Heute in den Feuilletons

Zinedine redete sehr wenig

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.06.2012. Die Welt fragt: Wer war der Autors eines Krimis von Jean-Luc Bannalec? Handelt es sich um einen Insiderscherz des deutschen Literaturbetriebs? Der iranische Sänger Shahin Najafi antwortet mit einem Lied auf die Morddrohung der Mullahs - wir betten es ein. Verdient eine Forscherin wie Judith Butler, die den Boykott israelischer Universitäten unterstützt, einen Adorno-Preis?, fragt Thomas Osten-Sacken im Blog der Jungle World. Die Zeit sieht die Documenta vor lauter Bundesgartenschau nicht. Sascha Lobo versichert: Es gibt keinen Gott im Internet.

Aus den Blogs, 06.06.2012

Der iranische Sänger Shahin Najafi antwortet mit einem Lied auf die Morddrohung (interkuturell sensibel: "Fatwa") der Mullahs, die ausgesprochen wurde, weil er in einem satirischen Stoßgebet den zehnten Imam anflehte, auf die Erde zurückzukehren, um den Mullahs ein Ende zu bereiten. Hier das Lied (die ganze Übersetzung findet sich hier.)



Matthias Kuentzel erklärt in seinem Blog, warum ihn Shahin Najafis Lied so begeistert: "Ich bedauere sehr, dass ich kein Persisch kann - doch ein Wort in diesem Lied verstehe ich gut: Das Wort 'Fatwa'. Shahin singt aber nicht einfach 'Fatwa' sondern schleudert diesem Wort eine Art Fluch hinterher - in Form eines Lautes, den man mit arabischen Buchstaben nur sehr begrenzt als 'Wuahhh' darstellen kann. Dieses: 'Fatwaaaaa - Wuahhhh' schleudert das Todesdekret und die mit ihm bezweckte Einschüchterung beiseite. Hier speit ein Repräsentant der Zukunft mit hingebungsvoller Verachtung auf alles, was Ali Khamenei repräsentiert."

Alan Posener macht seine abweichende Meinung zu Joachim Gaucks Islam-Äußerungen in dem Blog starke-meinungen.de deutlich: "Die Sache ist ja die: man kann eben nicht als Liberaler und Demokrat verlangen, dass der Staatsbürger die Rechte und Freiheiten unserer Grundordnung gut findet, dass er positiv zu unserer Verfassung steht und dass er gern in diesem Lande lebt. Um es überspitzt zu formulieren: Auch ein depressiver Neonazi gehört zu uns."

Aus den Blogs, 06.06.2012

Judith Butler, die den Adorno-Preis der Stadt Frankfurt erhalten soll, ist Anhängerin der Boykott-Israel-Bewegung (mehr dazu auch hier), schreibt Thomas Osten-Sacken im Blog der Jungle World: "Innerhalb dieser Kampagne ruft sie ganz spezifisch zu einem Boykott der akademischen und kulturellen Institutionen des jüdischen Staates auf. Diese Forderungen klingen im Original so: (1) Refrain from participation in any form of academic and cultural cooperation, collaboration or joint projects with Israeli institutions that do not vocally oppose Israeli state policies against Palestine..." Osten-Sacken findet: "Minimalster moralischer Anstand, nicht einmal tieferes Verständnis, was Auschwitz eigentlich gewesen ist, gebietet es, dass in Deutschland Aufrufe zum Boykott jüdischer Akademiker nicht mit Adorno-Preisen honoriert werden!"

NZZ, 06.06.2012

Die österreichische Autorin Andrea Grill erzählt von ihrer Reise nach Teheran. Auf der Buchmesse, musste sie erfahren, herrscht nur ödes Gedränge; junge, spannende Autoren trifft man im Café M&M: "'Wir führen einen Krieg zwischen unseren Gehirnen und der Regierung', sagen die vier, denen ich dort gegenübersitze. Sie sind 37, 35, 28 und 27 Jahre alt, heißen Reza, Ali, Amir und Yousef. Alle vier tragen sie Jeans, karierte Hemden oder Sweatshirts, einer hat Hosenträger, wofür ihn die anderen freundschaftlich hänseln. Nach ihren 'Göttern' befragt, nennen sie Hemingway, Céline, Salinger. Was sie gelesen haben? Mehr als ich."

