Heute in den Feuilletons

So ein wenig Zivilcourage

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.07.2012. Caravaggio in Mailand? Gelungene Kunstaktion, findet die FR. In der Welt sucht Ruth Klüger die Wahrheit bei Ingeborg Bachmann. Die NZZ fürchtet einen intellektuellen und kulturellen Kahlschlag in Rumänien. In der FAZ schwelgt Georg Stefan Troller in Erinnerungen an seine Buchbinder-Ausbildung. In der SZ gibt sich Willi Winkler der rohen Kraft der Rolling Stones hin, und Richard Beck fordert die Abschaffung der Ehe. Und Foreign Policy ist auf den Twitterstream zur amerikanischen Revolution gestoßen.

FR/Berliner, 07.07.2012

Ganz gehörige Zweifel hat Arno Widmann, dass es sich bei den Bildern aus dem Caravaggio-Fund überhaupt um Werke des Meisters handelt. Insbesondere auch, da es ihm nicht gelingen will, das angebotene E-Book mit den Bildern herunterzuladen, mutmaßt er eine "Köpenickiade von Mailand": "Vielleicht war es so: Zwei Pseudo-Caravaggio-Forscher melden einer Presseagentur, sie hätten hundert Caravaggios entdeckt, dann stellen sie etwas ins Internet, das man nicht hinunterladen kann und sind so einen Tag lang das Gespräch der Kunstwelt des ganzen Planeten Terra."

In der Beschneidungsdebatte ist Navid Kermani kein Ton zu schrill: Im Gespräch verrät er Joachim Frank, dass er es "noch nicht ganz glauben [kann], dass keine 70 Jahre nach der Schoah traditionelles jüdisches Leben in Deutschland wieder kriminalisiert und damit letztlich in die Illegalität getrieben wird." Patrick Heidmann spricht mit Elyse Klaidman vom Animationsfilmstudio Pixar, dessen Ausstellung in der Bundeskunsthalle in Bonn sie gerade kuratiert hat. "Ach, unschuldige Jugend", seufzt Marcus Staiger beim neuen Album des Rappers Cro.

Welt, 07.07.2012

Wie angekündigt bringt die Literarische Welt heute Ruth Klügers Klagenfurter Rede, in der sie sehr schön über die Wahrheit bei Ingeborg Bachmann spricht: "Die Wahrheit war für Bachmann das Ziel der Kunst und gleichzeitig zweifelte, ja, verzweifelte sie immer wieder an der Möglichkeit, sie auszudrücken. Das ist mehr als die modische Sprachskepsis der 60er- und 70er-Jahre. Ich meine, es ist das Problem, das ihr ganzes Werk durchzieht, und man könnte behaupten, es ist ein Hauptproblem für die heutige Literatur. Sprache sollte Vermittlerin der Wirklichkeit, ihre Verwandlung in Wahrheit sein. Doch Bachmann ist die Dichterin der Gleichnisse, die nicht aufgehen. Wir suchen nach dem Sinn, und sie verweigert ihn, nachdem sie uns lockt und glauben macht, dass sie ihn uns auf Bestellung kredenzen wird. Diese Verwirrung führt die Leser zu weiterem Suchen."

In Köln wurde nicht das letzte Wort zur Beschneidung gesprochen, meint Henryk Broder im Feuilleton und wünscht sich eine rechtliche Klärung vor dem BGH, zum Beispiel etwa "indem ein bis zwei Dutzend jüdische und muslimische Eltern in verschiedenen Landgerichtsbezirken ihre neugeborenen Söhne beschneiden lassen und sich hinterher selbst anzeigen. So ein wenig Zivilcourage passt doch auf jede noch so kleine Vorhaut."

