Heute in den Feuilletons

Alles ist bemerkenswert

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
04.05.2012. In der NZZ spricht Gilles Kepel über die gesellschaftliche Auflösung in den französischen Banlieues. In der FR bemerkt Michel Serres, dass Deutsche und Franzosen sich eigentlich recht ähnlich sind. FR und Tagesspiegel blicken zudem in den strahlenden Schein der Echtheit, den das Berliner Theatertreffen vorausschickt. Die taz lernt in der Pariser Ausstellung "Linvention du sauvage" etwas über die Nähe von Anthropologie und Menagerie. Und die New York Times meldet: Cecil Taylor ist immer noch gut drauf.

NZZ, 04.05.2012

Der Attentäter von Montauban und Toulouse, Mohamed Merah, bediente zwar den Modus Operandi der Dschihadisten, meint Islam-Experte Gilles Kepel in einem sehr intererssanten Interview, war aber auch ein Produkt der gesellschaftlichen Auflösungsprozesse in den Banlieues. Hier habe sich mittlerweile ein heimischer, verkrampfter Islam herausgebildet: "Nötig wäre ein Quantensprung in der Erziehungspolitik. Wer die Schule verlässt, müsste zumindest lesen und schreiben können und die grundlegenden Verhaltensregeln so weit verinnerlicht haben, dass er eine reale Chance hat, Arbeit zu finden. Das ist für viele Banlieue-Bewohner, insbesondere junge Männer, nicht der Fall. Aus Ressentiment verteufeln sie dann mit der 'nutzlosen' Schule auch die durch diese vertretenen republikanischen Werte, namentlich die Laizität. Etliche von ihnen fassen nie wirklich Fuß im Leben. Mohamed Merah war ein absolutes Extrembeispiel hierfür."

Weiteres: Der Historiker Christian Meier erklärt, warum die Demokratie "bei den alten Griechen" noch funktionierte, im heutigen Brüssel aber nicht. Besprochen werden eine Ausstellung zu ukrainischer Architektur im Wiener Ringturm und CD-Editionen zum hundertsten Geburtstag von Günter Wand.

FR/Berliner, 04.05.2012

Zum heutigen Beginn des Berliner Theatertreffens eruiert Dirk Pilz, wie Theater ohne Kanon und Konsens aussieht: "Der neue Trend lautet: Es gibt keinen Trend. Alles ist o.k., alles ist bemerkenswert. Als Kriterium bleibt einzig die Frage, ob ein Abend 'funktioniert', ob die eingesetzten Mittel ihren angestrebten Zweck erfüllen. Die Mittel können vom Chor über das Laienspiel bis zum Virtuosentum (Hüller!) reichen, ihr Zweck ist immer Herstellung von Glaubwürdigkeit, Simulierung von Authentizität. Echt gespielte Gefühle, echt simulierte Wirklichkeit, der Schein einer echten Echtigkeit: Diese Tautologie ist der Theater-Fetisch der Zeit."


Die FR druckt die Rede des französischen Philosophen Michel Serres, der zur Verleihung des Meister-Eckhart-Preises erklärte, das sich Deutsche und Franzosen näher sind, als die Antagonismen von Lebensart und Autoproduktion erahnen lassen: "Wir sind Völker von Denkern, Wissenschaftlern und Ingenieuren, die sich beispielsweise von den Briten, welche viel empirischer und skeptischer sind, deutlich unterscheiden. Das kartesianische Denken französischer Couleur steht dem deutschen Idealismus nahe und unsere Philosophie des Lumières der deutschen Perspektive der Aufklärung. Beides ist Ausdruck eines passionierten Vertrauens in die Vernunft." Letzlich, meint Serres, "sind wir voneinander fasziniert".

Tagesspiegel, 04.05.2012

In den Neunzigerjahren gehörte Sarah Kane zu den meistgespielten Dramatikerinnen, dann verschwanden ihre Stücke von den Bühnen. Zum Auftakt des Berliner Theatertreffens zeigen die Münchner Kammerspiele Johan Simons' Inszenierung ihrer letzten drei Stücke, "Gesäubert", "Gier" und "4:48 Psychose". Patrick Wildermann feiert dieses "Triptychon der Entgrenzung" als "ein Requiem ohne Pathos, ein Passionsspiel ohne Weihrauch. Eine Feier der lichten Sprachgewalt, so musikalisch wie markerschütternd." Die Trilogie ist heute und morgen um 19 Uhr im Haus der Berliner Festspiele zu sehen.

