Heute in den Feuilletons

Sommersuperkitsch

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.08.2012. Die Welt folgt dem Flug der Fliege in einer Berliner Fluxus-Ausstellung. In Syrien ignoriert die Kulturszene die sich vertiefenden religiösen Spaltungen, berichtet die NZZ. Das Thema Beschneidung kann nicht allein rational diskutiert werden, warnt der Psychiater Egon Fabian in der Jüdischen Allgemeinen. Hitchcocks "Vertigo" hat Orson Welles' "Citizen Kane" als besten Film aller Zeiten abgelöst, meldet Sight & Sound. In der FAZ möchte Peter Gauweiler aus der EU eine Schweiz der Welt machen. Bis die steht, sammeln die Tschechen lieber Pilze, erklärt Jaroslav Rudiš. Die Zeit denkt über beachtungshungrige Killer nach.

Welt, 02.08.2012

"Keine kunsthistorische Einordnung, keine thesenhaften Erklärungsstücke: Fluxus soll, muss erfahren werden", lernt Andrea Backhaus in der Ausstellung "Die Irren sind los" in der Berliner Akademie der Künste: "Wie soll man auch die die Fluxisten prägende Erkenntnis eines John Cage abbilden, wonach jede Schwingung ein musikalischer Vorgang sei? Wie die Szene rekonstruieren, als der amerikanische Kontrabassist Benjamin Patterson Ameisen auf einem weißen Blatt Papier fotografierte, um von deren Positionen die Anordnung von Klängen abzuleiten - Patterson, der auch den Flug einer Fliege in einem dunklen Zimmer als Musikstück begriff?"

Weitere Artikel: Tilman Krause schreibt den Nachruf auf Gore Vidal. Marc Hairapetian gratuliert Peter O'Toole zum Achtzigsten. In der Glosse kommentiert Heimo Schwilk die Sperrung des Twitter-Accounts des Independent-Reporters Guy Adams.

Besprochen werden die Superman-Biografie von Larry Tye, der Pixarfilm "Merida" und die Verfilmung von Hunter S. Thompsons "Rum Diary" mit Johnny Depp.

NZZ, 02.08.2012

Zu Beginn des Aufstands in Syrien schien die konfessionell diverse Bevölkerung im Widerstand vereint, berichtet Mona Sarkis. Inzwischen tun sich zwischen den verschiedenen Glaubensgemeinschaften jedoch Gräben auf: "Je mehr Menschen getötet und in die Flucht getrieben werden, desto größer wird der Hass auf all die, die sich dem Regime nicht widersetzen. Und das sind nun einmal nicht zuletzt die Minoritäten." Doch die meisten Kulturschaffenden ignorieren das Risiko des Konfessionskriegs oder tun es ab als "Propaganda eines Regimes, das zu überleben hoffe, indem es die Volksgruppen gegeneinander aufzuhetzen suche."

Stefana Sabin schreibt den Nachruf auf Gore Vidal, "die frechste unter den kritischen Stimmen Amerikas". Beatrice Eichmann-Leutenegger stellt den Schweizer Kranich-Verlag vor. Besprochen werden Filme, darunter Woody Allens neue Komödie "To Rome With Love", und Bücher, darunter Annie Proulx' Erinnerungen "Ein Haus in der Wildnis" (mehr in unserer Bücherschau heute um 14 Uhr).

TAZ, 02.08.2012

Sonja Vogel schreibt den Nachruf auf Gore Vidal. Besprochen werden die Ausstellung "Mutatis Mutandis" in der Wiener Secession, Seth MacFarlanes Film "Ted", Bruce Robinsons Film "Rum Diary" und die DVD "Gandu - Wichser".

Und Tom.

