freud und Meyer de Haan geklaut. Keine schlechte Auswahl!

Aus den Blogs, 17.10.2012

Ein Tweet von Thomas Knüwer, den Online-Chef der Zeit betreffend: "Wow! Zeit Online-Chef @wblau geht als Director of Digital Strategy zum Guardian. Herzlichen Glückwunsch! Und was für ein Schlag für die Zeit!"

In Meedia äußert sich Wolfgang Blau schon über seinen in der engen Online-Szene recht sensationellen Abgang zum Guardian - mit indirekter Kritik an deutschen Medienhierarchen: "Was mir am besten gefällt am deutschen Online-Journalismus, ist die unglaubliche Zähigkeit und der Humor, mit dem so viele Redakteure unterhalb des Radars traditioneller Medienkapitäne die Zukunft vorbereiten."

(Via Boingboing) Dürers Hase en détail auf Google Art Project:


Spiegel Online, 17.10.2012

Sascha Lobo thematisiert in seiner Kolumne eine unheimliche Idee der britischen Versicherungswirtschaft: "Pay how you Drive" (Slogan: Drive well, Pay less) - man bekommt einen Rabatt, sofern man sein Fahrverhalten per digitalem Messgerät überwachen lässt und sich brav an die Verkehrsregeln hält: "Derzeit räumen die entsprechenden Versicherer um die 30 Prozent Rabatt ein, wenn man 'Pay how you drive' einsetzt. Ab welcher Differenz ist der Tausch persönlicher Daten gegen Preisreduktion keine Freiwilligkeit mehr, sondern ökonomische Notwendigkeit?"
Stichwörter: Lobo, Sascha, Tausch

FAZ, 17.10.2012

Der Kunsthistoriker und Sprachforscher Wolfgang Kemp untersucht neueste Tendenzen der Jugendsprache. Dabei ist ihm als Synonym für "geil" das aus der Gamer-Szene kommende Wort "episch" aufgefallen: "Ein native speaker der Jugendsprache übersetzt 'episch' heute mit 'geil, supertoll, hammer, fantastisch, krass, cool'. Und eine repräsentative Umfrage (n=1, 12 Jahre) ergab, dass dabei so etwas wie die ursprüngliche Bedeutung des Wortes nicht gewusst wird - darin unterscheidet sich 'episch' von 'geil' nur graduell."

Weitere Artikel: Gerhard Stadelmaier amüsiert sich, dass der einst verhasste Claus Peymann zum Ehrenmitglied des Burgtheaters ernannt wurde. Johanna Adorján berichtet von der Verleihung des Michael-Althen-Kritikerpreises an die Schriftstellerin Sarah Khan für einen Beitrag in Cargo (den die Zeitschrift dankenswerter Weise online gestellt hat). Paul Ingendaay kommentiert die Vergabe hochdotierter spanischer Literaturpreise an die üblichen Verdächtigen. Jan Brachmann besucht das Heinrich-Schütz-Haus in Weißenfels und hörte Konzerte des diesjährigen Schütz-Festes. Auf der Medienseite empfiehlt Jan Wiele den Film "Auslandseinsatz" über deutsche Soldaten in Afghanistan heute Abend im Ersten.

Besprochen werden eine große Francesco-Guardi-Ausstellung in Venedig, Wolfgang Rihms Poème dansé "Tutuguri" bei der Münchner Reihe "musica viva", Ken Loachs neuer Film "Angels' Share" (mehr hier) und Bücher, darunter Tristram Hunts Engels-Biografie (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 17.10.2012

Andreas Zielcke liefert eine kurze Rechtsgeschichte der Gotteslästerung in Europa und hält fest, dass das Religiöse heute trotz der Säkularisierung "eine konfliktträchtige Dynamik [entwickelt], die vom Staat mehr verlangt als neutralisierende Passivität". Wie sich diese Dynamiken konkretisieren, ist auf Seite Drei Annette Rammelsbergers Reportage über den Prozess gegen einen Islamisten, der am Rande einer Demonstration gegen Mohammed-Karikaturen auf drei Polizisten eingestochen hat, zu entnehmen: "'Sie müssen mit Gewalt die Werte des Islam durchsetzen?', fragt der Richter. 'Ja, natürlich', sagt Murat K."

Weitere Artikel: Beim Kölner Radiohead-Konzert wurde die Arena zum Goldfischglas, berichtet Joachim Hentschel. Alexander Menden unterhält sich mit Ken Loach, dessen neuen Film "The Angels Share" Susan Vahabzadeh ziemlich vergnüglich fand. Lothar Müller erläutert die Hintergründe zum Tel Aviver Urteil im Streit um Kafkas Nachlass, der der Israelischen Nationalbibliothek überlassen werden soll (mehr). Catrin Lorch verabschiedet sich von dem Künstler Michael Asher.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Fotos der Merce Cunningham Dance Company im Museum der Moderne Rupertinum in Salzburg, die "frenetisch" bejubelte Aufführung von Felicia Zellers "X Freunde" am Schauspiel Frankfurt (Till Briegleb sah eine "temporeiche, komische und treffende Satire über den Terror von Ehrgeiz und Erreichbarkeit") und Bücher, darunter Art Spiegelmans "MetaMaus" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).