Heute in den Feuilletons

Im Schneckengehäuse der trudelnden Medieneffekte

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.08.2012. In der NZZ vermisst Kurt Drawert eine Kultur des Scheiterns. Buzzfeed enthüllt, wie Google mit jenen Mitarbeitern umgeht, die für die Firma Tag für Tag finsteren Content wie Kinderpornos und islamistische Snuff  Movies löschen. Thomas Steinfelds Krimi "Der Sturm" muss sich jetzt vor dem unbestechlichen Auge der Literaturkritik bewähren, findet Hans-Ulrich Gumbrecht im Freitag. Was werden die Leser die FAZ und SZ denken, die über diese Geschichte noch gar nicht informiert wurden?, fragt die FR. In der Zeit träumt Sibylle Lewitscharoff vom großen Europa-Roman.

FR/Berliner, 23.08.2012

Lorenz S. Beckhardt, Journalist und Jude, findet die deutsche Debatte um Beschneidung zwar nicht antisemitisch, aber doch reichlich geschichtsblind. Schließlich wurde der Weg des deutschen Judentums in die Moderne 1933 abrupt abgeschnitten: "Deutschland ist der Geburtsort jener Ideen, die das Judentum in die Moderne geführt und den Juden den Weg zur rechtlichen Gleichstellung geebnet haben. Hätte man uns diesen Weg weitergehen lassen, gäbe es heute mit hoher Wahrscheinlichkeit eine moderne Alternative zur Beschneidung, und ein Rabbiner, der in einer Talkshow mit der Bibel herumfuchtelt, die er 'Gottes Wort' nennt und das wortwörtlich meint, wäre so repräsentativ für das Judentum wie ein Piusbruder für den Katholizismus."

Harald Jähner beginnt seine Besprechung des Krimis von Thomas Steinfeld mit einem mitleidigen Seitenblick auf die Leser der beiden größten deutschen Qualitätstageszeitungen: "Es hat seine Nachteile, Leser der FAZ oder SZ zu sein. Wer sich auf diese Blätter beschränkt, hat noch immer nichts mitbekommen von den erheiternden Turbulenzen um den soeben erschienenen Thriller 'Der Sturm' eines gewissen Per Johannson."

Weiteres: Daniel Kothenschulte schreibt zum 100. von Gene Kelly. Besprochen werden ein Dokumentarfilm über Roman Polanski, Ron Frickes Filmmeditation "Samsara" und Norbert Mappes-Niediks Buch "Arme Roma, böse Zigeuner" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Welt, 23.08.2012

Andrea Backhaus trifft die Künstler des in Berlin laufenden Projekts "Kunststoff Syrien", das auch in Frankreich und Großbritannien auf großes Interesse stieß: "Sich aus der Ferne an den Umbrüchen in der Heimat zu beteiligen: das ist der Antrieb für die Künstler in Berlin."

Weitere Artikel: Matthias Heine wundert sich sehr, dass sich ausgerechnet die Saudis im Namen religiöser Pluralität gegen die Vergabe der Internetdomain ".bible" wehren. Tom Mustoph stellt ein Theaterprojekt vor, das die Bewohner des Le Corbusier-Hauses in Berlin mit einbindet.

Besprochen werden das Remake von "Total Recall" und Christoph Schaubs Komödie "Nachtlärm".

Freitag, 23.08.2012

Nach dem Stürmchen um "Der Sturm" muss sich der Roman nun vor dem unbestechlichen Auge der Literaturkritik bewähren, meint Hans-Ulrich Gumbrecht. Tut er aber nicht: "Es ist Steinfeld und Co. nicht gelungen, einen seine Komplexität immer weiter steigernden, bis zum Ende 'spannenden' Prozess der Identifikation des Täters und seiner Motive in Gang zu bringen. Stattdessen steigert sich der Text von Seite zu Seite deutlicher in die Gattungslogik eines Schlüsselromans."

Aus den Blogs, 23.08.2012

Ein ziemlich finsteres Interview führt Reyhan Harmanci in Buzzfeed mit einem ehemaligen Google-Angestellten, der dafür abgestellt wurde, in Google-Produkten nach Kinderpornografie und islamistischen Snuff Movies zu suchen - eine Arbeit, die ihn so belastete, dass er eine Therapie brauchte. Dann wurde sein zeitlich befristeter Vertrag nicht verlängert, was auch anderen Google-Mitarbeitern mit der gleichen Aufgabe passierte: "Three people here were on the midnight shift for YouTube and they were given the promise that if they were going to see beheadings and child porn and all this shit all the time, they'd get hired. YouTube's review process is proactive - they have to sit there and look at all of it, from 10 p.m. to 8 a.m., for a year. One of my really good friends lost her life for a year doing that. But no one talks about it."