Weiteres: Im Interview mit Gabriele Walde bringt Gemäldegalerie-Direktor Bernd Lindemann keinen Widerstand gegen die Pläne auf, sein Haus der Neuen Nationalgalerie zu überlassen und provisorisch ins Bodemuseum zu ziehen: "Es hat ja überhaupt keinen Sinn, mit Empörungsgeschrei durch die Gegend zu rennen." Paul Badde mahnt zwar zur Vorsicht, wäre aber schon begeistert, wenn sich die entdeckten hundert Caravaggio-Zeichnungen als echt herausstellen sollten. Schwer zu sagen, was Mara Delius von E.L. James sehr gehyptem Frauenporno "Geheimes Verlangen" hält, letztlich sind ihr aber die Rohheiten zu gestriegelt. Manuel Brug verabschiedet Andreas Honoki, der die Intendanz der Komischen Oper an Barrie Kosky übergibt. Gerd Holzheimer geht mit dem Kabarettisten Gerhard Polt im Biergarten essen.

TAZ, 07.07.2012

Für viel Trubel sorgt in Frankreich derzeit Michel Onfrays in Le Point veröffentlichte Rezension von Jean Solers neuem Buch (vgl. auch unsere Magazinrundschau vom 03.07.), informiert Christof Forderer. Dass Onfray "sich zum Lautsprecher ausgerechnet jener Passagen des Buches macht, in denen sich die Grenze zwischen Religionskritik und Antisemitismus verwischt", habe auch mit einem nicht aufgelösten antisemitischen Rest in Frankreich zu tun, meint Forderer: Dort müsse man "nur eine beliebige Person des öffentlichen Lebens angoogeln und man hat den Beleg, dass zahllose Franzosen wissen wollen, ob jemand Jude sei: Ungefragt schlägt die Suchmaschine als zusätzliche Suchoption das Wort 'juif' vor."

Weitere Artikel: Ingo Arend rühmt Caravaggio als "Maler des Begehrens". Kai Schlieter trifft den seit 50 Jahren wegen Mordes einsitzenden Hans-Georg Neumann im Gefängnis. Martin Reichert spricht mit dem schwarzen, schwulen DJ Jay Anderson, der im Berliner Szeneclub "Ficken 3000" zur Verwunderung des Publikums auch mal Jazz spielt. Katharina Borchardt unterhält sich mit der Koreanistin Helga Picht, Honeckers einstiger Dolmetscherin für Koreanisch. Viel Vergnügen hatte Thomas Groh bei den heute Abend von arte ausgestrahlten Kapriolen, die John Landis und Terry Gilliam in London aufführten. Detlef Kuhlbrodt gratuliert dem Berliner Underground-Original Klaus Beyer zum 60. Geburtstag. Dazu dessen großer Hit "Die Glatze" von 1982:



Besprochen werden eine Ausstellung mit Arbeiten von Gabriel Orozco in der Deutschen Guggenheim in Berlin, eine Ausstellung von Alighiero Boetti im MoMA in New York, das neue Album der Dirty Projectors, das laut Julian Weber "jegliche Anflüge des Esoterischen wie einen alten Anzug" abstreife, und Bücher, darunter Ivan Klímas Roman "Stunde der Stille" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Aus den Blogs, 07.07.2012

(via) Ein Gang durch die Filmgeschichte - ganz buchstäblich (hier eine Liste mit allen Filmen):


Stichwörter: Filmgeschichte

Weitere Medien, 07.07.2012

(via 3 quarks daily) Was, wenn es Twitter schon zur Zeit der amerikanischen Revolution gegeben hätte? Foreign Policy hat eine Vision:

@KingLouisXVI We fully support the democratic aspirations of the American people #NotAPrecedent
@GeorgeWashington Crossing Delaware http://bit.ly/A1dEVy
@KingGeorge3 FML!!! RT @GeneralBurgoyne Surrendering Saratoga
@GeorgeWashington Checked in at Valley Forge on Foursquare
@JohnAdams @AbigailAdams I can't stand Versailles. SO over the top.

