Heute in den Feuilletons

Auch das Spiel folgt Regeln

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.05.2012. Im Tagesspiegel fordert der Drehbuchautor Thomas Bohn: Künstler, erfüllt die Bedürfnisse eures Publikums. Carta fürchtet, dem Künstler geht es bald wie der Milchkuh. Die FAZ dankt für die Würdigung der Verwerter. Die taz findet die Vorstellung von Liquid Democracy naiv: Politik brauche Profis. Die SZ begutachtet die weißen Elefanten in Kiew und Warschau. Die NZZ durchforstet das Angebot der Multioptionsgesellschaft.

Tagesspiegel, 11.05.2012

Auch der Tagesspiegel widmet sich heute dem Urheberrecht - in der Filmbranche. Laut Christiane Peitz führt die "Kostenlosmentalität" der User dazu, dass die Jobs von Regisseuren, Autoren, Schauspielern, Kameraleuten, Ausstattern bedroht sind.

Der Drehbuchautor Thomas Bohn sieht das ganz anders: "Ich widerspreche entschieden denen, die behaupten, der Bedarf nach einer Gratiskultur im Internet würde wachsen. Was wächst, ist das Bedürfnis der Zuschauer, Filme sehen zu können, wann, wo und wie sie wollen. ... Wenn unsere Medienpolitiker und -manager dieses zentrale Problem endlich zuschauerfreundlich lösen würden, könnten sie den illegalen Download-Portalen den Boden unter den Füßen wegziehen. Stattdessen animieren sie uns Kreative, öffentlich über unser Schicksal zu jammern. Wir sollten dem widerstehen."

Außerdem: Der Rechtsanwalt und Drehbuchautor Fred Breinersdorfer möchte nicht die User verklagen, sonder die Betreiber von Seiten wie kino.to und vor allem die Firmen, die dort werben: "Ich bin sicher, dass der Spuk mit den illegalen Downloads sehr bald vorbei ist, wenn die Marketingchefs der werbenden Firmen neben ein paar schicken Artdirectoren der Trashagenturen auf der Anklagebank sitzen." Und der Regisseur Andreas Veiel erklärt, wie er sich und seine Arbeit finanziert: "Am kontinuierlichsten verdiene ich mit meinen Theaterstücken Geld, an denen ich die Rechte selber besitze. Anders als beim Film gibt es im Theaterbereich kein komplettes Buy-out, bei dem ich als Autor alle Verwertungsrechte abtreten muss."

TAZ, 11.05.2012

"Kalifornien ist die falsche Richtung" überschreibt Johannes Thumfart seine Überlegungen zu der von dort stammenden Ideologie der Weltverbesserung durch soziale Vernetzung, die heute bestenfalls als "naiv" und "ein genialer Publicity Stunt" gelten könne: "Strukturell gesehen ist Liquid Democracy mit der Frage der sozialen Gerechtigkeit hoffnungslos überfordert. Wenn Politik nicht an unverhandelbaren, historisch gewachsenen Idealen und politischer Professionalität festgemacht ist, kann sie Umverteilungsprozesse zuungunsten der Mehrheit weder legitimieren noch organisieren."

Außerdem: Ingo Arend informiert über David Chipperfields Konzept, mit dem er die diesjährige Architektur-Biennale erschüttern will: statt individueller Einzelpräsentationen sollen die Auserkorenen diesmal in Venedig Gemeinschaftsprojekte entwickeln. Besprochen werden neue CDs von The Burrell Brothers, John Daly und Maya Jane Coles.

Und Tom.

NZZ, 11.05.2012

Joachim Güntner gerät beim Besuch von Herlinde Koelbls Porträt-Ausstellung "Kleider machen Leute" im Dresdner Hygienemuseum ins Nachdenken über Identität und Authentizität: "Zu den Möglichkeiten, sich in der Multioptionsgesellschaft ein Selbst zu wählen, gehört das vermeintlich freie Spiel mit Identitäten doch weniger als die Entscheidung, sich Regeln und Rollen zu unterwerfen. Genauer: Auch das Spiel folgt Regeln."