(Via Open Culture) Brainpickings zeigt einige unbekannte Fotos der Beatles - bei denen es sich wohl um die letzten handelt, in denen sie gemeinsam fotografiert wruden. Es ist 1969, und sie sehen schon ziemlich schratig aus.

Das Londoner Architekturbüro FAT bereitet eine Ausstellung über das Kopieren in der Architektur vor und baut dafür die Kopie einer Palladio-Villa, berichtet das Architekturblog Dezeen. "The museum centres around FAT's own installation, The Villa Rotunda Redux, a 5m high re-make of Palladio's Villa Rotunda that explores the Villa as both a subject and object of architectural copying." Die Ausstellung wird bei der Architekturbiennale in Venedig stattfinden. Kurator ist David Chipperfield.

NZZ, 23.08.2012

Die NZZ druckt einen Auszug aus Kurt Drawerts demnächst erscheinenden Buch "Schreiben. Vom Leben der Texte" vorab. In diesem Kapitel denkt der Dichter über das Scheitern nach: "Aber es ist wohl auch weniger des Fehlen einer Phänomenologie des Scheiterns, das wir beklagen - wir haben auch keine Kultur des Scheiterns; zu ungemütlich; zu sehr in Vergeblichkeit verstrickt. Der materielle Finalismus unserer Epoche sieht eine Metaphysik des Scheiterns nicht vor (und genau daran wird sie scheitern). Denn auf der Höhe seiner selbst ist jedes Ding zu nichts anderem fähig - und warum sollte das in unserem Schreibleben nicht ebenso sein?"

Weitere Artikel: Patrick Straumann schreibt zum Hundertsten des brasilianischen Prosaschriftstellers und Dramatikers Nelson Rodrigues. Susanne Ostwald würdigt die "goldenen Füße" Gene Kellys, der hier mit sich selbst tanzt.



Besprochen werden Len Wisemans Remake des Science-Fiction-Films "Total Recall" und Bücher, darunter Norbert Langes Gedichtband "Das Schiefe, das Harte und das Gemalene" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 23.08.2012

Auf der Meinungsseite argumentiert Jürgen Gottschlich, dass hinter den Vorwürfen von ehemaligen Mitarbeitern gegenüber Günter Wallraff im Spiegel weniger ein Skandal als vielmehr menschliche Enttäuschungen stecke. "Aus der Überidentifikation mit dem Meister wird abgrundtiefe Enttäuschung, wenn sich herausstellt, dass Wallraff kein Heiliger ist, sondern die Zusammenarbeit mit ihm ganz schön anstrengend sein kann."

Sonja Vogel resümiert eine Veranstaltung von Reporter ohne Grenzen in Berlin, auf der unter anderem der Theatermacher Bolat Atabajew und der Journalist Lukpan Achmedjarow über Menschenrechte und Pressefreiheit in Kasachstan diskutierten. "Den Künstler stört vor allem die Doppelmoral des Westens. Dass Deutschland aber angesichts seines wirtschaftlichen Interesses die diplomatischen Diskursgewohnheiten ändern wird, ist unwahrscheinlich. Denn Kasachstan besitzt für die Hightechproduktion dringend benötigte Rohstoffe."

Besprochen werden Laurent Bouzereaus Filmporträt "Roman Polanski: A Film Memoir" ("weniger ein Dokumentarfilm als vielmehr ein ,Hagiomentary', in dem an die Stelle von kritischer Distanz die Pseudointimität des Freundschaftsdienstes tritt"), Antje Huberts Dokumentarfilm "Das Ding am Deich" über den Widerstand der Brokdorfer gegen ihr AKW, Alvis Hermanis Inszenierung von Bernd Alois Zimmermanns Oper "Die Soldaten" bei den Salzburger Festspielen und der Roman "Nichts Weißes" von Ulf Erdmann Ziegler. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Und Tom.

Zeit, 23.08.2012

Die Reihe Literaturkanon ist jetzt mit Enquist, Esterhazy, Nadas, Kehlmann und anderem in den 2000er Jahren gelandet. Sibylle Lewitscharoff erklärt zur Eröffnung im Interview, wie sie sich den großen Europaroman vorstellt: "Ich könnte mir vorstellen, dass man zu diesem existenziellen Thema eine moderne Variante des 'Oblomow' schreibt. Der wäre in einem Schneckengehäuse der trudelnden Medieneffekte gefangen und wagte keinen Schritt aus dem Haus... Der europäische Roman muss schon ein Hoffnungsquäntchen haben. Etwas Trostloses will ich nicht lesen."

A propos trudelnde Medieneffekte: Jens Jessen ärgert sich über die Kritiker Thomas Steinfelds, die verschweigen, dass sein Mordopfer eine positive Figur sei: "Das ist der wahre Rufmord!"

