Heute in den Feuilletons

Depression, Burnout und früher Tod

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
29.06.2012. In der NZZ macht sich der malische Schriftsteller Mohomodou Houssouba Sorgen um das kulturelle Erbe von Timbuktu. In der FAZ warnt Abdelwahab Meddeb vor dem gefährlichen Schulterschluss von gemäßigten und radikalen Islamisten in Tunesien. In der Welt schildert Necla Kelek die Beschneidung von Jungen im Islam als demütigendes Ritual. Und Henryk Broder schreibt über jüdischen Antisemtismus. FAZ und NZZ machen sich Sorgen um die Berliner Gemäldegalerie. Am schlimmsten geht's aber in Kalifornien zu: Da ist ab übermorgen foie gras verboten, warnt Gawker.

NZZ, 29.06.2012

Der schwelende Bürgerkrieg zwischen Islamisten und Tuareg-Rebellen im Norden Malis bedroht das Erbe einer reichen Schriftkultur, informiert in einem sehr lesenswerten Artikel der malische Schriftsteller Mohomodou Houssouba: "In Timbuktu haben salafistische Fanatiker bereits das Mausoleum eines Heiligen geschändet, die Statue des legendären Schutzpatrons der Stadt und ein neueres, der Demokratie gewidmetes Denkmal geschleift. Andernorts wurden Dogon-Masken und -Statuetten und andere nichtislamische religiöse Symbole zerstört." Interessant zum selben Thema: Jean-Michel Djians Artikel in Le Monde.

Ein "Skandal" ist für Peter Bürger den Plan, die Berliner Gemäldegalerie für moderne Kunst zu räumen und große Teile des Bestandes im Depot verschwinden zu lassen: "Man zerschlägt ohne Not ein Museum, dessen Gemäldesammlung sich mit denen des Louvre und des Prado messen kann und wo man im Unterschied zu diesen, die vom Tourismus überschwemmt sind, die Bilder noch sehen kann." Im Interview verteidigt Hermann Parzinger, Präsident der Stiftung Preussischer Kulturbesitz, das Vorhaben: "Nach Abschluss unserer Rochade werden gerade die alten Meister die großen Gewinner sein. Gemäldegalerie und Skulpturensammlung gehören zu den weltweit bedeutendsten Museen ihrer Art, und auf der Museumsinsel käme ihr Rang endlich angemessen zur Geltung."

Weiteres: Martin Zingg gratuliert dem Schriftsteller und Hörspiel-Collagisten Ror Wolf zum 80. Geburtstag. Die amerikanische Sängerin Melody Gardot erzählt, wie sie lateinamerikanische Einflüsse für ihr neues Album gesammelt hat (hier ein Teaser).

Welt, 29.06.2012

Die Beschneidung von Jungen im Alter von acht oder zehn Jahren ist keine Lappalie, sondern ein schmerzhafter und demütigender Eingriff, schreibt Necla Kelek auf der Forumsseite: "Zu einer Zeit, wenn der Heranwachsende vielleicht gerade anfängt, seinen Körper zu entdecken, einen eigenen Willen und eigene Vorstellungen vom Leben zu entwickeln, wird seine Persönlichkeitsentwicklung durch eine Lektion gebrochen, die er ohne jede Erklärung erteilt bekommt - dass er sich zu fügen hat, wenn die Erwachsenen ihm Schmerz zufügen, dass Gott ihm Prüfungen auferlegt, die es zu bestehen gilt, oder er ist ein Nichts, weder Muslim noch Mann, noch Teil der Gemeinschaft." Im Feuilleton verteidigt dagegen Jacques Schuster die Beschneidung von Jungen im Namen der Religionsfreiheit.

Im Feuilleton erklärt Henryk M. Broder außerdem, was jüdischer Antisemitismus ist, den er unter zwei Fraktionen ausmacht - bei linken jüdischen Intellektuellen wie Tony Judt und bei den Ultraorthodoxen, die neulich die Gedenkstätte von Yad Vashem schändeten: "Die Ultraorthodoxen glauben, nein, sie sind fest davon überzeugt, dass der Holocaust eine Strafe Gottes war, denn die zionistische Idee ist etwa fünfzig Jahre älter als der Staat Israel. Sie machen nicht die Nazis, sondern die Zionisten für den Massenmord verantwortlich."

