Heute in den Feuilletons

Nicht sogleich. Aber demnächst

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.08.2012. Auch in seiner abgeschwächten Version ist der Regierungsentwurf für ein Leistungsschutzrecht überflüssig, findet Till Kreutzer auf rights.info. In der NZZ warnt Historiker Ahlrich Meyer nicht-deutsche Länder vor zu großer Bußfertigkeit in bezug auf den Holocaust. In der taz erklärt David Weinberger die neue Wissenskultur im Internet. In der FR sind sich Buch, Grass und Walser einig: Früher war alles besser, und man selbst war eine moralische Autorität. In der Welt erweitert Heiner Goebbels den Kulturbegriff. In der FAZ verteidigt die Grünen-Politikerin Agnes Krumwiede Gemas gute Gründe gegen Googles Gier.

Weitere Medien, 07.08.2012

Irgendwie scheint das Thema Leistungsschutzrecht der Regierung peinlich zu sein. Einerseits will man die Presse zufrieden stellen, die eben auch mit schlechter Presse drohen kann. Andererseits spürt man den Widerstand in der Öffentlichkeit. Der zweite Entwurf für ein Gesetz, den das Justiziminsterium jüngst vorlegte, ist jedenfalls erheblich abgeschwächt und zielt nur noch auf Suchmaschinen. Aber auch das hat keinen Sinn, meint der Urheberrechtler Till Kreutzer auf irights.info: "Suchmaschinen übernehmen weder die Leistungen von Verlagen oder anderen Content-Anbietern im Internet. Erst recht beuten sie diese nicht aus. Sie sind vielmehr elementarer Bestandteil der Infrastruktur des Internets, indem sie die Informationen, die im Netz vorhanden sind, strukturieren und auffindbar machen."

Eine schlimme Geschichte erzählt Mat Honan in Wired: "In the space of one hour, my entire digital life was destroyed. First my Google account was taken over, then deleted. Next my Twitter account was compromised, and used as a platform to broadcast racist and homophobic messages. And worst of all, my AppleID account was broken into, and my hackers used it to remotely erase all of the data on my iPhone, iPad, and MacBook."

NZZ, 07.08.2012

Dem Historiker Ahlrich Meyer ist nicht wohl dabei, wenn euopäische Politiker die Beteiligung der eigenen Länder am Holocaust betonen, wie jüngst François Hollande, der die Deportation der Pariser Juden als französisches Verbrechen bezeichnete: "Commis en France, par la France." Das verschiebe das Schuldgewicht, meint Meyer: "Das Vichy-Regime - oder wenn man so will: Frankreich - hat sich an diesem Verbrechen beteiligt. Die Deutschen aber hatten es geplant, und ohne die Anwesenheit der deutschen Wehrmacht in Frankreich wäre es niemals in die Tat umgesetzt worden."

Roman Bucheli möchte die Dateien nicht wirklich Bücher nennen, die auf der E-Book-Bestsellerliste der NY Times steht. Aber dass sieben Titel im Eigenverlag erschienen sind, können die Verlage nicht ignorieren, meint Bucheli: "Den Verlegern und Händlern jedenfalls werden sie - die Dateien - das Wasser abgraben. Nicht sogleich. Aber demnächst."

Weiteres: Martin Meyer frohlockt über Alfred Brendels Kompendium "A bis Z eines Pianisten": "Dieses kleine Buch wird Musikliteraturgeschichte machen." Ebenfalls besprochen werden eine Ausstellung über den japanischen Architekturpoeten Terunobu Fujimori in der Villa Stuck in München, Tadeusz Brezas Roman "Audienz in Rom" und Alain Lances Erinnerungen "Deutschland, ein Leben lang" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Aus den Blogs, 07.08.2012

(via bookslut) Dennis Johnson hat beleidigende Sätze von Schriftstellern über andere Schriftsteller zusammengestellt. Echte Könner sind am Werk! Mark Twain über Jane Austens Bücher: "Wenn man erst mal eins hingelegt hat, kann man es einfach nicht mehr in die Hand nehmen." Oder Getrude Stein über Ezra Pound: "Ein Dorferklärer. Ausgezeichnet, wenn man ein Dorf ist, aber ist man das nicht, nicht." T.S. Eliot über Henry James: "Er hatte ein so komplexes Hirn, dass keine Idee es überwältigen konnte." Oder Gore Vidal, nachdem ihn Norman Mailer auf einer Party mit einem Schlag zu Boden geschickt hatte: "Und wieder fand Norman Mailer keine Worte."