Weiteres: Daniela Tan referiert die Geschichte des Muttertags in Japan seit dessen Einführung im Jahr 1949 vor dem Hintergrund der kulturellen und gesellschaftlichen Rolle der Mutter. Der Theologe Jan-Heiner Tück setzt sich noch einmal ausführlich mit der päpstlichen Neuinterpretation der eucharistischen Einsetzungsworte auseinander. Martin Lhotzky verfolgt die Entwicklung des Wiener Theaters in der Josefstadt unter Herbert Föttingers Intendanz. Und Ville Rantas Sündenfall-Comic "Paradies" wird besprochen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 11.05.2012

Endlich mal einer, der die Positionen der Piraten zum Urheberrecht kundig analysiert. Ganz einverstanden damit ist Wolfgang Michal auf Carta allerdings nicht: "Dem Urheber, der unter Umständen jahrelang an einem Werk gearbeitet hat, wird so die Möglichkeit genommen, die Verwertung seiner Arbeitsleistung nach eigenem Gutdünken festzulegen. Es geht ihm wie der Milchkuh, die über die Verwertung ihrer Milch nichts mitzureden hat. (Allerdings bekommt sie Kost und Logis gratis - mithin das Äquivalent des bedingungslosen Grundeinkommens)."

Welt, 11.05.2012

Cora Stephan stellt im Essay fest, dass der von den Piraten selbst in den Raum gestellte Vergleich mit der NSDAP gar nicht so unpassend ist: "Nicht alle Deutschen haben Hitlers Partei gewählt und nicht alle, die es taten, seines Programms wegen. Hitlers Strategen wussten schon, warum sie nach der Wahlschlappe 1928 die antisemitische Propaganda merklich dämpften. Vielleicht wollte Martin Delius nur eines sagen: Dass die Piraten ebenso wenig für ihre tiefen Einsichten gewählt werden wie einst die NSDAP."

Im Feuilleton empört sich Matthias Heine über das Urteil Az. 4 A 18/11 des Göttinger Verwaltungsgerichts, das es Ausländern verbietet, deutsche Namen anzunehmen, um Diskriminierung zu entgehen. In der Begründung, dass das deutsche Namensrecht nicht dazu bestimmt sei, gesellschaftlichen Fehlentwicklungen entgegenzuwirken, offenbare sich "eine selbst nach den Maßstäben deutscher Gerichte erstaunliche Realitätsblindheit".

Weiteres: Im Hamburger Literaturhaus diskutieren Liebhaber und Ex-Liebhaber von Roland Barthes über die Liebe. Michael Pilz gefällt das neue Album von den "Musikpiraten" der Toten Hosen. Und Hans-Joachim Müller hat sich mit großem Vergnügen die Ausstellung des Holzkünstlers Georg Herold im Museum Brandhorst in München angesehen.

FAZ, 11.05.2012

Zentralorgan der Piratenpartei? Das war einmal. Gleich in zwei Artikeln legt die heutige FAZ den zuvor umhegten Politneulingen einen ordentlichen Shitstorm hin: Jürgen Kaube stellt sich voll und ganz hinter den gestern in der Zeit veröffentlichten Aufruf der Autoren (die Zahl der Unterzeichner ist inzwischen auf über tausend angewachsen), die sich "gegen den Diebstahl geistigen Eigentums" wehren. Schön, dass in dem Aufruf endlich auch mal die Arbeit der Verwerter gewürdigt wird, findet Kaube: "Wie viel Verwerterarbeit geht nicht in jedes Pop-Video ein, das auf Youtube steht, in jedes Album, das ja nicht einfach dem Genie der Künstler entspringt, in jeden Roman, der aus den Manuskripten der Autoren oft genug aufwendig herausgeschält werden muss. Von Werbung und dergleichen ganz zu schweigen."

Stefan Schulz kritisiert die Diskussionskultur der Piraten auf Twitter: "Die Piraten diskutieren nicht, sie argumentieren nur und bauen sich ihre Strohpuppen selbst."

Ein paar Seiten weiter erinnert Constanze Kurz in ihrer Maschinenraum-Kolumne die Autoren daran, dass die Bedingung für die Durchsetzung eines unveränderten Urheberrechts im Netz ist: Das Two-Strike-Modell, das die Internetprovider in die Rolle von "Hilfssheriffs" dränge, die ihre User flächendeckend überwachen. "Eine Lösung kann nur in einer Kombination aus dem Zurückdrängen der Abmahnbranche, der Stärkung der Rechte und Verhandlungspositionen der Autoren und Künstler gegenüber den Verwertern und dem Aufbau und der Förderung von innovativen Vergütungs- und Bezahlmodellen liegen. Entgegen der unter Künstlern weitverbreiteten Ansicht ist dies sogar in der Piratenpartei geltende Beschlusslage."

