Heute in den Feuilletons

Bin ich nicht das Genie?

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
18.06.2012. In der FR erblickt Ralf Bönt in der Urheberrechtsdebatte den Gipfel der Spießigkeit. Die taz begrüßt die Rückkehr des Flaneurs in der Berlinliteratur. Die NZZ begrüßt Warschau in der europäischen Architekturmoderne. Und die FAZ stößt in den innersten Kern der abstrakten Malerei vor.

FR/Berliner, 18.06.2012

Der Autor Ralf Bönt singt ein Loblied auf das E-Book und geißelt zugleich die allseitige Spießigkeit in der Urheberrechtsdebatte: Während der "Technospießer" sich nur für seinen Computer interessiere und "Anonymität und Schattendasein mit Freiheit" verwechsle, warnen und mahnen die Verteidiger der "warmen Buchkultur": "Wie damals so dampft und wabert auch heute in fast jedem Statement der Begriff vom Genie durch die Zwischenzeilen. Das ist der Gipfel aller Spießigkeit, das unerreichbar Andere, das man selbst gern wäre und in sich doch schon gefühlt hat oder ahnt. Bin ich, der einsame Komponist mit meiner auf dem Papier kratzenden Feder, meiner Armut und Alkoholsucht nicht das Genie? Bin nicht ich es, der Techniker mit meinen Oszillografen, den schwarz-grünen Bildschirmen, Formeln, neuen Vokabeln, der Vision, die der Nichtwisser als Spinnerei bezeichnet?"

Außerdem: Beim Berliner Konzert der Rapperin Nicki Minaj sieht sich Christian Schlüter im Publikum von "glücklichen Penissen" umringt. Jens Balzer gratuliert Paul McCartney zum 70. Geburtstag.

"So etwas ist neu in Moskau", schreibt Frank Herold auf der Medienseite, nachdem sich ein russischer Polizist öffentlich dafür entschuldigt hat, dass er dem Journalisten Sergej Sokolow mit Mord gedroht hat.

TAZ, 18.06.2012

Mehr als eine Retromode, findet Frank Schäfer, sei die Wiederkehr des Flaneurs in der Berlinliteratur, etwa in Albrecht Selges "Wach" oder Thomas Melles "Sickster". "Die sukzessive Beschleunigung aller Arbeits- und Lebensprozesse weckt offenbar ein Bedürfnis nach Kontemplation, das sich seit einiger Zeit auch auf dem Buchmarkt ablesen lässt - etwa an den Chartplätzen der Wanderbücher von Harpe Kerkeling und Wolfgang Büscher. Die Flaneurfigur hat nun den unschätzbaren Vorteil, für ihre Ab- und Ausschweifungen nicht mal mehr verreisen zu müssen. Der Flaneur fährt eben nicht in den Urlaub, der ja auch geplant sein will, er nimmt sich die Freiheit unmittelbar, noch dazu ohne Kalkül. Er geht nicht nur, er lässt sich gehen."

In einem Kommentar verabschiedet Georg Seeßlen den Mythos von Hell's Angels und Co. "Aus dem kaputten Anarchismus ist ein nicht minder defekter Anachronismus geworden ... Was bleibt, ist schmutzige Wirklichkeit."

Besprochen werden die fast komplett aus dem Los Angeles County Museum of Art übernommene Ausstellung "Fashioning fashion" über Europäische Moden zwischen 1700 und 1915 im Deutschen Historischen Museum in Berlin, die die Entstehungsgeschichte der Mode und die Revolutionierung des Körperbilds dokumentiert, und das "fröhliche Frischling-Popalbum" "Trouble" des britischen Elektronik-Musikers Orlando Higginbottom alias Totally Enormous Extinct Dinosaurs aus Oxford.

Und Tom.

NZZ, 18.06.2012

Werner Huber berichtet von den architektonischen Veränderungen der letzten 20 Jahre, die Warschaus Erscheinungsbild grundlegen verändert haben. Zwar fehle noch immer eine Planung, aber immerhin haben ambitionierte Bauten die provinzielle Kommerzarchitektur der neunziger Jahre abgelöst: "Mit den jüngsten Museumsbauten, vom Chopin-Zentrum (Stelmach i Partnerzy, 2010) über das Kopernikus-Wissenschaftszentrum (RAr-2 Laboratorium Architektury, 2010) bis zum Museum der Geschichte der Juden in Polen von Lahdelma & Mahlamäki, das zurzeit im Bau ist, kann die III. Republik im europäischen Architekturdiskurs auf gleicher Augenhöhe mitreden."