Perlentaucher, 04.05.2012

Ein ganz besonderer Gruß geht heute an Rainald Goetz, bei dem wir uns herzlich für die netten Worte an unsere Adresse bei den gestrigen Mosse Lectures in Berlin bedanken. Und wir wünschen von Herzen, dass nach der heutigen Perlentaucher-Lektüre die Kioske auch am Abend noch Exemplare der für den Erwerb in Frage kommenden "Presseerzeugnisse" vorrätig haben. Allein der Bitte um einen Perlentaucher auch am Sonntag müssen wir unsererseits mit der Bitte um Verständnis begegnen, dass auch Perlentaucher zumindest einmal pro Woche gerne ausschlafen.
Stichwörter: Berlin, Goetz, Rainald

Weitere Medien, 04.05.2012

Der New Yorker zeigt einige cartoonale Variationen auf das teuerste Gemälde des Tages.



Dem großen Cecil Taylor geht's bestens, wenn man Ben Ratliff in der New York Times glaubt: "I recently spoke with the 83-year-old improvising pianist Cecil Taylor for about five hours over two days. One day was at his three-story home in Fort Greene, Brooklyn, where he has lived since 1983. Two female friends worked as his assistants, lighting his cigarettes and bringing him Champagne as he held forth volcanically behind a semicircular desk in his study. The other was at his favorite neighborhood restaurant, where he walked in, looked at the bartender, reacted as if stunned by her beauty for the first time, and kissed her hand. She seemed used to it."

Hier ist er auch gut drauf:



Auf der Liste der schrulligsten Bürgermeister der Welt in der New Republic steht Klaus Wowereit nur an fünfter Stelle! Außerdem schreibt in der TNR Peter Gordon über Steven Nadlers Spinoza-Buch.

TAZ, 04.05.2012

Steffen Siegel führt durch die Ausstellung "L'invention du sauvage" im Pariser Musee du quai Branly, "eine begehbare Studie über die Herausbildung westlicher Klischees gegenüber dem Fremden". "Menagerie und Anthropologie standen sich jedenfalls viel näher, als die um Wissenschaftlichkeit bemühten Völkerkunde um 1900 eingestanden haben würde. Aber vielleicht ist ja gerade dies der eigentliche Sinn jedes Klischees: sich als solches nicht ohne Weiteres zu erkennen zu geben, um hierdurch umso größere Wirkung entfalten zu können."

Weiteres: Katrin Bettina Müller kommentiert den Wahnsinnspreis von 120 Millionen Dollar, den Munchs Gemälde "Der Schrei" bei Sotheby's in New York erzielte: "Die Aufmerksamkeit gilt dem Geld." Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen warnt im Gespräch vor den Gefahren des Internets und meint, wir seien den neuen Möglichkeiten und Kommunikationstechnologien mental nicht gewachsen und "möglichkeitsblind", weil niemand wisse, was aus seinem Twittereintrag oder aus seinem Posting bei Facebook in Zukunft werde. Steffen Grimberg berichtet von den Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag von Axel Springer, bei denen fast alles da waren und Herbert Knaup in einer Nummernrevue den Jubilar gab.

Besprochen werden die Ausstellung "Deutsche Kunst" des Hallenser Künstlers Moritz Götze in der Galerie Rothamel in Frankfurt a. M., der Dokumentarfilm "Raising Resistance" von Bettina Borgfeld und David Bernet über den Kampf der Kleinbauern Paraguays gegen den Soja-Boom und das Album "R. I. P." des Londoner Musikers Actress.

Und Tom.

Welt, 04.05.2012

Der ukrainische Schriftsteller Andrej Kurkow spricht im Interview mit Gerhard Gnauck über Fußball und Julija Timoschenko. Mit ihrer demonstrativ ausgestellten Opferrolle habe die inhaftierte Oppositionspolitikerin an Ansehen verloren, meint Kurkow: "Ich glaube, die Menschen sehen sie nicht mehr als eine Person, die freikommen und wieder zur Führungsfigur werden kann. Indem sie entschieden hat, ihre blauen Flecken zu fotografieren und der Öffentlichkeit zu zeigen, hat sie ihre Chance verspielt, wieder zur Jeanne d'Arc der Ukraine zu werden."