Weitere Artikel: Manuel Brug berichtet über die drohende Fusion der beiden SWR-Orchester. Thomas Kielinger meldet, dass der "Big Ben" in "Elizabeth Tower" umbenannt werden soll. Uwe Schultz besucht den einstigen Landsitz Augste Rodins in Meudon. Und Marc Reichweins Feuilletonkolumne ist heute von der Tarantel gestochen.

TAZ, 29.06.2012

Im Rahmen der Diskussion um das Kölner Urteil stellt Ulrich Gutmair den Anti-Beschneidungs-Film "Circumcision" des israelischen Filmemachers Ari Libsker vor, der 2004 im israelischen Fernsehen lief und für heftige Debatten sorgte. Gutmair überlegt abschließend: "Werden wir es erleben, dass sich ein deutsches Gericht zu den gesundheitsschädigenden Folgen protestantischer Leistungsethik äußern wird, die zu Depression, Burnout und frühem Tod durch Herzleiden und Krebs führen kann?" Nur wenn sie zu Hirnschäden führt.

Auf der Medienseite berichtet Rene Martens über einen Artikel in der heute erscheinenden konkret, der der Sonntagsfaz vorwirft, sie habe in einem Artikel "mehr als 80 Zeilen" aus einem Buch zitiert, ohne den Autor zu nennen.

Besprochen werden Wayne Wangs Film "Der Seidenfächer", der laut Rezensent Helmut Merker etwas unentschieden zwischen zwei Geschichten hin und her pendelt, das Album "Words and Music" des Londoner Trios Saint Etienne und das Album "Eat Skull" des österreichischen Musikers Wolfgang Möstl alias Mile Me Deaf.

Und Tom.

Aus den Blogs, 29.06.2012

In Kalifornien ist demnächst der Genuss von foie gras verboten. Nun setzt Panik ein, berichtet Caity Weaver für Gawker: "Californians have known this was coming for 8 years (the ban was signed into law by Governor Schwarzenegger in 2004) but, with a child's concept of time, have spent the intervening months convinced always that the dark day of the foie gras ban was still very, very, very far away. Now that the final hours are upon them, many of the state's more insufferable citizens are downing foie gras like it's the only food their bodies can process."

Und hier ein kleiner Trost:


Stichwörter: Gawker, Kalifornien

SZ, 29.06.2012

Es geht auch optimistisch, bemerkt Martin Brem beim Besuch des "New Music Seminar" in New York, wo weder über Urheberrechtsschmerzen, noch über Gratismentalität geklagt wurde, dafür enthusiastische Diskussionen über neue Geschäftsmodelle der Musikwirtschaft geführt wurden, deren Pragmatismus Brem für importierenswert hält: "Hierzulande lehnen sich Wut-Künstler schließlich gegen Dinge auf, die nicht mehr rückgängig zu machen sein werden, und verteidigen Pfründe, die vielleicht doch nicht ganz so selbstverständlich sind, wie sie vielen noch scheinen. Die schöne alte Schallplattenwelt ist nicht mehr. Das kann man bedauern, man kann sich auch darüber beschweren - ändern wird es nichts."

Nochmal Mosebach und dessen Blasphemieverbotswünsche: Insbesondere dessen Bagatellisierung islamistischer Morddrohungen und die Hoffnung auf ein besseres soziales Klima, wenn "Blasphemie" wieder gefährlich ist, stoßen Lothar Müller gehörig auf. Es klingt, so Müller, "wie eine Aufforderung an Christen (...) sich die Einschüchterungsrituale von Muslimen zum Vorbild zu nehmen." Weshalb er Mosebach auch ein Zitat aus dem Katechismus hinter die Ohren schreibt: "Gotteslästerlich ist es auch, den Namen Gottes zu missbrauchen, um verbrecherische Handlungen zu decken."

