Heute in den Feuilletons

Sog aus Chaos, Kämpfen und Raubzügen

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
07.06.2012. Wegen Fronleichnam erscheinen heute nur in Berlin und der Schweiz Zeitungen. Die NZZ schildert die verheerenden Folgen der gegenwärtige Konflikte auf das syrische Kulturerbe. In der Jüdischen Allgemeinen fordert Günter Wallraff deutsche Künstler auf, sich mit Shahin Najafi zu solidarisieren. Die Welt vermisst auf der Documenta 13 die Kunststars nicht. Die Napster-Macher wollen jetzt Facebook revitaliseren. Die FAZ und die New York Times nehmen Abschied von Ray Bradbury.

NZZ, 07.06.2012

Die NZZ hat ihr Internet-Layout verändert und stellt praktisch nichts mehr kostenlos online. Heute trotzdem noch ein ausführliches Resümee.

Mona Sarkis informiert über besorgniserregende Auswirkungen der derzeitigen Konflikte auf das syrische Kulturerbe. So wurde etwa das Gelände der Zitadelle al-Mudiq bombardiert und dabei nicht nur historische Bausubstanz zerstört, die Erschütterungen gefährdeten auch das archäologisch interessante Erdreich. "Unabhängig von allen Gemengelagen stellt sich damit aber auch die Frage, ob Syrien nun in einen ähnlichen Sog aus Chaos, Kämpfen und Raubzügen gerät, wie er den Irak nach 2003 erfasste. Einstweilen ist die Lage unklar. Laut PAS [die Facebook-Gruppe Patrimoine archéologique syrien en danger aus syrischen und europäischen Archäologen] wird in der Grabungsstätte von Ebla geplündert, wo die auf dem Schwarzmarkt begehrten Keilschrift-Tontafeln aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. zu finden sind."

Weiteres: Wenig Vielfalt und Risikofreude entdeckt Daniel Ender in seinem kleinen Überblick über das Musikprogramm der Wiener Festwochen. Aldo Keel weiß über eine brandaktuelle Elfengeschichte aus Island zu berichten, in der es um einen Felsbrocken und einen Politiker geht. Informiert wird außerdem über eine Hitchcock-Retrospektive am British Film Institute in London, die bis Oktober alle 58 erhaltenen Filme des britischen Regisseurs zeigt.

Besprochen werden eine Ausstellung am Historischen Museum Luzern und ein Buch über den napoleonischen Russlandfeldzug und die Schweizer Beteiligung daran, Christian Petzolds Spielfilm "Barbara", Mirjam von Arx' Dokumentarfilm "Virgin Tales", eine beklemmende Innensicht der religiösen Rechten in den USA, der laut Rezensentin "der Faszination seines Gegenstandes erlegen" ist, Martin Amis' gelungener Roman "Die schwangere Witwe", der erotische Lyrikband "Gestohlene Lust" des indischen Dichters Bilhana und ein neuer Wagenbach-Band aus der Reihe "Literarische Einladung" über London. (mehr dazu in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Welt, 07.06.2012

Angeregt berichtet Hans-Joachim Müller von einem ersten Rundgang über die Documenta 13 und freut sich über die Abwesenheit der üblichen Verdächtigen: "Man wird sie in dem ganzen fast zweihundertköpfigen Aufgebot nicht finden, die bekannten Mimen, die umjubelten Darsteller und Schausteller, die Zeichensetzer und Rechthaber, die Rekord- und Transparentehalter, die hoch gehandelten Stars der globalisierten Kunstunterhaltung. Man vermisst sie auch an keiner Stelle."

Weiteres: Paul Jandl bilanziert nüchtern Ulrich Seidls freie Inszenierung von David Foster Wallaces "Kurze Interviews mit bösen Männern" am Wiener Akzent-Theater: "Seidls Filme gibt's jetzt also auch auf der Bühne, Textspuren von David Foster Wallace sind mit dabei". Elmar Krekeler plaudert mit Jean Reno über dessen neuen Film "Kochen ist Chefsache".