FR/Berliner, 07.08.2012

Ein älterer Herr, Hans-Christoph Buch, traf zwei noch ältere Herren, Günter Grass und Martin Walser, und trotz aller Meinungsunterschiede einigte man sich darauf, "dass früher alles besser war: Literaturkritiker waren fair und hatten nicht nur das jeweils letzte Buch, sondern das Gesamtwerk eines Autors im Blick, und Schriftsteller wie Max Frisch oder Heinrich Böll wurden zur moralischen Instanz."

Aus den Blogs, 07.08.2012

(via) Will Ferrell ist über die vom Boulevard hinlänglich dokumentierte Beziehungskrise von Kristen Stewart und Robert Pattinson schwer betrübt:

Welt, 07.08.2012

Der neue Intendanten der Ruhrtriennale, Heiner Goebbels, erklärt im Interview mit Christiane Hoffmans, warum er einen "offeneren Begriff von Musiktheater" pflegt als etwa Salzburg. Er möchte, dass auf der Triennale eine "eigene Realität" entsteht, die alle Genregrenzen ignoriert. Einen Blick für solche eigenen Realitäten hatte er schon immer, erzählt er: "Ich kann mich auch noch sehr gut an ein Konzert mit Elly Ney in meiner Heimatstadt Landau in der Pfalz erinnern, bei dem diese weltberühmte Pianistin als Zugabe 'Guten Abend, gute Nacht' spielte und das ganze Publikum mitsang. Das fand ich zwar grauenhaft kitschig - aber zugleich hat mich verblüfft, wie die klassische Konzertform plötzlich aufbrach."

TAZ, 07.08.2012

Im Interview mit Meike Laaf stellt der Netzphilosoph David Weinberger klar, dass uns das Internet nicht dümmer macht: "Es macht uns schlauer. Aber ich glaube, wir leben eben auch in einer der großartigsten Epochen der Geschichte, um dumm zu sein. Das Internet ist ein fantastisches, noch nie da gewesenes Werkzeug für den Erwerb von Wissen. Doch Wissen hat sich durch das Internet verändert - so sehr, dass unsere alten Wissensinstitutionen … einfach nicht mehr wissen, was sie damit anfangen sollen. Sie sind sehr schlecht darauf vorbereitet, mit dem Internet klarzukommen. Das ist die Krise, in der wir stecken."

Außerdem: Christian Werthschulte freut sich, dass Ben Drew alias Plan B auf seinem neuen Album "Ill Manor" sein soziales Gewissen wiederentdeckt hat: "Plan B wird so zum Posterboy der Riots, zum Gesicht unter dem Kapuzenpulli." Micha Brumlik liest die Erinnerungen der deutsch-israelischen Grünen-Politikerin Jutta Schwerin. Rudolf Walther begutatchtet den Fortschritt der Marx-Engels-Gesamtausgabe.

Und Tom.

FAZ, 07.08.2012

Die Grünen-Politikerin Agnes Krumwiede interveniert im Streit zwischen Google und der Gema und prangert die "Gier des Internetgiganten" an, der keine Vereinbarung mit der Gema treffe und zugleich die Werbebeteiligung für Musiker auf Youtube nicht offenlege: "So transparent die Nutzer für Google sind, so intransparent ist der Konzern, wenn es um eigene Interessen geht." Zugleich kritisiert Krumwiede Googles Unterstützung für Urheberrechtsreformer wie in Deutschland etwa der Initiative gegen ein Leistungsschutzrecht (Igel), der auch der Perlentaucher angehört: "Um plumpen Meinungskauf geht es dabei nicht... Google arbeitet subtiler, kauft keine Wahrheiten, sondern unterstützt jene, deren Überzeugungen den langfristigen Zielen des Konzerns in die Hände spielen."

