Heute in den Feuilletons

Zerbeult, zerkratzt und zerdellt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.09.2012. Auf der Website von Bayern 2 wendet sich Platon gegen neue Medientechnologien, die das Hirn schädigen könnten. Manfred Spitzer kann ihm in der Zeit nur zustimmen. Kenan Malik greift in seinem Blog die deutsche Debatte um Judith Butler auf und findet Butler und ihre Kritiker gleichermaßen problematisch. Die Gema kündigt laut Berliner Zeitung an, die Internetdiskussionen über ihr segensreiches Wirken mithilfe einer Armee verdingter Kommentatoren sachlich steuern zu wollen. In der NZZ und SZ träumen Adriaan van Dis und Robert Menasse von der Überwindung des Nationalstaats. Die FAZ lauscht den fernen Echos des Urknalls der Fotografie.

NZZ, 06.09.2012

Angesichts des drohenden Sieges der Europakritiker bei den niederländischen Parlamentswahlen erzählt der Schriftsteller Adriaan van Dis seine kolonial-grenzüberschreitende Familiengeschichte und träumt vom Ende des Nationalstaats: "Ich glaube an Vermischung und Verfärbung. Und wer nicht daran glaubt, muss die Augen weiter aufmachen. Das multikulturelle Europa ist schon längst eine Tatsache, ob es uns nun passt oder nicht. Auch die Migranten, die heute noch ein eingefrorenes Bild von ihrem Land im Kopf haben und ihre Satellitenschüsseln auf antike Anschauungen richten, werden nach drei, vier Generationen Europäer sein."

Weiteres: Nach dem Tod des koreanischen Sektenführers Mun Sun Myung sucht Hoo Nam Seelmann nach Gründen für den befremdlichen Erfolg der Vereinigungskirche in der Schweiz. Uwe Justus Wenzel berichtet von einem Vortrag des britischen Philosophen Roger Scruton in Basel. Besprochen werden Dieter Fahrers Gefängnis-Doku "Thorberg" sowie Bücher, darunter New Yorker Reportagen von Joseph Mitchell und Los-Angeles-Geschichten von Ry Cooder (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 06.09.2012

Sehr ausführlich geht Kenan Malik in seinem Blog auf die deutsche Debatte zu Judith Butler ein. Ihre Kritiker findet er genau so problematisch wie sie selbst: "Ironischerweise versuchen jene, die einen kulturellen Boykott Israels kritisieren, selbst die freie Rede einzuschränken, indem sie zur Rücknahme der Adorno-Preis-Entscheidung aufrufen. Ironischerweise greifen all jene, die zurecht über die voreilige Gleichsetzung Israels mit den Nazis empören, selbst zu solchen Vergleichen in Bezug auf die Israelboykotteure."

Jörg Lau greift in seinem Blog Charlotte Knoblochs in der SZ vorgebrachte Klage über die Beschneidungsdebatte auf und gerät in heiligen Zorn über all jene, die sich auf die Werte der Aufklärung berufen: "Es ist eine perverse Traumlogik zugange: Die Entwertung der jüdischen Religion, diesmal nicht im Zeichen des rassistischen Antisemitismus, sondern im Zeichen der Aufklärung und der Menschenwürde. Endlich kann man den Juden am Zeug flicken, ohne sich dem Verdacht des Antisemitismus auszusetzen, denn es geht ja um den Kinderschutz, hier verstanden als Schutz jüdischer Kinder vor den Juden."

Welt, 06.09.2012

Andreas Rosenfelder hat sich ein verschollen geglaubtes Video mit Steve Jobs aus dem Jahr 1995 angesehen, das jetzt glatt ins Kino kommt. "Apple ist tot", sagt er da - noch war er nicht an die Spitze des Unternehmens zurückgekehrt: "Dass Jobs in Minute 55, er spricht über Revolutionen in der Software, in seine Hand niest und danach für eine Millisekunde fasziniert auf die geöffnete Handfläche blickt - selbst diese Geste wird zur Metapher für einen, der nicht nur den Fortbewegungsapparat eines Kondors, sondern auch den eigenen Körper als faszinierende Ingenieurleistung betrachtet."

