Heute in den Feuilletons

Ich dementiere energisch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.08.2012. In der NZZ wirft Christian Saehrendt der Documenta intellektuelle Verlogenheit vor. Die Welt sieht Simon Rattle verloren für blaugespülte amerikanische Sponsorenwitwen. In der FR widerspricht die Comic-Künstlerin Marie Marcks ihren Laudatoren. Vielleicht könnten die Feuilletons zur Abwechslung einfach mal mal einen guten Krimi besprechen, schlägt Thomas Wörtche in der taz vor. In der SZ hält der Jurist Reinhard Merkel fest: Es gibt keine juristische Rechtfertigung für die Beschneidung von Kindern, höchstens eine politische. In der FAZ erzählt Alexander Kluge eine Arztgeschichte. Laut New York Times ist Apple der Weltherrschaft einen Schritt näher gekommen.

NZZ, 25.08.2012

Auf der Documenta begibt sich Christian Saehrendt in die Hütte der amerikanischen Künstlerin Lori Waxman und drückt ihr ein eigenes Jugendwerk in die Hand, auf dass sie es kritisiere. Waxman schreibt Schnellkritiken, deren Abfassung man auf einem Monitor mitverfolgen kann. Wie das Urteil ausfällt, erfahren wir nicht (und finden es auch nicht hier). Aber andere haben sich gar nicht erst hingetraut: "Schade nur, dass (bisher) kein offizieller Teilnehmer der Documenta 13 den Mut hatte, sich in Lori Waxmans Kritikerbude einzufinden, nicht einmal ihr Ehemann Michael Rakowitz. Aber vielleicht ist gerade diese Ignoranz, diese Feigheit bezeichnend für die konzeptuelle Inkonsequenz oder, deutlicher formuliert, für eine gewisse intellektuelle Verlogenheit der Documenta 13: diese Simulation von Gleichheit und Gleichberechtigung von Künstlern und Kuratoren, Hunden und Menschen, diese beflissen akademische Polit-Korrektheit, dieses pseudomutige Kunst-in-Frage-Stellen, diese Pseudopolit- und Partizipationsfolklore, diese kalt berechnete Pseudoromantik."

Weiteres: Im Aufmacher von Literatur und Kunst lobt Irmgard Bernrieder dagegen das didaktische Konzept der Documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev. Samuel Herzog hat generell ein Problem mit Großausstellungen. Abgedruckt ist die Dankesrede der Kuratorin Bice Curiger zur Verleihung des Kulturpreises des Kantons Zürich. Sabine Haupt schreibt zum 100. Geburtstag der Walliser Schriftstellerin Corinna Bille.

Im Feuilleton: Die Produktion von Zimmermans "Soldaten" war zwar eine "Großtat", aber ansonsten fand Peter Hagmann die ersten Salzburger Festspiele unter dem Intendanten Alexander Pereira eher durchwachsen: "'Zauberflöte', 'Bohème' und 'Carmen' in ein und demselben Programm - dass ein so geringes Maß an künstlerischem Denken bei den Salzburger Festspielen möglich sein würde, hat sich bis zum Sommer 2012 niemand vorstellen können."

Weitere Artikel: Heiko Hantscher erzählt, wie der Künstler José Fuster in Havanna ein Stadtviertel in ein Gesamtkunstwerk verwandelt. Die italienischen Kunsthistoriker Maurizio Bernardelli Curuz und Adriana Conconi Fedrigolli machen mit ihrem E-Book über angeblich frisch entdeckte 100 Caravaggio-Zeichnungen, gute Geschäfte, obwohl sich das ganze inzwischen als Schwindel herausgestellt hat, meldet Eva Clausen.

Besprochen werden die Uraufführung von Händl Klaus' Theaterstück "Meine Bienen. Eine Schneise" in Salzburg ("ein süßlich breiiger Quatsch. Österreichisch gesagt: Kaiserschmarren", meint Barbara Villiger Heilig) und Franziska Gerstenbergs Debütroman "Spiel mit ihr" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Weitere Medien, 25.08.2012

Samsung ist wegen Ähnlichkeiten im Design im Prozess gegen Apple zur Zahlung von einer Millarde Dollar Schadenersatz verurteilt worden. Dieses Urteil verändert die Industrie, meinen Brian X. Chen und Lisa Alcalay Klug in der New York Times: "Things could get tougher.. for Google, or any phone maker using its Android software. Android phones are the most common smartphones on the market today... While Google is not involved in this case, Apple was clearly going after Android all along, said Robert P. Merges, professor of law and technology at University of California."

In einem bezaubernden, doppelseitigen Interview in der FR mit der anlässlich ihres 90. Geburtstags und einer Ausstellung im Frankfurter Caricatura Museum in den Feuilletons ringsum geehrten Marie Marcks fühlt sich diese von ihren Gratulanten herb missverstanden. In einer Dankesrede habe sie einmal "'gesagt: Jemand behauptete, ich sei ein Menschenfreund. Seitdem lese und höre ich immer, ich sei ein Menschenfreund. Das stimmt nicht. Ich dementiere energisch. Ich bin kein Menschenfreund. Wäre ich einer, hätte ich meinen Beruf verfehlt.' - 'Sie haben fünf Kinder...' - 'Naja, das sind eben meine Kinder.'"