Weitere Artikel: Andreas Platthaus wirft einen Blick auf die literarischen Neuerscheinungen des Herbstes und empfiehlt unter anderem Stephan Thomes "Fliehkräfte", Clemens J. Setz' "Indigo" und den wiederentdeckten Roman "In Bedrängnis" von Richard Hughes. Andreas Kilb hofft, dass die Sammlung des SAP-Milliardärs Hasso Plattner mit DDR-Kunst einen angemessenen Platz in Potsdam findet. Dirk Schümer liest ein (nur auf Französisch und Holländisch erschienenes) Buch über die belgische Tragödie. Lorenz Jäger schreibt zum Tod des Historikers Dieter Groh. Mark Siemons berichtet über neue Repressionen auf dem chinesischen Kunstmarkt, bei denen das Regime vor allem mit Steuernachforderungen operiert. Internetskeptiker Evgeny Morozov schreibt über Facebook und die Verbrechensbekämpfung und fordert klare Datenschutzrichtlinien.

Besprochen werden Ereignisse des Kammermusikfestivals Hitzacker, eine Ausstellung über den Theatermacher Fassbinder in München und Bücher, darunter Jonathan Littells Reportage über Syrien (mehr hier und in unserer Bücherschau).

SZ, 07.08.2012

Für die Reportage auf Seite Drei unterhält sich Thorsten Schmitz in Israel mit offiziell vereidigten Beschneidern und beschneidungskritischen Israelis, etwa den Reiners, die keinen ihrer beiden Söhen haben beschneiden lassen: "Leicht ist das Itay Reiner nicht gefallen. 'Was wird die erste Freundin von Inon sagen über einen unbeschnittenen Penis? Werden sie in der Armee über ihn lachen?' Itay Reiners Vater warnte: 'Deine Frau setzt euren Sohn ins Gefängnis des Andersseins.' Überzeugt hat ihn dann ein 15-jähriger unbeschnittener Nachbarsjunge, der sagte: 'Ich hatte noch nie ein Problem. Niemand sagt was, wenn wir uns beim Pissen anschauen.' Heute denkt Itay Reiner genauso: 'Man hätte schon vor 500 Jahren mit der Brit Mila aufhören sollen. Wir essen Schweinefleisch, gehen samstags aus, aber wir verstümmeln unsere Söhne noch immer!'"

Beim hoffnungslos verschlammsudelten Festival in Wacken glaubt ein wegen der lauten Metal-Musik "um die Gesundheit seiner inneren Organe" fürchtender Bernd Graff das Ende der Welt gekommen. Komisch eigentlich, denn er scheint von höflichen Metalheads geradezu umzingelt zu sein: "Es gibt gemeinsame Codes, Zeichen der Verständigung und des Einvernehmens, der großen Rücksichtnahme, der Höflichkeit und des Respekts vor dem Anderen." Auch diese Videoeindrücke zeigen nichts anderes als liebe Schwiegersöhne und -töchter in trauter Runde:



Weiteres: Thomas Steinfeld findet den am Samstag in der FAZ veröffentlichten "Einspruch gegen die Fassadendemokratie" von Jürgen Habermas, Julian Nida-Rümelin und Peter Bofinger gar zu idealistisch: Die Autoren übersehen, dass die Euro-Staaten trotz gemeinsamer Währung noch immer zueinander im Konkurrenzverhältnis stehen. Eine neue Studie "bescheinigt der Berliner Politik wie dem deutschen Militär ein gerüttelt Maß an Naivität" in Einschätzung und Umgang mit der Situation in Afghanistan, berichtet Martin Gerner. Henning Klüver meldet, dass nach langen Auseinandersetzungen im Dezember endlich die überfälligen Restaurierungsarbeiten des Kolosseums in Rom beginnen werden. Anne Philippi schlendert durch das glamouröse Beverly Hills Hotel, das gerade sein hundertjähriges Bestehen gefeiert hat. Camilo Jiménez würdigt Chavela Vargas im Nachruf als "Macho im Körper einer Feministin". Karl Lippegaus gratuliert dem Musiker Caetano Veloso zum 70. Geburtstag. Hier gibt er seinen Hit "Tropicalia" live zum Besten:



Besprochen werden eine Ausstellung über Land Art im Moca in Los Angeles, die danach auch in München zu sehen sein wird, und Bücher, darunter Nina Gerlachs "bemerkenswert fleißige" Studie über Gärten in Spielfilmen (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).