Weitere Medien, 02.08.2012

In der Jüdischen Allgemeinen glaubt der Psychiater Egon Fabian nicht, dass man eine emotionale Angelegenheit wie die Beschneidung allein rational und wissenschaftlich klären kann: "Nicht nur das Thema Beschneidung ist irrational. Irrationalität haftet dem Judentum schlechthin an. Alle, die Verfechter des Judentums als Glaubensgemeinschaft, als Nation, oder als Ethnie, haben recht und verfehlen gleichzeitig das Wesentliche. Freud, der jüdische Rationalist, hat das meiner Meinung nach am nachvollziehbarsten ausgedrückt, als er in seiner berühmt gewordenen Einführung zur hebräischen Ausgabe von 'Totem und Tabu' zugab, sich vom Glauben, von der Sprache und den Bräuchen seiner Ahnen weit entfernt zu haben; und doch, wenn man ihn fragen würde, was an ihm jüdisch ist, würde er antworten: 'Noch sehr viel, wahrscheinlich die Hauptsache.'"

(via 3 quarks daily) Tariq Ramadan ist in Guernica sehr unzufrieden mit den Säkularisten (sowieso), aber auch den Islamisten in der arabischen Welt, die in der Regierung zu versagen drohen. Ist vielleicht die Türkei ein Vorbild? Ramadan ist sich nicht sicher: "Has contemporary Turkey been faithful to its history and traditions; is it proving successful in safeguarding its spirit, its specificity, and its cultural creativity? Has it achieved anything more than thoroughly - and apparently successfully - integrating itself into the global economic order, into the dominant global culture, and accepting the prevailing productivist logic? Do its commitment to strong economic growth and a new strategy of international relations represent a step forward, a means to an end - or an end in itself? These are the issues that lie at the heart of any discussion of the Turkish model, whether it is viewed positively or critically."

Der König ist gestürzt: Nach 50 Jahren unangefochtener Herrschaft ist Orson Welles' "Citizen Kane" nicht mehr der "beste Film aller Zeiten", wie die Auswertung der alle zehn Jahre stattfindenden Filmkritiker-Umfrage von Sight & Sound ergeben hat. Statt dessen führt nun Hitchcocks "Vertigo" das Zepter. Da sei James Stewart und Kim Novak ein Küsschen gegönnt:

SZ, 02.08.2012

Ronen Steinke spricht mit dem Völkerrechtlicher Robin Geiß über das Vergeltungsrecht im Fall von Cyberattacken. Kristina Maidt-Zinke gratuliert Isabel Allende zum 70. Geburtstag. Und Willi Winkler verabschiedet sich von Gore Vidal, den er als konsequenten "Klassenkämpfer von links oben" würdigt.

Besprochen werden neue Aufführungen bei den Salzburger Festspielen, darunter Strauss' "Ariadne auf Naxos" und Princess Zinzi Mhlongos "Trapped", die Ausstellung "New Nordic Architecture and Identity" im Louisiana Museum of Modern Art in Kopenhagen, die Verfilmung von Hunter S. Thompsons Roman "The Rum Diary", in der Rainer Gansera in Johnny Depp einen "rumgetränkten Don Quijote" erkennt, und Isabel Allendes neuer Roman "Mayas Tagebuch" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 02.08.2012

Im Weltmachtstreben Europas sieht Peter Gauweiler den demokratischen Souverän bedroht (die Eingliederung Bayerns in den Preußischen Staat sitzt dem CSU-Politiker da noch historisch tief in den Knochen, wie er ausführlich darlegt) und plädiert daher, unterfüttert von Zitaten Sebastian Haffners, für entspanntes Zurücklehnen: Europa "könne vielmehr im Windschatten der amerikanisch-sowjetischen Hegemonie zu einer 'Schweiz der Welt' werden und als solche die Menschheitsaufgabe angehen, einen 'Ausgleich von Technik und Humanität' beziehungsweise eine 'Anpassung vorwissenschaftlicher Humanwerte an die versachlichte Wissenschaftswelt' herbeizuführen."

Die Tschechen würden sich da wohl lieber nicht festlegen, liest man das Sittenbild der offenbar schwer korrupten tschechischen Politik, das der Schriftsteller Jaroslav Rudiš zeichnet. Was Europa angeht, hält man sich gern nach beiden Seiten bedeckt: "Nach derselben Methode haben wir uns ein proeuropäisches Parlament gewählt, während unser Präsident der berühmteste Anti-Europäer überhaupt ist. Ansonsten interessieren wir uns hauptsächlich für den eigenen Bauch, und Europa dient uns als Geldquelle. Wenn es aber um Solidarität geht, verschwinden wir in unsere Wälder und sammeln Pilze."