Weitere Artikel: Der Medizinhistoriker Wolfgang U. Eckart mahnt nach einem langen Referat zur Geschichte der Beschneidung in Europa: "Praktiken kultureller Identitätsbildung lassen sich eben nicht im Rechtshandstreich amputieren wie ein kleines Stück Vorhaut." Ganz beglückt geht Volker Breidecker von Alexander Kluges Poetikvorlesungen in Frankfurt a.M. nach Hause, wo dieser "stringent und kompakt (...) seine ganze persönliche Poetik" präsentiert habe. Willibald Sauerländer schreibt den Nachruf auf den Kunsthistoriker Bruno Bushart.

Besprochen werden eine Ausstellung über Alfredo Jaar in der Berlinischen Galerie, Andrea Moses' Inszenierung von "Chowanschtschina" am Nationaltheater in Weimar, Wayne Wangs Filmdrama "Der Seidenfächer", der Dokumentarfilm "Paradise Lost: Purgatory" von Joe Berlinger und Bruce Sinofsky, Ken Scotts Film "Starbuck", der heute Abend das Münchner Filmfest eröffnen wird, eine Ausstellung zur "Kunst der Wiederholung" in der Staatlichen Kunsthalle in Karlsruhe und Ror Wolfs Roman "Die Vorzüge der Dunkelheit" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 29.06.2012

"Die Bilderfeindlichkeit" der Salafisten, die kürzlich im Hafsidenpalast in Tunesien Bilder einer Kunstausstellung zerstört haben (mehr), basiert "auf einer Verleugnung islamischer Tradition und Kultur", schreibt Abdelwahab Meddeb (hier der französische Originaltext) und warnt vor einer neuen Diktatur im Land: "Der von den angeblich gemäßigten Islamisten kontrollierte Staat wirft jene, die Terror säen, mit den Künstlern in einen Topf und setzt sie mit extremistischen Provokateuren gleich. Wieder einmal zeigt sich die Strategie der Islamistenpartei Ennahda, die das Land regiert: Sie lässt zu, dass die Salafisten ihr Unwesen treiben, und verurteilt anschließend mit gleicher Schärfe den Angreifer wie auch das Opfer. So hoffen die Nahdisten, die auf Säkularisierung und Modernisierung drängenden Kräfte, neutralisieren zu können."

Gift und Galle spuckt Niklas Maak über die Kulturpolitik in Berlin, wo "kein Vorschlag irre und undurchdacht genug sein [kann], um nicht sofort umgesetzt zu werden". Auslöser seines Zorns: Der Plan, die Bilder alter Meister aus der Gemäldegalerie auszuquartieren, bzw. im Archiv abzustellen, um Raum für moderne Kunst aus Privatsammlungen zu schaffen. Dies ist so irrwitzig, findet Maak, als würde man im Metropolitan Museum in New York Poussin und Goya wegräumen, um "stattdessen erstklassige Designermöbel in den so freiwerdenden Räumen zu zeigen".

Weitere Artikel: In Israel gibt es eine zunehmend wachsende Minderheit, die sich gegen das Beschneiden ihrer Kinder entscheidet, erzählt der israelische Mediziner und Publizist Gil Yaron, der auch seinen eigenen Sohn nicht hat beschneiden lassen. Christian Geyer verfolgt im Europaparlament Diskussionen über das Demokratiedefizit bei den Euro-Maßnahmen. Paul Ingendaay schaut sich auf Madrider Kleinbühnen um, wie das Theater in Spanien unter den Bedingungen der Wirtschaftskrise zurechtkommt. Eric Pfeil möchte Jack White nach dessen Kölner Konzert "zum Bürgermeister aller Konzerthallen machen". Niklas Maak resümiert die "Internationalen Tage" in Ingelheim am Rhein.

Besprochen werden Bücher, darunter Vladimir Vertlibs Roman "Schimons Schweigen" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).