Heute in den Feuilletons

Die Karotte vor der Nase

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.04.2012. Ai Weiwei wird gegen die chinesischen Steuerbehörden Klage erheben, berichtet die Welt. Nicolas Sarkozys Niederlage ist auch eine moralische, meint Michel Wieviorka in rue89. In der taz geißelt der Wirtschaftstheoretiker Yanis Varoufakis die europäische Griechenland-Politik. In der FAZ konstatiert Olaf Kühl, dass man in Russland durchaus über Michail Chodorkowski sprechen kann - und dass nicht wenige mit ihm sympathisieren.In Spiegel Online fordert der Blogger Michael Seemann glatt eine Abschaffung des Urheberrechts.

NZZ, 23.04.2012

Der kolumbianische Schriftsteller Héctor Abad mokiert sich über die antiimperialistische Rhetorik auf dem Amerika-Gipfel der lateinamerikanischen Länder in Cartagena. Ihre Unabhängigkeit habe sie zwar davor bewahrt, in die Weltkriege hineingezogen zu werden, doch insgesamt frage er sich, "ob es, zumindest für einige von ihnen, nicht besser gewesen wäre, sie wären europäische Kolonien geblieben." Auf den spanischen Originaltext haben wir in unserer Magazinrundschau verwiesen.

Marc Zitzmann schlendert durch Bordeaux und schwärmt von der gelungenen Neugestaltung der Quais an der Garonne. Bei anderen und noch anstehenden Maßnahmen mangelt es ihm hingegen an "Wagemut und Qualitätsgefühl".

Außerdem gibt es Besprechungen der Inszenierungen von Angelin Preljocajs Ballett "Roméo et Juliette" in Basel, von Albert Lortzings "Zar und Zimmermann" in Biel sowie von Werner Schwabs "Präsidentinnen" und Arne Lygres "Tage unter" in Bern.

Aus den Blogs, 23.04.2012

Unter den zahllosen Kommentaren zu den Wahlen im französischen Netz zitieren wir den des Soziologen Michel Wieviorka in rue89: "Die Niederlage Nicolas Sarkozys, der in den letzten Tagen des Wahlkampfs anfing, die Regeln zu übertreten, ist sowohl politisch als auch persönlich. Und sie ist auch moralisch. Die Wähler haben weder seinen rechtspopulistischen Impulsen nachgegeben, noch haben sie seine lange Zeit unanständiges Verhältnis zu Geld, Image und Macht vergessen."

(via BoingBoing) Erinnert sich noch jemand an die spektakuläre Verhaftung von Megaupload-Gründer Kim Dotcom in Neuseeland? Wie es aussieht, kann er in den USA gar nicht vor Gericht gestellt werden, weil nie eine Strafanzeige gegen das Unternehmen gestellt wurde, erklärte der zuständige amerikanische Richter Liam O'Grady dem NZ Herald. Das liegt wiederum daran, dass Unternehmen, anders als Personen, außerhalb der USA nicht angezeigt werden können. Dotcom äußert sich dazu im Interview mit Torrentfreak: "'We have already been served a death sentence without trial and even if we are found 'not guilty' which we will, the damage can never be repaired,' Dotcom says. And why? According to Megaupload's founder it is quite clear that the Mega investigation was a 'gift' to Hollywood, facilitated by corrupt forces."

Spiegel Online, 23.04.2012

Es ist nicht möglich, das Urheberrecht im Internet ohne überwachungsstaatliche Methoden durchzusetzen, meint der Blogger Michael Seemann in Spiegel Online und plädiert glatt für eine ersatzlose Abschaffung: "Filesharing ist in Wirklichkeit keine spezielle Anwendung im Internet, das Internet ist Filesharing. Eine Unterscheidung zwischen der 'Abschaffung des Urheberrechts' und der Forderung nach 'legalem Filesharing', kommt sogar der Wortklauberei schon recht nahe. Der Versuch, das Internet mit dem Urheberrecht zu versöhnen ist wie Segelfliegen im Vakuum: unmöglich."

TAZ, 23.04.2012

Der Wirtschaftstheoretiker Yanis Varoufakis gibt im Gespräch mit Charalambos Ganotis und Christiane Müller-Lobeck Auskunft über die Griechenland-Politik der EU: "In der Troika gibt es zwei Fraktionen. Die eine besteht aus Zynikern, die zweite aus Dummköpfen. Die Dummköpfe denken, sie hätten das Problem tatsächlich gelöst. Die Zyniker wissen, dass die ganzen Rettungspakete und Sparprogramme keine Lösung bringen, ihnen aber gebracht haben, was sie wollten, nämlich Zeit zu gewinnen." Varoufakis' Lösung wären Eurobonds.