Soviel Aufwand für so ein kleines Teilchen: In Focus zeigt in einer großen Fotostrecke den beeindruckenden Technikpark, den es zum Aufspüren des Higgs-Boson gebraucht hat.
Stichwörter: Twitter, Versailles

NZZ, 07.07.2012

Rumäniens Intellektuelle fürchten, dass der neue Ministerpräsident Victor Ponta eine ideologische Flurbereinigung à la Viktor Orbán im Schilde führt, informiert Joseph Croitoru: "Die Sorge um den Fortbestand der mühsam erkämpften demokratisch ausgerichteten politischen Kultur des Landes ist verständlich und angesichts der bedenklichen kulturpolitischen Vorgänge beim Nachbarn Ungarn - immerhin ein EU-Mitgliedsstaat - naheliegend, zumal es sich hier auch um die Einhaltung demokratischer Spielregeln handelt."

Peter Hagmann zieht eine überwiegend positive Bilanz von Alexander Pereiras ersten zwanzig Jahren als Chef des Züricher Opernhauses. In Montreal zeigt Rem Koolhaas sein "legendäres Projekt" der Bibliothèque Nationale de France, wie Roman Hollenstein berichtet.

Petra Kipphoff beschreibt die 13. Documenta in Literatur und Kunst als ein neues Kapitel der Kasseler Geschichte des aufgeklärten Absolutismus. Ob die Wahl des Schwerpunkts Afghanistan und die Zusammenarbeit mit Künstlern aus Kabul mehr ist als "ein Selbsterfahrungstrip der westlichen Teilnehmer, eine Horizonterweiterung und Imagepflege für die Documenta", muss sich noch erweisen, meint Christian Saehrendt. Christine Wolter stattet dem italienischen Schriftsteller Raffaele La Capria in Rom einen Besuch ab. Der Kirchenhistoriker Albrecht Beutel erinnert an den evangelischen Theologen Gerhard Ebeling, der gestern 100 Jahre alt geworden wäre.

SZ, 07.07.2012

Die Rolling Stones feiern ihr fünfzigjähriges Bestehen. Anlass genug für Willi Winkler, nochmal richtig den Rock'n'Roll-Stinkefinger hochzurecken: "Jeder Depp kann sich deshalb gescheit vorkommen, wenn er das Alter der noch aktiven Bandmitglieder Jagger, Richards, Watts sowie Ron Wood zusammenrechnet. Wer mag, kann ihnen auch ihr erspieltes Vermögen vorhalten, sie der Steuerflucht zeihen oder sozialkritisch dahermaulen, dass sich der ehemalige Vietnam-Protestant Mick Jagger zum Ritter hat schlagen lassen, aber damit ist nichts über die rohe Kraft gesagt, die der Musik dieses astreinen Buena Vista Social Club bis heute innewohnt. "

n+1-Autor Richard Beck wünscht sich, dass die amerikanische Linke die Institution der Ehe, die ein Versprechen fordere, "das kein kluger Mensch reinen Gewissens geben kann", wieder ins Visier der Kritik nimmt: "Allen anderen, die vor dieser Forderung zurückschrecken, werden wesentliche staatsbürgerliche Rechte entzogen."

Weiteres: Andrian Kreye berichtet von der TedGlobal-Konferenz in Edinburgh zum Thema Transparenz (Videos der Vorträge hier). Auch Valeska von Rosen ist abwartend skeptisch, was den Caravaggio-Fund betrifft, zumal dessen Präsentation mittels eines kostenpflichtigen E-Books doch arg unorthodox ist. Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler reden am Rande des Filmfests in München mit Julie Delpy. Höchst zufrieden kehrt Gustav Seibt von der Inspektion des generalsanierten und umgebauten Goethe-und-Schiller-Archivs in Weimar zurück. Außerdem erkunden die SZ-Redakteure auf einer Doppelseite ihr schlechtes Gewissen wegen der Massentierhaltung.

Besprochen werden ein Konzert von Edita Gruberova in der Münchner Philharmonie, die zwei Berliner Konzerte von Pearl Jam und E.L. James' Sadomaso-Bestseller "Shades of Grey" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

In der SZ am Wochenende liest Rebecca Casati den auszugsweise faksimilierten Verhör-Leitfaden der Scientologen für Kinder und hofft, dass Katie Holmes es gelingt, ihre gemeinsame Tochter mit Tom Cruise vor dem Zugriff der Sekte zu schützen. Beatles-Fotograf Harry Benson kommentiert sechs Bilder aus seinem gerade erschienen Fotoband über die Fab Four. Harald Hordych plaudert mit Otto Sander. Außerdem ist ein Auszug aus Karl Heinz Bohrers Erzählung "Granatsplitter" abgedruckt.