Weiteres: Andreas Rossman ist erschrocken darüber, dass man in Duisburg die "Opern-Ehe" mit Düsseldorf auflösen möchte. Jürg Altwegg schaut auf Hollandes kulturpolitische Absichten. Außderm fragt sich Daniel Haas im Medienteil, ob bei RTL2 ein Kulturwechsel stattfindet, weil man dort dieses Wochenende, nach den guten Erfahrungen mit "Game of Thrones" im März, die neue Zombieserie "The Walking Dead" ebenfalls in hoher Sendedichte ausstrahlt.

Besprochen werden eine Ausstellung über die "Künste der Aufklärung" im Kulturforum in Berlin, den "unbedingt sehenswerten" Film "Attenberg", Jan Speckenbachs Film "Die Vermissten", dem Bert Rebhandl einige Qualitäten attestiert und Bücher, darunter Georges Perros' Roman "Luftschnappen war sein Beruf" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 11.05.2012

Laura Weissmüller wird nach dem Vorab-Besuch der eigens für die Fußball-Europameisterschaft in Kiew und Warschau errichteten Stadien, die, wenn die EM erstmal vorbei ist, als "weiße Elefanten" teuer und "unnütz in der Landschaft stehen", recht bitter: "Selbst wenn man den Korruptionsverdacht, der noch über die EM-Vergabe 2012 schwebt, völlig außer Acht lässt: Wieso darf ein so kleiner Kreis von Vorständen, allesamt weder in stadtplanerischer noch finanzpolitischer oder ökologischer Hinsicht bewandert, solche schwerwiegenden stadtpolitischen Entscheidungen treffen? Dass sich die Staaten bewerben, und dabei die Überforderung ihrer Leistungsfähigkeit in Kauf nehmen, ist nicht sonderlich verwunderlich".

Außerdem: Die in Bukarest abgegebene Erklärung von mehr als 40 Bildungsministern zur Bologna-Reform ignoriert nicht nur die herrschende Kritik an dem Projekt, sondern leiste auch der Bürokratisierung des Studiums weiter Vorschub, bemängelt der Soziologe Stefan Kühl. Jan Füchtjohann freut sich nach dem Kinobesuch von "Berlin für Helden" über Regisseur Klaus Lemke, "der zwar in und über Deutschland dreht, aber keine deutschen Filme". Mit Giorgio Battistellis Vervollständigung von Gaetano Donizettis unvollendeter Oper "Duc d'Albe" an der Vlaamse Opera erwacht das Werk "in Gänze zum Leben", freut sich Egbert Tholl. Im knappen Gespräch erklärt Matthias Fontheim, dass er seinen Vertrag als Intendant am Staatstheater Mainz auch wegen politischer Einmischungen und Sparpläne nicht verlängern will. Lothar Müller überlegt sich, welche Zitate sich heute für eine überarbeitete Fassung von Büchmanns "Citatenschatz" anbieten.

Im Medienteil übt der Jurist Stefan Ventroni scharfe Kritik an den Positionen der Piratenpartei zum Thema Filesharing: "Bei aller berechtigten Kritik an der von der Tonträgerindustrie initiierten Abmahnwelle mit ihren zuweilen zu beobachtenden Exzessen: Es ist verhängnisvoll, dass das Urheberrecht von den Piraten und Teilen der Bevölkerung ausschließlich als Gängelung von Verbrauchern durch Medienkonzerne wahrgenommen wird. Diese Verkürzung auf den durch das Filesharing provozierten Konflikt zwischen Individuum und Industrie wird der kulturellen, sozialen und volkswirtschaftlichen Bedeutung des Urheberrechts nicht gerecht."

Besprochen werden das neue Album von Damon Albarn (Hörproben), David Böschs "sehr gut gemachte" Inszenierung von Wolfgang Borcherts "Draußen vor der Tür" am Schauspielhaus Bochum, die von Jean-Philippe Toussaint kuratierte Gastausstellung im Louvre, sowie Peter Vogts philosophische Habilitation "Kontingenz und Notwendigkeit" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).