Weitere Artikel: Für seine Sommerkolumne lässt sich Niklas Maak im Cabriolet den Wind um die Nase wehen, umkreist dabei aber Berlin weiträumig, wo man mit dem Gefährt seine lieben Sorgen hat: "Im günstigsten Fall liegt morgens Müll im Cabrio, im ungünstigsten ein Betrunkener". Patrick Bahners schreibt den Nachruf auf Gore Vidal.

Auf der Medienseite bilanziert Kata Kottra das umstrittene ungarische Mediengesetz: Im Gegensatz zum Rundfunk sind Print- und Onlinejournalismus "vielfältig und kritisch geblieben".

Besprochen werden Sylvain Estibals Filmkomödie "Das Schwein von Gaza", die Hans-Jörg Rother mit "Melancholie und Bestürzung" zurücklässt, eine James-Bond-Ausstellung im Barbican Centre in London, die Aufführung von Princess Zinzi Mhlongos "Trapped" bei den Salzburger Festspielen und Gerhard Henschels "Zungenbrecher" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 02.08.2012

Im Wirtschaftsteil wird auf drei Seiten geschildert, wie die Giganten Apple, Facebook, Amazon, Google und Co. dem Internet ihre Gesetze aufzwingen. Der Schriftsteller und Publizist Benjamin Stein beklagt im Interview die Bequemlichkeit und Naivität der Nutzer, die die totalitären Tendenzen der Konzerne begünstigten: "Den meisten Leuten ist ja gar nicht bewusst, wie eingehegt sie im scheinbar freien Internet schon sind und wie viele Informationen sie unfreiwillig von sich preisgeben. Aber selbst wenn sie es wüssten, würde eine überwältigende Mehrheit ihr schickes iPhone behalten wollen." (Wie sollen sie auch sonst ihre Zeit-App nutzen?)

Ingeborg Harms entwirft aus aktuellem Anlass eine Geschichte von Attentätern und Amokläufern, die durch ihre Taten zu Prominenten wurden. Der Soziologe Armin Nassehi antwortet auf Thomas Assheuers Essay zur Konjunktur von Begriffen wie 'Postdemokratie' und 'Spätkapitalismus'. Im 4. Teil der Serie zu Nachkriegsromanen wird der Kanon um Werke von Italo Calvino, Ingeborg Bachmann, Imre Kertész und anderen erweitert. Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy spricht über die Rolle von Literatur im Osteuropa der siebziger Jahre. Peter Kümmel bedauert in seinem Nachruf, dass Susanne Lothar keine Gelegenheit bekam, in einem James-Bond-Film aufzutreten.

Besprochen werden Inszenierungen des Festspielsommers: Jan Philip Glogers "Fliegender Holländer" in Bayreuth sowie Andrea Breths "Prinz von Homburg" und Jens-Daniel Herzogs "Zauberflöte" in Salzburg; außerdem Bruce Robinsons Verfilmung von Hunter S. Thompsons "Rum Diary" (ein "wunderbar gefilmter Sommersuperkitsch", findet Thomas E. Schmidt), das Debütalbum des schwäbischen Erfolgsrappers Cro sowie Bücher, darunter Michael Frayns spöttischer Ägäis-Roman "Wilkommen auf Skios" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Im Dossier erinnert Andreas Pehnke an den Schriftsteller Wilhelm Lamszus, dessen Roman "Das Menschenschlachthaus", der den ersten Weltkrieg vorwegnahm, vor 100 Jahren erschien. Michael Strobl belegt, wie der US-Journalist William L. Shirer in seinem berühmten "Berliner Tagebuch" von 1941 seine Erfahrungen verzerrte, um die Amerikaner zur Aufgabe ihres Isolationismus zu bewegen. Annika Joeres schildert einen "pittoresken Rechtsstreit" zwischen Picassos Erben und seinem Elektriker, bei dem es immerhin um 271 Zeichnungen des Künstlers im Wert von geschätzten 80 Millionen Euro geht.