Weiteres: Marion Löhndorf erklärt sich den Erfolg von Londons Bürgermeister Boris Johnson seinem charmant kaschierten Ehrgeiz und einer kultivierten Upperclass-Trotteligkeit à la P.G. Wodehouse. Aldo Keel erinnert daran, dass vor zweihundert Jahren Finnlands Hauptstadt von Turku nach Helsinki verlegt wurde. Besprochen werden Johannes Frieds Streitschrift "Gang nach Canossa" und Kinderbücher (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Welt, 06.06.2012

Richard Kämmerlings geht der Frage nach, wer der Autor eines aktuellen Bestsellers ist - des Krimis "Bretonische Verhältnisse", den er als arg banale Mischung aus Reiseführer und Soft Crime beschreibt und der doch mit wohlwollendsten "Blurbs" der FAZ auf Platz 6 der Spiegel-Bestsellerliste anlangte. Ein Insiderscherz? Kämmerlings' mit Indizien unterlegte Vermutung: Hinter dem Pseudonym Jean-Luc Bannalec steckt der Fischer-Verleger Jörg Bong: "Der Literaturagent Matthias Landwehr, der Bannalec vertritt, sagt, als er mit dem Namen Jörg Bong konfrontiert wird, er könne 'zur Identität des Autors leider keine Angabe machen'. Auch der Verlag kenne diese nicht, so Landwehr. Man könne aber 'gerne nach Herzenslust spekulieren und insinuieren". Ein Dementi klingt anders.'"

Weitere Artikel: In seiner Kolumne "J'accuse" weist Alan Posener manche ressentimentgeladene Passage in Thilo Sarrazins fast schon vergessenem Buch über den Euro nach. Jan Küveler feiert den 40. Geburtstag von David Bowies Album "Ziggie Stardust". Peter Zander und Caroline Rudelt berichten vom Jüdischen Filmfest in Berlin.

TAZ, 06.06.2012

Silke Burmester kann es nicht ganz fassen, dass auf der Tagung des Netzwerks Recherche ein Telekom-Manager dem Spiegel erklärte, wie man ein modernes Unternehmen führt. Julian Weber war auf dem Mutek Festival für elektronische Musik in Montreal. Micha Brumlik widmet sich neuen Ansätzen für eine solidarische Bildung. Ingo Ahrend bespricht Dirk Saehrendts Band zur Documenta "Ist das Kunst oder kann das weg?"

Und Tom.

Spiegel Online, 06.06.2012

Sascha Lobo antwortet auf zwei Artikel deutscher Feuilletonisten (Matthias Matussek kostenpflichtig, Andrian Kreye hier), die dem Netz religiöse Züge andichten: "Das gefährlich Religionsähnliche entsteht, wenn man vergisst, dass das Netz von Menschen absichtlich geschaffen ist und von Menschen gestaltbar. Jeder Pixel ist an seinem Platz, weil irgendjemand es so wollte (oder die Folgen nicht überblickte), irgendjemand ist verantwortlich, es gibt keinen Gott im Netz."
Stichwörter: Lobo, Sascha

Weitere Medien, 06.06.2012

Cory Doctorow macht sich in der Technology Review Gedanken darüber, wie man die Datensammelwut der Internetgiganten stoppen könnte: "Cookie managers should come next. Imagine if your browser loaded only cookies that it thought were useful to you, rather than dozens from ad networks you never intended to interact with."
Stichwörter: Doctorow, Cory, Browser, Cookies

SZ, 06.06.2012

Laura Weissmüller blättert in Archiven mit BRD- und DDR-Presse und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass bei der Einschätzung früherer Documenta-Jahrgänge "eine klare Frontlinie zwischen West und Ost, zwischen BRD und DDR, zwischen abstrakter und gegenständlicher Kunst" verlaufen sei. Tim Neshitov beschreibt zwei Blasphemie-Verfahren: in der Türkei gegen den Pianisten Fazil Say (mehr) und in Russland gegen die Punkband Pussy Riot. Die Wiener Festwochen neigen sich für Egbert Tholl mit einer intensiven (Luca Francesconis "Quartett") und einer sehr enttäuschenden Oper ("La Traviata" in Deborah Warners Regie, die "eine Bankrotterklärung [sei und] bei einem Festival nichts verloren" habe) ihrem Ende entgegen. Anke Sterneborg berichtet vom zweiten Documentary Forum in Berlin. Peter Münch meldet, dass die für Mitte Juni vorgesehene Wagner-Aufführung in Tel Aviv nun doch abgesagt wurde. Fritz Göttler gratuliert der Filmemacherin Ulrike Ottinger zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden neue Pop-CDs, neue Kinofilme, darunter ausführlicher eine Doku über Christoph Schlingensiefs Operndorf in Burkina Faso und die neue Komödie "Kochen ist Chefsache", das Stück "Happy Days" bei den Festspielen in Bergen, eine Retrospektive mit Fotografien von Lewis Baltz im Kunstmuseum Bonn und Germán Kratochwils Roman "Scherbengericht" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 06.06.2012