Zu lesen ist außerdem eine persönliche Huldigung des Schriftstellers und Lyrikers Norbert Hummelt an seine Heimat Hunsrück. Besprochen wird eine Aufführung von Paul Hindemiths "Mathis der Maler" am Opernhaus Zürich.

Welt, 18.06.2012

Im Interview mit Christiane Hoffmans wehrt der Leiter der Bundeskunsthalle, Robert Fleck, technokratisch versiert jede Kritik an seiner Anselm-Kiefer-Ausstellung ab, die ausschließlich mit Arbeiten aus der Sammlung des Unternehmers und Kunst-Spekulanten Hans Grothe bestückt wird. Eckhard Fuhr besucht in der Berlier Akademie der Künste die Ausstellung des Architekten Volkwin Marg, der nach den Fußballstadien in Durban und Kapstadt nun auch die in Warschau und Kiew gebaut hat. Alan Posener schreibt zu Paul McCartneys Siebzigstem. Ulrich Weinzierl sieht sich am Münchner Residenztheater Michael Thalheimers "Sommernachtstraum" an.

SZ, 18.06.2012

Die Rolle der Medien bei den Auseinandersetzungen in Syrien kann man gar nicht hoch genug einschätzen, mahnt Rudolph Chimelli. Niklas Hofmann entnimmt einer Studie, dass Richter in den USA vermehrt Selbstergoogletes in ihre Rechtsprechung einfließen lassen und welche Probleme das vor dem Hintergrund der Filterblase mit sich bringen könnte (eine Entgegnung darauf gibt es es beim Atlantic). Jörg Häntzschel informiert über Debatten (etwa hier) um die Pläne, die Public Library in New York umzubauen. Jan Kedves unterhält sich mit der Sängerin Amanda Palmer über ihre sensationell erfolgreiche Kickstarter-Kampagne, die ihr über eine Million Dollar zur Finanzierung ihres kommenden Albums eingebracht hat. Auf Bandcamp kann man sich einiges von ihr anhören, darunter das Album "Who killed Amanda Palmer":


Besprochen werden neue DVDs, Michael Thalheimers "Sommernachtstraum"-Inszenierung am Residenztheater in München, die mit "Blut, Schweiß und Schwänzen" als "stereotypen Ingredienzien" aufwarte, die Produktion "Welt 3.0 - Maschinerie Hilfe" am Theater Konstanz, eine Ausstellung mit Bildern von "Bellini, Titian, and Lotto" im Metropolitan Museum in New York, eine Ausstellung über Schwabenkinder im Bauernhaus-Museum in Wolfegg, die Oper "Mathis der Maler" am Opernhaus Zürich, mit der sich Intendant Alexander Pereira in Richtung Salzburger Festspiele vom Haus verabschiedet, und Bücher, darunter eine Neuübersetzung des Romans "Oblomow", dessen Autor Iwan Gontscharow vor 200 Jahren geboren wurde (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 18.06.2012

Für ein zweiseitiges Dossier schauen Joachim Müller-Jung, Melanie Mühl und Jordan Mejias namhaften Vertretern der Hirnforschung über die Schulter, die gerade daran forschen, wie sich die Leistung des Hirn steigern lassen könnte. Dabei spielt nicht nur die Erforschung von Inselbegabten eine Rolle, sondern auch die Symptome von Schlaganfall- und Epilepsiepatienten, die neue Fertigkeiten entwickeln: "An der Schweizer Universitätsklinik in Lausanne wurden vor ein paar Jahren zwei professionelle Maler behandelt, die nach einem leichten Hirnschlag im Hinterhauptlappen beziehungsweise dem Thalamus ihre Stilrichtung radikal änderten. Der eine wurde vom Impressionisten zum abstrakten Maler, der andere beschäftigte sich nach dem Hirninfarkt nur noch mit symbolischer Kunst."

Unterdessen blickt Niklas Maak so fassungs- wie ratlos ins Programm des nach Protesten in Berlin-Kreuzberg nun in Prenzlauer Berg eröffneten Guggenheim Labs: "Die meisten der gestellten Fragen sind auf so unübertreffliche Weise irrelevant, dass man sich fragt, ob die Kuratoren eigenartige Substanzen in ihrem sogenannten Labor eingeatmet haben."

Besprochen werden Michael Thalheimers Inszenierung des "Sommernachtstraums" am Residenztheater in München und Bücher, darunter gesammelte Reiseberichte von Paul Bowles (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).