Weitere Artikel: Anne Waak freut sich, dass die Band The XX mit ihrem zweiten Album "Coexist" die hohen Erwartungen aus dem Estling einlösen konnte. (Die von der Band auf ihrer Webseite selbst eingestellten Youtube-Videos hat Google mit Verweis auf die Gema gesperrt.) Matthias Kamann verfolgt die jüngsten Bemühungen katholischer und protestantischer Prominenter zu einer Wiedervereinigung ihrer Kirchen. Peter Zander hat in Venedig Kim Ki-duks neuen Film "Pieta" gesehen.

Besprochen werden außerdem Hans-Christian Schmids Film "Was bleibt" und eine Ausstellung über hundert Jahre Modefotografie in Berlin.

Weitere Medien, 06.09.2012

In der Berliner Zeitung bereitet uns Jens Balzer auf die Gemaaktionen zu den heutigen Demos in sechs deutschen Großstädten (Treffpunkt in Berlin ist um 14 Uhr vor der Gema in der Keithstr. 7). Die Presse will man einladen und eifrig im Internet posten. Balzer zitiert aus einem Schreiben an die Gema-Mitglieder: "'Die Dynamik in den Social-Media-Kanälen verfolgen wir mit einem erweiterten Backup-Team, das hier schnell und schlagkräftig posts und tweets kommentiert und die Diskussion rund um die Demo sachlich steuert'. Falls Sie, liebe Leser, sich also auch schon einmal gefragt haben, warum von den Einnahmen der Gema bei der Mehrheit der Urheber so wenig ankommt: Die Lobbyisten, die 'lancierte Medienberichte' zur Image-Verbesserung organisieren, wollen ja schließlich auch bezahlt werden."

TAZ, 06.09.2012

Im Haus der Kulturen der Welt versucht gerade das Projekt "Between Walls and Windows" Zusammenhänge zwischen Architektur und Ideologie zu erforschen. Da hätte man doch einfach mit dem Austragungsort, der Kongresshalle, anfangen können, meint Wolfgang Kil: "Einen 'Symbolbau der Freundschaft zu Amerika' hatte Hugh Stubbins den Berlinern schenken sollen, einen 'Ort der freien Rede', der wie ein 'Leuchtturm in Richtung Osten strahlen' würde. Der Architekt versteifte sich so unnachgiebig in den rhetorischen Zweck der Bauaufgabe, dass dahinter alle statischen Probleme verblassten. Sein kühn aufschwingendes Dach war in Wirklichkeit gar keine Schale, sondern ein über verborgene Stützen umständlich zusammengebasteltes 'Bild der Schwerelosigkeit'."

Weitere Artikel: Cristina Nord sah in Venedig die Wettbewerbsbeiträge von Valeria Sarmiento, Raul Ruiz und Harmony Korine. Dirk Knipphals berichtet über die Eröffnung des Internationalen Literaturfestivals Berlin mit einer Rede und einem kleinen Konzert von Liao Yiwu, der sich für ein freies Tibet einsetzte.

Besprochen wird Andreas Dresens Dokumentarfilm "Herr Wichmann aus der dritten Reihe", die Fortsetzung seines Porträts des CDU-Politikers Henryk Wichmann, und Rudolf Thomes neuer Film "Ins Blaue" über eine junge Frau, die ihren ersten Film dreht - laut Ekkehard Knörer damit ein "echter Thome", der wieder einmal "jungen Frauen bei dem zusieht, was sie tun".

Und Tom.

SZ, 06.09.2012

Der Schriftsteller Robert Menasse sieht das Projekt Europa ernstlich bedroht durch einen neuen Nationalismus, der nicht nur die Griechenlandkrise von vornherein überhaupt erst zu einem Problem mache und zudem ihrer Lösung im Wege stehe: "Das Problem ist eindeutig das Modell der nationalen Demokratie. ... Die Demokratie, wie wir sie kennen, und die wir seither mehr schlecht als recht eingeübt haben, ist ein Modell des 19. Jahrhunderts zur Organisation von Nationalstaaten. Auch wenn Sie es sich heute nicht vorstellen können: Aber wir werden im 21. Jahrhundert das 19. Jahrhundert endlich überwinden müssen!"