FAZ, 07.07.2012

In Bilder und Zeiten schildert der Autor und Filmemacher Georg Stefan Troller seine Buchbinder-Ausbildung in Wien kurz nach dem Anschluss Österreichs ans Dritte Reich und wie die Leidenschaft für schöne Bücher sein Leben und Schaffen geprägt hat: "Ich liebte es, ich liebte das ganze selige Metier. Lebenslang bin ich nicht von schön gebundenen Büchern losgekommen, bis heute. Hatte sogar einst davon geträumt, nach meiner Pensionierung als Filmemacher wieder zur Buchbinderei zurückzukehren, vielleicht als Volontär bei einem Pariser 'Relieur'. Nur dass es eben kaum mehr kleine Pariser Relieurs gibt, nicht einmal im Quartier Latin, ihrem Stammsitz über Jahrhunderte."

Heiner Goebbels hat sich für drei Jahre als Intendant der Ruhrtriennale verpflichtet. Im Interview spricht er über den Einfluss des Zufalls und die Rolle des Politischen in seiner Arbeit und erklärt, warum er sich nie an ein subventioniertes Stadttheater binden würde: "Ich arbeite mit einem festen Team, das man im emphatischen Sinn als Ensemble bezeichnen kann, aber keiner hat da einen Vertrag, der über eine Produktion hinausginge. Mit manchen arbeite ich schon seit mehr als zwanzig Jahren zusammen. Das ist aber ein anderer Ensemblebegriff als an einem Theater, an dem der Betriebsdirektor die Rollen über die Köpfe hinweg besetzt."

Anlässlich seines achtzigsten Geburtstags porträtiert Wiebke Hüster den niederländischen Choreografen Hans van Manen. Jordan Meijas berichtet von den Sanierungsplänen der Armory, einem ehemaligen Exerzierplatz und Ballsaal im Herzen Manhattans.

Eine Sonderbeilage zum 62. Treffen der Nobelpreisträger in Lindau widmet sich überwiegend der wahrscheinlichen Entdeckung des Higgs-Bosons.

Um die Krise des Euro zu überwinden, kann die EU nicht länger bloß Währungsunion sein, sondern muss auch zu einer Politischen Union zusammenwachsen, fordert Ulrich Wilhelm, ehemaliger Sprecher der Bundesregierung und amtierender Intendant des Bayerischen Rundfunks, im Feuilleton. Er richtet sich gegen die "Illusion, dass Deutschland und andere leistungsstärkere Länder für die bestehenden und künftigen Schulden anderer eintreten und haften werden, ohne dass sie entscheidend Mitsprache erhalten. Ohne Souveränitätsübertragung auf ein gemeinsames Europa kann keine nationale Demokratie auf Dauer eine so gewaltige Solidaritätsleistung stemmen."

Nachdem das Literaturarchiv in Marbach die letzte Tranche für das Uwe-Johnson-Archiv des Suhrkamp Verlags nicht zahlen konnte, geht das Archiv nun nach Rostock, wie Hubert Spiegel berichtet. Das sei "keine Katastrophe", aber "eine schreckliche Blamage für ein Archiv und einen Verlag, die die immer angestrebte Geschlossenheit der Suhrkamp-Bestände nicht zu bewahren wussten."

Weiteres: Dirk Schümer meldet vage Zweifel an der Urheberschaft des angeblichen Caravaggio-Fundes an. Jürgen Dollase wünscht sich von Biorestaurants mehr "Elemente mit krokanter Textur und einem kompottierten Hintergrund." Besprochen werden die Eichinger-Doku "Der Bernd" sowie Bücher, darunter Manfred Kochs Geschichte der Faulheit (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).