Aus den Blogs, 07.06.2012

Sean Parker und Shawn Fanning, die bösen Buben von der Internettauschbörse Napster, hatten eine neue Idee: Airtime, eine App, die Facebook-Freunden ohne weitere Software Video-Konversationen erlaubt. Kevin Kelleher glaubt im ReadWriteWeb, dass dieser Dienst Facebook "revitalisieren" könnte: "It appears to have many features that could be alluring to hundreds of millions of people: It fits neatly into Facebook's social graph. It connects anyone with a webcam and a Facebook account to their online friends, or to strangers who share a love for the same band or film. It allows two people to watch and discuss a YouTube video. All of this has been possible on the Web for some time, but Airtime aims to make it much easier."
Stichwörter: Facebook

TAZ, 07.06.2012

Christoph Schröder berichtet über Alexander Kluges erste von vier Frankfurter Poetikvorlesungen: "So darf es weitergehen." Markus Weckesser führt durch eine Ausstellung der Kölner SK Stiftung Kultur mit Fotografien von Wilhelm Schürmann. Sie zeigt Fotos, die der international als Sammler und Vermittler von zeitgenössischer Kunst bekannte freie Fotograf zwischen 1979 und 1981 in Dortmund-Marten machte.

Besprochen werden Sibylle Dahrendorfs Film "Knistern der Zeit" über Christoph Schlingensief und sein Operndorfprojekt in Burkina Faso, der "auf Leinwänden in deutschen Kinos und Theatern ausgestrahlt, auch ein Moment von befremdlicher Verehrung und Überhöhung" aufweist, Ulrich Seidls als "lässlicher Sozialporno in Starbesetzung" inszeniertes Stück "Böse Buben/Fiese Männer" nach dem Kurzgeschichtenband "Kurze Interviews mit fiesen Männern" von David Foster Wallace bei den Wiener Festwochen, Mark S. Halls Dokumentarfilm "Sushi - The Global Catch", der gegen den massenhaften Fang von Blauflossenthunfischen agitiert, die DVD von Pierre Granier-Deferres Film "Le Train" von 1973 nach einer Vorlage von Georges Simenon.

Und Tom.

Weitere Medien, 07.06.2012

Günter Wallraff kritisiert in der Jüdischen Allgemeinen deutsche Politiker, dass sie im Fall des von den iranischen Mullahs mit Mord bedrohten Sängers Shahin Najafi noch keinen Mucks von sich gegeben haben - obwohl sich Najafi in Deutschland aufhält: "Aber auch deutsche Künstler sind gefordert, sich mit ihm auf die Bühne zu stellen und ihn in ihre Mitte zu nehmen. Ebenso würde ein Stipendium Najafi helfen, langfristig seine Arbeit fortzusetzen. Im Iran ist er bereits jetzt ein Hoffnungsträger der Jugend, Hundertausende hören seine verbotene Musik im Internet."

Wegen Wolken doch keine Venus vor der Sonne gesehen? Macht nichts: In Focus entschädigt mit teils atemberaubenden Fotografien aus aller Welt und einigen großartigen NASA-Aufnahmen.

Michiko Kakutani, die Literaturchefin der New York Times, schreibt den Nachruf auf Ray Bradbury: "In fact, the greatest danger in Mr. Bradbury's futuristic tales is not posed by aliens or robots, but by threats to creativity and art ('Fahrenheit,' 'The Smile') and humanity's own waning capacity for belief in the strange and miraculous." Die Los Angeles Times bringt ein ganzes Dossier über den Autor, der in Los Angeles lebte, und eine Bilderstrecke.

FAZ, 07.06.2012

Auch in Hessen ist heute Fronleichnam, somit gibt es keine neue Ausgabe der FAZ. Dennoch schon online zu finden ist der Nachruf von Science-Fiction-Experte Dietmar Dath auf Ray Bradbury, der am 05. Juni gestorben ist und dem Dath, allem sturen Konservatismus zum Trotz, den Status eines progressiven Pioniers beimisst: "Als die Science Fiction in den Sechziger Jahren ihre Foren und Hinterzimmer, ihre Zeitschriften und Buchreihen den Stimmen derer öffnen musste, die im technokratischen, von kompetenten, weißen, männlichen Hauptfiguren geprägten Erobererkanon des Genres zuvor zum Schweigen angehalten waren - Leuten wie dem schwarzen Homosexuellen Samuel R. Delany, Frauen wie Joanna Russ und dem Dichter der Verlierer des Fortschritts Barry Malzberg - hatte Bradbury, der mit Kulturrevolutionen nichts zu schaffen haben wollte, die Vorarbeit der Prägung eines anderen als des triumphalistischen, kompetenten, unbezwingbaren Tonfalls für den Traum vom Unwirklichen im Zwanzigsten Jahrhundert schon geleistet."