Zwecklos, in Kassel die Übersicht behalten zu wollen, meint Hanno Rauterberg nach seiner Expedition in das Dickicht der Documenta: "Immer wieder drängt sich auf dieser Ausstellung die Natur ins Bild der Kunst. Überall lassen es die Künstler grünen und sprießen, Mangoldzucht auf einem Kahn, Apfelbäume in der Aue, dazu Schmetterlingssträucher, Bienen, Hunde, Felsen und Steine diverser Art - fast könnte man meinen, die Documenta sei zu ihren Anfängen in den fünfziger Jahren zurückgekehrt, als die Kunst noch ein Anhängsel der Bundesgartenschau war."

Außerdem hat die Zeit verschiedene Dichter gebeten, Günter Grass poetische Rückendeckung in Sachen Griechenland zu geben. Zu Hilfe gekommen sind neben Nora Bossong, Sibylle Lewitscharoff und Martin Walser auch Franzobel ("Heulen nach Athen") und Durs Grünbein mit einer "Ekloge" ("Apollo: / Mein Rat an die Leute: Zeugt Kinder, ihr Lieben! / Jetzt da, zu Lande, zu Wasser nichts zu erwarten ist, / Da ihr nichts zu verlieren habt als euch selbst.")

Weiteres: Gedruckt wird Jens Jessen Laudatio auf den Historiker Götz Aly zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises. Thomas Groß unterhält sich mit Neil Young über dessen stotterndes Projekt eines Energiespar-Lincolns und die Frage, wie nachhaltig Rock'n'Roll sein kann. Peter Kümmel verabschiedet den abtretenden Berliner Theatermacher und HAU-Erfinder Matthias Lilienthal.

Besprochen werden Benoit Jacquots Film "Leb wohl, meine Königin" über die letzten Tage von Versaille, Patrick Roths Roman "Sunrise. Das Buch Joseph", Jürgen Trimborns Fassbinder-Biografie "Ein Tag ist ein Jahr ist ein Leben" und Peter Temples frostiger Politthriller "Tage des Bösen" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Dossier streitet Harald Martenstein gegen Tugendterror, Kontrollwahn und Denunziantenlust: "Eine Gesellschaft, in der kleine Verfehlungen und marginale Abweichungen vom rechten Pfad noch nach Jahrzehnten zum Ende einer Berufslaufbahn und zu einer öffentlichen Charakter-Hinrichtung führen, ist unmenschlich."

FAZ, 06.06.2012

Olivier Guez unterhält sich mit dem einstigen französischen Nationalspieler Lilian Thuram, der sich heute gegen Rassismus engagiert, sich aber schon in seiner aktiven Zeit viel mit dem Thema befasste: "Weil man als Fußballspieler so viel unterwegs ist, hat man auch viel Zeit zu lesen." Mit vielen seiner damaligen Kollegen konnte er über das Thema sprechen - außer mit einem: "Nein. Zinédine redete sehr wenig."

Weitere Artikel: Joseph Croitoru berichtet, dass ein geplantes Wagner-Konzert in Israel nun doch abgesagt wurde. Christian Geyer macht sich über den Vorschlag, Arbeitslose zu Kita-Erziehern auszubilden, lustig. Der Rechtshistoriker Wilfried Klein würde gern die Knochen der in Pforzheim ruhenden Familie von Baden auf Verwandtschaft mit Kaspar Hauser untersuchen und konstatiert dazu, dass diese Knochen keineswegs der fürstlichen Familie, sondern dem Land Baden-Württemberg gehören, das also nur zustimmen müsste. Katharina Teutsch besuchte das Poesiefestival in Berlin. Jan Brachmann wurde von der FAZ nach Bergen geschickt, um über das dortige Musikfestival zu berichten. Rainer Meyer berichtet über weiterhin lastende Erdbebenangst in Norditalien. Auf der Medienseite bezweifelt Ursula Scheer, dass die Facebook-Volksabstimmung über die neuen Nutzungsbedingungen gelingen kann.

Besprochen werden der spanische Film "Amador und Mrcellas Rosen" (mehr hier) und Bücher, darunter Ulrich Pothasts Studie über "Freiheit und Verantwortung" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).