Weitere Artikel: Willibald Sauerländer kommentiert den sensationellen Fund von Erwin Panofskys lange Zeit verschollen geglaubtem Habilitationsmanuskript. Susan Vahabzadeh sieht beim Filmfest in Venedig unter anderem Neues von Kim Ki-Duk und Harmony Korine. Hans-Peter Kunisch berichtet von der Eröffnungsveranstaltung des Internationalen Literaturfestivals in Berlin mit einem beeindruckenden Liao Yiwu. Beim Konzert in Köln beobachtet Jan Kedves, wie sich Lady Gaga "bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung maximaler Differenz mit ihrem Publikum gemein" macht. Harald Eggebrecht unterhält sich mit Lorin Maazel, der ab heute für drei Jahre Chefdirigent der Münchner Philharmoniker ist.

Besprochen werden Hans-Christian Schmids Film "Was bleibt", die Teenie-Horror-Persiflage "The Cabin in the Woods" (die für David Steinitz "hervorragend ins Krisenchaos dieser Tage passt") und Bücher, darunter Tim Parks' Roman "Sex ist verboten" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 06.09.2012

Mit Haut und Haar erliegt Freddy Langer beim Besuch der großen Ausstellung "Die Geburtsstunde der Fotografie" im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim dem Reiz dem allerersten, noch auf Metall fixierten Foto der Geschichte, dem "Blick aus dem Arbeitszimmer" von Joseph Nicéphore Nièpce: "Zerbeult, zerkratzt und zerdellt strahlt das Foto eine Magie aus, als wisse es selbst um seine Bedeutung. ... Es ist, als sei die Zeit zurückgespult und man würde die Möglichkeiten der Fotografie zum ersten Mal entdecken - den Zauber noch einmal spüren, wenn ein Ausschnitt der Welt wie in einem Spiegel erstarrt und für immer aufbewahrt ist. Man erlebt nicht weniger als den Urknall der Fotografie." Mehr zu dem Bild hier.

Weitere Artikel: Matthias Hannemann fragt beim Lesen des in einem Buch gesammelten Mailverkehrs von Anders Breivik nach dessen Novitätenwert. Bert Rebhandl resümiert das Fantasy Filmfest, wo ihm vor allem Filme mit starken Frauenfiguren aufgefallen sind. Magdalena Ebertz trifft sich mit der syrischen Schauspielerin Fadwa Suleiman, die sich gegen eine Einmischung westlicher Staaten in den syrischen Bürgerkrieg ausspricht. Andreas Kilb berichtet von der Eröffnung des Internationalen Literaturfests in Berlin. Im Gespräch mit Melanie Mühl verteidigt sich Pirat Christopher Lauer, ein Positionspapier zum Urheberrecht ohne vorangegangene, interne Diskussionen verfasst zu haben (mehr dazu). Verena Lueken gratuliert dem Regisseur Dominik Graf zum sechzigsten Geburtstag.

Besprochen werden Ivo van Hoves Inszenierung von Franz Schrekers Oper "Der Schatzgräber" am Musiktheater in Amsterdam, der Horrorfilm "Cabin in the Woods" (bei dem sich Dietmar Dath nicht sicher ist, ob es sich um einen "gesellschaftskritischen Massakerfilm" oder einen "massakerkritischen Gesellschaftsfilm" handelt), eine Liveaufnahme des Keith Jarrett Trios von 1979 (ein "phänomenal gestaltenreiches Kunstwerk", meint Ulrich Olshausen) und Bücher, darunter Friederike Wißmanns Biografie über Hanns Eisler (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Weitere Medien, 06.09.2012

(Via @steffenmeier) Christian Schiffer erzählt auf der Website von Bayern 2 eine kleine Geschichte des Kulturkonservatismus in Antwort auf das Buch "Digitale Demenz" von Manfred Spitzer. Sie fängt an mit Platons Gedanken zur Schrift: "Schriftliche Notizen entlasten das Gehirn und führen zu analoger Demenz. Anstatt Riten, Regeln, Gesetze und Erfindungen von Generation zu Generation am Lagerfeuer weiterzuerzählen, kann die Menschheit sie einfach aufschreiben. Das Gehirn hat nichts mehr zu tun und verkümmert langsam."