Welt, 25.08.2012

Manuel Brug war mit Simon Rattle Sushi-Essen und spekuliert schon mal, was nach Rattles in sechs Jahren auslaufendem zweiten Vertrag mit den Phillis wird: "Ein weitere Vertragsperiode? Oder doch ein anderes Orchester? Aber wie kann man die Berliner Philharmoniker übertreffen, da die Wiener ja bekanntlich keinen Chef haben? Und hat ein halber Berliner jetzt noch Lust auf blaugespülte Sponsorenwitwen in Amerika?"

Weitere Artikel im Feuilleton: Der Germanist Karl-Heinz Göttert erinnert an den Sprachforscher Theodor Siebs, der vor 150 Jahren geboren wurde - er legte zu Götterts Kummer die "richtige Aussprache" des Deutschen fest, die seitdem in dem entsprechenden Duden-Band propagiert wird. Henryk Broder hat einen Werbetext von Petra Pau für eine Rheuma-Kur aufgeschnappt. Christiane Hoffmanns unterhält sich mit den Kuratoren Klaus Biesenbach und Hans Ulrich Obrist über ihre "12 Rooms"- Performance-Ausstellung bei der Ruhrtriennale. Und Uwe Schultz annonciert die Wiedereröffnung der ehemaligen Samaritaine, die mal ein nützliches Pariser Warenhaus war und nun ein weiteres unnützes Pariser Luxuskaufhaus wird.

Besprochen wird Händl Klaus' Stück "Meine Bienen" in Salzburg.

In der Literarischen Welt geht es um den neuen Roman "Die Zeit, die Zeit" des Bestsellerautors Martin Suter, um Hans-Peter Schwarz' Kohl-Biografie, um einen neuen Essayband von George Steiner, um die von der Astronomin Anna Frebel aufgespürten ältesten Sterne des Universums, um A.L. Kennedys neuen Roman "Das blaue Buch" und um Thomas Steinfelds Krimi "Der Sturm" (der Wieland Freund auch literarisch nicht ganz überzeugt).

TAZ, 25.08.2012

Andreas Fanizadeh bleibt nach der Lektüre von Thomas Steinfelds Schwedenkrimi und dem Feuilletontrubel nach Richard Kämmerlings Pseudonym-Aufdeckung in der Welt ratlos zurück: Ihm will es scheinen, "als habe sich Kämmerlings vieles(...) selbst ausgedacht. ... Wäre der Verfasser ein Johansson geblieben, Kämmerlings wäre wohl kaum auf seine abstrusen Schirrmacher-Analogien gekommen. Sie sind aus der literarischen Konstruktion von 'Der Sturm' kaum ableitbar." Fanizadeh findet Steinfelds Roman durchaus lesenswert.

Was ein Gewese um solch dünne Suppe, stöhnt unterdessen Krimi-Spezialist Thomas Wörtche, der grundsätzlichere Abrechnungen am Werk sieht: Das Feuilleton revoltiere gegen die populäre Kriminalliteratur, die "die Gewichtungen auf dem Buchmarkt und im Leseverhalten verschoben und die 'Macht' der Feuilletons gemindert hat. Dass die literary pages Autorität jahrzehntelang verspielt haben und Innerbetriebliches immer dominanter wurde, wird nicht so gerne thematisiert."

Weitere Artikel: Ulrich Schulte fragt bei Gerhard Schröder und anderen Weggefährten Jürgen Trittins nach, wann und wie sich der Grünen-Politiker eigentlich vom kommunistischen Hausbesetzer zum grauen Staatsmann gewandelt hat. Waltraud Schwab unterhält sich mit der Karikaturistin Marie Marcks. Detlef Kuhlbrodt kann dem ganzen Kreuzberger Gemecker über Touristen nichts abgewinnen: Ihm macht es Spaß, "verliebte Touristen zu beobachten, sich vorzustellen, wie viele Berlin-Urlauber gerade so wunderschöne Tage hier erleben."

Besprochen werden das neue Album von Animal Collective und Bücher, darunter eine kritische Auseinandersetzung mit dem Verfassungsschutz (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

SZ, 25.08.2012

"Wenig durchdacht" und "schon im Grundsatz verfehlt (...) bis zum Abwegigen" findet Reinhard Merkel, Jurist und Mitglied des Deutschen Ethikrats, den Antrag der Bundesregierung, der Ethikrat möge die religiöse Beschneidung auf legale Füße stellen (hier dazu die Diskussionsdokumente). Es gibt überhaupt keine juristische Rechtfertigung für die Beschneidung von Kindern, wie Merkel ausführlich erklärt. "Dem schärferen Blick wird auf Dauer nicht verborgen bleiben, was die angekündigte Regelung trotz der Allgemeinheit ihrer äußeren Form ihrem Sinne nach ist: ein jüdisch-muslimisches Sonderrecht. Das bezeichnet einen Sündenfall des Rechtsstaats. Anlass genug für ein schlechtes Gewissen des Gesetzgebers. Er möge es nicht weiterhin mit Redensarten verdunkeln, die neben der Sache liegen. Und sich wie den beiden Religionsgemeinschaften die Zumutung nicht erlassen, künftig nach einer besseren, rechtlichen Lösung zu suchen."