Weiteres: Tim Ackermann staunt über den Rekordpreis für Edvard Munchs "Schrei" und mutmaßt, der Zuschlag sei an die Herrscherfamilie von Katar gegangen. Lukas Langhoff setze die Tradition seiner Familie fort, stellt Matthias Heine in seinem Portrait über den Theaterregisseur fest (über dessen Großvater Wolfgang Langhoff unlängst eine Biographie erschienen ist).

Außerdem hat sich Boris Kálnoky Orhan Pamuks "Museum der Unschuld" in Istanbul angesehen, und Ulrich Weinzierl ist angetan von Stephan Kimmigs "Wastwater" am Wiener Akademietheater.

SZ, 04.05.2012

Reinhard Brembeck feiert den Komponist Tristan Murail: "Das Lichte, die Schwerelosigkeit, das Rätsel, der Farbenreichtum - alles signalisiert in Murails Musik die Anwesenheit von Magie." Einen Monat vor Eröffnung des großen Flughafens Berlin-Brandenburg schlendert Gottfried Knapp anerkennend nickend über das Gelände und kann sich gut vorstellen, dass manche Gäste den Flughafen auch rein der Architektur wegen besuchen kommen könnten. Kito Nedo hat sich dort unterdessen die Kunstwerke angesehen, die den Fluggästen fortan die Zeit zwischen Check-In und Boarding kurzweilig gestalten sollen. Jan Kedves porträtiert die gefragte Pop-Komponistin und Sängerin Santigold, der derzeit "beim Finden der avanciertesten Beats" so schnell keiner etwas vormacht. Kai Strittmaier unterhält sich mit dem griechischen Theaterintendant Sotiris Hatzakis, der als Reaktion auf die Krise im Land an seinem Haus die Tauschwirtschaft eingeführt hat. Im Medienteil nimmt Martin Walser sehr persönlich Abschied vom Fernsehproduzent Helmut Jedele.

Besprochen werden die Trisha-Baga-Ausstellung im Kunstverein München, zwei Aufführungen von Simon Stephens Stück "Wastwater" am Schauspiel Köln und am Akademietheater in Wien, die sich Vasco Boenisch zufolge einen Wettbewerb "um die werktreuste Aufführung" bieten, die neue "Bel Ami"-Verfilmung, eine Ausstellung mit Malereien von Hermann Hesse im Kunstmuseum Bern und Miguel Abensours anarcho-philosophische Schrift "Demokratie gegen den Staat" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 04.05.2012

Mark Siemons porträtiert den aus China geflohenen Bürgerrechtler Chen Guangcheng, der "den universalistischen, den kultur- und systemüberschreitenden Kern des Menschenrechtsgedankens" gerade deshalb gut verkörpere, da er "kein Akteur in einem Systemstreit, kein Propagandist" sei. Christian Geyer würdigt den französischen Philosophen Michel Serres, der vor kurzem an der Kölner Universität mit dem Meister-Eckhart-Preis geehrt wurde. Fridtjof Küchemann referiert einige Vorträge, die er auf der Re:Publica in Berlin gehört hat. Bei der Architekturbiennale in Rotterdam lässt sich Klaus Englert in zahlreichen, wenngleich unübersichtlich zusammengestellten Beiträgen von den "Möglichkeiten einer 'smart urbanization'" überzeugen. Wie ein Schneekönig freut sich Jan Brachmann darüber, dass "die unvergleichliche Françoise Cactus" die Biennale Alte Musik in Berlin nach einem bis dahin kaum amüsementtauglichen Programm zum Ende hin ordentlich aufgefrischt hat. Jordan Mejias bemerkt in neuen und neu entdeckten Stücken, die gerade auf dem Broadway in New York gegeben werden, einen Hang zur Politisierung. Bei der "Revue der fürsorglichen Belustigungen" zum Springer-Jubiläum bemerkt Andreas Kilb, wie lange die um Axel Springer gerankten Legenden eigentlich schon her sind.

Besprochen werden Christophe Honorés Film "Die Liebenden" und Bücher, darunter Katrin Seddigs "Eheroman" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).