Zeit, 06.09.2012

Im Wissen-Teil diskutieren der Psychiater Manfred Spitzer und der Medienpsychologe Peter Vorderer in einem fetzigen Gespräch über die Wirkung von Computern und Internet auf Jugendliche. Spitzer vertritt, wie in seinem Buch "Digitale Demenz", die Position, Computerspiele machten dick, dumm und gewalttätig, Vorderer bezeichnet ihn dafür als "Sarrazin der Computerkritik" und plädiert für eine schulische Medienbildung. Darauf Spitzer: "Wenn ich das schön höre: Medienbildung! Es geht doch nur darum, die Kinder anzufixen!"

Im Feuilleton sprechen die Historikerin Ute Frevert und die Soziologin Eva Illouz im Interview über das große Interesse an den Emotionen, das Illouz auf eine "breite Kommerzialisierung des Fühlens" zurückführt: "Der Markt lässt uns immerfort Dinge kaufen, die unlöslich in Gefühle verstrickt sind. Jedes Deo, jede Musik-CD, jede Hotelbuchung für den Wochenendtrip setzt auf unseren Wunsch nach emotionalem Make-up. Der Konsument gilt vor allem als ein fühlendes Subjekt. Der Konsum beruht auf Gefühlen, ja erfindet sie sogar."

Weitere Artikel: Der Philosophieprofessor Martin Hartmann referiert das Verhältnis der Philosophie zum Gefühl. Moritz von Uslar geht mit dem Philosophen und Ratgeberautor Wilhelm Schmid an der Havel spazieren und lernt, dass Glück überschätzt wird. Ingeborg Harms umreißt Judith Butlers Gender-Theorie. In seiner abgedruckten Rede bei der Entgegennahme des Georg-August-Zinn-Preises spricht Jürgen Habermas über das Dilemma der europäischen Wirtschaftspolitik. Adam Soboczynski wundert sich in der ersten Folge von Richard David Prechts ARD-Sendung über die Einstimmigkeit von Gastgeber und Gast, Hirnforscher Gerald Hüther. Katja Nicodemus berichtet von den Filmfestspielen in Venedig, wo sie der neue Film von Paul Thomas Anderson mehr, der von Terrence Malick weniger überzeugt hat. Frank-Walter Steinmeier und Paul van Dyck plädieren für eine Reform des Urheberrechts, die Künstlern und Konsumenten gleichermaßen gerecht wird.

Besprochen werden - in einer Doppelrezension - die Eröffnungsinszenierungen der neuen Theatersaison, "Ödipus Stadt" am Deutschen Theater und Tschechows "Platonow" am Thalia Theater (deren Hauptdarsteller Ulrich Matthes und Jens Harzer Peter Kümmel aufrufen lassen: "Nur die Schauspieler können das Theater retten!"), Hans-Christian Schmids Film "Was bleibt", Andreas Dresens zweiter Dokumentarfilm über den Brandenburger Landtagsabgeordneten Henryk Wichmann, neue Alben von The xx und Bob Dylan ("Der Weltgeist spricht in Liedern, Dylan aber ist sein Prophet", preist Thomas Groß) sowie Bücher, darunter gleich zwei Rezensionen zu Rainald Goetz' Gesellschaftsroman "Johann Holtrop" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Auf Glauben & Zweifeln ist ein "Aufruf zur Einheit" abgedruckt, in dem Unterzeichner wie Günter Jauch, Arnold Stadler, Thomas de Maizière und Richard von Weizsäcker dazu auffordern, "jetzt" die Spaltung der Christenheit in Katholiken und Protestanten zu überwinden. Ungehorsam will man aber auch nicht sein, notiert Patrik Schwarz in einem begleitenden Artikel.

Im Dossier berichtet Wolfgang Bauer aus den Kellern im syrischen Aleppo, in die sich die Bewohner aus Angst vor Luftangriffen zurückgezogen haben. Benedikt Erenz stellt das Großprojekt von Jan Philipp Reemtsmas Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur vor: eine vollständige Ausgabe der Tagebücher, die der Hamburger Jurist Ferdinand Beneke zwischen 1792 und 1848 geführt hat. Der Herausgeber Frank Hatje gewährt im Interview Einblick in die zehnjährige Editionsarbeit.