Weitere Artikel: Catrin Lorch kritisiert den Versuch der Witwe Immendorff, künstlerisch wertlose Spätwerke ihres Mannes aus dem Verkehr ziehen zu lassen: "Dass flache Kopistenware aussortiert wird, verfälscht jetzt dieses Werk, das Immendorf wohl schon längst eigenhändig massakriert hatte, als er Zertifikate und Leinwände verhökerte." Jens Bisky freut sich über Alexander von Humboldts Adressbuch, das die Berliner Staatsbibliothek gerade für ihre Sammlung erwerben konnte (hier als PDF-Datei die aktuelle Ausgabe der Mitteilungen des Hauses, in der Jutta Weber das Artefakt ausführlich vorstellt).

Besprochen werden eine Ausstellung über Otto den Großen im Kulturhistorischen Museum in Magdeburg, die Aufführung von Händl Klaus' "Meine Bienen. Eine Schneise" bei den Salzburger Festspielen (Christopher Schmidt vermisst den Stachel), das Total-Recall-Remake mit Colin Farrell, Hans Schabus' holzige Installation "Vertikale Anstrengung" im 21er Haus in Wien, eine Retrospektive zum 90. Geburtstag der Karikaturistin Marie Marcks im Caricatura Museum in Frankfurt, Marisa Acocella Marchettos "optisch ziemlich überdrehter" Comic "Cancer Woman" und Richard Fords Roman "Kanada" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende ärgert sich Patti Smith im Interview mit Kerstin Holzer über Journalisten, die ihr unterstellen, in den 80ern nichts gemacht zu haben: "Ich war Ehefrau, ich hatte zwei kleine Kinder, ich lernte, wie man kocht, putzt, näht, tröstet, pflegt. Zählt das nichts?" Richard Ford verkündet im Interview: "Wenn Romney Präsident wird, gehen wir auf jeden Fall nach Kanada." Und Yasmina Reza erzählt in einem Auszug aus ihrem Prosaband "Nirgendwo" von sich selbst.

FAZ, 25.08.2012

Bilder und Zeiten druckt eine von sieben Arztgeschichten Alexander Kluges, die auch von seinem Vater handeln: "Mein Vater war Theaterarzt am Stadttheater Halberstadt. Es gab keine Opernpremiere, die er nicht besuchte. Von Beruf war er Arzt und Geburtshelfer. So geschah es gelegentlich, dass eine dringende Geburt gemeldet wurde, während er in der Oper saß. Ich hatte dann als Kind die Aufgabe, ihn als laufender Bote zu benachrichtigen und aus der Oper herauszuholen. Das Hineinschleichen in den geheimnisvollen Raum und die Bewegung zu seinem Sitzplatz hin in der Reihe 3, umgeben von Tönen und verwirrt von der Handlung auf der Bühne, sind meine ersten Eindrücke; es geht um Licht und um Töne."

Außerdem: Thomas David besucht den britischen Schriftsteller Graham Swift in Wandsworth. Paul Ingendaay besucht das Nordland Musikfestival im norwegischen Bodø. Und Woody Allen hat im Interview eine Ahnung, warum ihm nie ein Meisterwerk gelingen wird: "Ich drehe jede Szene höchstens zwei oder drei Mal, weil ich möglichst früh nach Hause möchte."

Warum hilft ausgerechnet Ecuador Julian Assange? Weil es so die Staaten ärgern kann, die es seit Jahren über internationale Wirtschaftsorganisationen eigentlich regieren, meint die Publizistin Carolina Andrade im Feuilleton. Jürgen Dollase hätte sich mehr konkrete Fragen gewünscht in Paul Lacostes Dokumentarfilm "Entre les Bras" über den französischen Meisterkoch Michel Bras und seinen Sohn Sébastien. Andreas Kilb sieht sich den Speisesaal des Grand Hotel des Bains am Lido von Venedig an. Martin Suter spricht im Interview über sein neues Buch "Die Zeit, die Zeit".

Besprochen werden die Uraufführung von Karlheinz Stockhausens Oper "Mittwoch", die Uraufführung von Klaus Händls Theaterstück "Meine Bienen. Eine Schneise" in Salzburg, einige CDs u.a. von Frank Ocean und Bücher, darunter Gaito Gasdanows Roman "Das Phantom des Alexander Wolf" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie stellt Jochen Jung ein Gedicht von Ann Cotten vor:

"Nein

"Sie glühen ver - ver - ver-
teufelt und zum Heulen
they're losing it
blühen sie heut Morgen
..."