Weitere Artikel: Maximilian Probst und Kilian Trotier beschreiben im Aufmacher auf drei Seiten die Gefahren, die Amazon als Monopolist für unsere Buchkultur darstellen wird - ein guter Informationsartikel für alle, die sich mit dem Problem noch nicht auseinandergesetzt haben.

Besprochen werden Bernd Alois Zimmermanns "Soldaten" in Salzburg und John Cages "Europeras" in Bochum, Cat Powers Album "Sun" und Bücher, darunter Richard Fords Roman "Kanada" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

FAZ, 23.08.2012

Andreas Kilb blickt sich ratlos im Bode-Museum um, in das die Gemäldegalerie umziehen soll. Wo bitte wäre denn hier noch Platz für die alten Meister? "Schon heute wirken einzelne Räume im Bodemuseum überfüllt (...). Wenn die Gemäldegalerie hier Quartier bekäme, würde die Fülle zur Not. Der Kanon (...) würde alles verdrängen, was nicht unter die Meisterwerke-Klausel der Kuratoren fiele - also gerade jenen Reichtum an Nuancen, der ein herausragendes Merkmal der Berliner Sammlungen ist. "

Weitere Artikel: Israelische Schriftsteller protestieren gegen mutmaßliche Angriffspläne ihrer Regierung gegen den Iran, informiert Hans-Christian Rössler. Andreas Rossmann berichtet von der Konferenz "Kafka geht ins Kino" in Bonn. Rüdiger Klein wird beim Ortstermin im Neuanbau des Gabrieli-Gymnasiums in Eichstätt trotz aller "Koloristenfreude nicht schwindlig".In der Sommerkolumne erschaudert Andreas Nefzger, als er sich Wespen mal genauer ansieht.

"So scharf, so knallig bunt und mit knarzfreiem Ton haben wir 'Singin' in the Rain' noch nie zu Gesicht und zu Gehör bekommen", schwärmt Verena Lueken angesichts der aktuellen, frisch auf Blu-Ray erschienenen Restauration des Films. Hier noch unrestauriert zu Gene Kellys Hundertstem:



Besprochen werden das neue Album von Holly Cole, Carlos Sauras Dokumentarfilm "Flamenco, Flamenco", Wolfgang Rihms neue, beim Luzernfestival aufgeführte Symphonie "Nähe fern 1-4", die das Werk Johannes Brahms' reflektiert, und Bücher, darunter der gesammelte Briefwechsel zwischen Heinrich Böll und Lew Kopelew (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 23.08.2012

In Heybeli besucht Tim Neshitov den türkischen Verleger Ragip Zarakolu, dem die Türkei derzeit, wie vielen anderen Intellektuellen im Land auch, wegen angeblicher Unterstützung der Organisation "Koma Civaken Kurdistan" den Prozess macht. Der Vorwurf klingt freilich ziemlich fadenscheinig: Dass Zarakolu die Ideen dieser Organisation "teilt, behauptet nicht einmal die Staatsanwaltschaft. Die Anklage bezichtigt ihn vielmehr, vor einigen Jahren an der Parteischule der Kurdenpartei BDP unterrichtet zu haben. Dabei ist die BDP ('Partei des Friedens und der Demokratie') im Parlament vertreten. "

Weitere Artikel: Die dediziert "literarischen Veranstaltungen der documenta enttäuschten" zwar, findet Christopher Schmidt, dafür stößt er vor Ort anderweitig auf eine rege Textproduktion in Form von Katalogschwarten und endlich aufgestellten Infotafeln. Joseph Hanimann beobachtet, mit welcher "starren Haltung" sich die katholische Kirche in der französischen Debatte um die Homo-Ehe einmischt. "Reichlich verschämt" und mit zähen Einführungen in "drolligem" Englisch kommt in diesem Salzburger Festivaljahrgang die moderne Musik daher, ärgert sich Egbert Tholl. Felix Stephan besucht im Jüdischen Museum in Berlin eine Lesung von Ron Leshem und Hamed Eshrat.

Besprochen werden neue Kinofilme, darunter ausführlicher der handgemachte Stop-Motion-Film "ParaNorman", zu dem Anke Sterneborg das dahinter steckende Laika-Studio nur herzlich beglückwünschen kann, und der Schweizer Film "Nachtlärm" ("eine kleine, durchaus komische Reverenz ans wilde amerikanische Action-Kino", freut sich David Steinitz), zwei Ausstellungen mit Arbeiten von Rosemarie Trockel im Reina Sofia in Madrid und im Museum Morsbroich in Leverkusen und Bodo Kirchhoffs Roman "Die Liebe in groben Zügen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).