Außerdem verfolgte Klaus Irler eine Hamburger Konferenz zur Frage, wie man als junger Musiker noch Geld verdienen soll. Auf der Medienseite schreibt David Denk über ein heroisches Projekt des ZDF-Intendanten Thomas Bellut: Er will das Durchschnittsalter der Zuschauer von 61 auf 60 Jahre senken (ob das überhaupt ohne eine Gebührenerhöhung geht?) Besprochen wird David Chotjewitz' Spektakel "Narziss und die Revolution" in der Hamburger Hafencity

Und Tom.

Welt, 23.04.2012

Ai Weiwei hat gegen das chinesische Steueramt, das ihm und seiner Firma Fake Steuerhinterziehung vorwirft, seinerseits Klage erhoben, berichtet Johnny Erling. Offenbar kann er ihm Praktiken nachweisen, die selbst in Peking zweifelhaft sind: "Es umging die öffentliche Anhörung, sei regelwidrig mit Beweismaterial, Bankunterlagen umgegangen und habe Zeugen unter Druck gesetzt. Ai kann zudem den Vorwurf belegen, dass das Steuerverfahren gegen ihn politisch missbraucht wurde. Als die Fake-Mitarbeiter nach einer Garantiezahlung von 8,4 Mio. Yuan (zwei Drittel der Strafe) das Recht erhielten, den Steuerbescheid anzufechten, durften sie erstmals auch die Unterlagen einsehen und kopieren, die das Steueramt gegen sie benutzte. Darunter waren offenbar aus Versehen hineingeratene Anweisungen der Polizei an das Amt, gegen Fake zu ermitteln."

Besprochen werden Jack Whites Soloalbum "Blunderbuss", eine Ausstellung des Minimalisten John Pawson im Architekturmuseum der TU München ("Nur in der Leere offenbart sich die Schönheit"), Jette Streckels Inszenierung von Büchners "Dantons Tod" im Hamburger Thalia Theater, eine etwas skandalsüchtige Biografie der Queen Mum (die nachweisen will, dass diese die Tochter einer Köchin war!) und Adam Zamoyskis Geschichte von Napoleons Russland-Feldzug "1812".

Aus den Blogs, 23.04.2012

Gestern feierte Jack Nicholson seinen 75. Geburtstag. Im Blog der Online-Cinemathek mubi haben wir neben Hinweisen zu vielen Geburtstagsglückwünschen eine ganz bezaubernde Video-Compilation gefunden, die Nicholson bei dem zeigt, was er am besten kann: Ausrasten.

Stichwörter: Nicholson, Jack

FR/Berliner, 23.04.2012

Dirk Pilz hat mit Begeisterung erlebt, wie Joachim Meyerhoff unter der Regie von Jon Bosse am Wochenende in Wien das Burgtheater zerlegte und dabei rief: "Das wichtigste Gebot ist Denkmalschutz!" Irritiert hat Pilz allerdings, dass auch das Wiener Premierenpublikum "all dies mit lauten Lachern und lustigem Beifallklatschen begleitete".

Weiteres: Natalie Soondrum berichtet vom Wiesbadener Filmfestival Go East. Besprochen werden eine Ausstellung zum Leben osteuropäischer Einwanderer in den 20er Jahren im Jüdischen Museum in Berlin und Samar Yazbeks Syrien-Bericht "Schrei nach Freiheit" (siehe auch unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

FAZ, 23.04.2012

Olaf Kühl hat mit "Tote Tiere" einen Roman über den Fall Michail Chodorkowski geschrieben, und war nun mit dem Roman auf Lesereise in Russland, wo er feststellte, dass man in Russland durchaus über Chodorkowski sprechen kann und mit dem Thema zuweilen sogar auf Sympathien stößt: "Angst zeigen diejenigen, die in ihrer Position etwas zu verlieren haben. Die jungen Menschen dagegen sind ohne Scheuklappen. Sie teilen nicht immer die Meinung des Autors, aber sie hören zu und diskutieren."

Langsam wird es den Konkurrenten unbehaglich mit den Piraten. Auf Seite 1 des Feuilletons schreibt der netzpolitische Sprecher der SPD, Björn Böhning: "Die Piraten machen nun alles besser? Im Gegenteil. Ihre polemische, anti-staatliche Grundhaltung und das fadenscheinige Infragestellen von Prozessen sind reiner Selbstzweck und könnten am Ende unserer Demokratie eher schaden als nützen."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko bedauert das Ende des Frankfurter Volkstheaters. Der Autor und Filmemacher Roman Grafe kritisiert die in Europa nach wie vor zu laschen Waffengesetze. Matthias Grünzig besucht das neue Wohnquartier Waldgarten (mehr hier) in Potsdam.

Besprochen werden Jette Steckels Inszenierung von Büchners "Danton" im Hamburger Thalia Theater, das von mehreren Frankfurter Institutionen getragene Ausstellungsprojekt "Making History", das "herausragende Positionen zeitgenössischer Fotografie und Videokunst" präsentieren will (mehr hier), Tim Plegges Ballett "Momo" in Karlshruhe und Bücher, darunter Bruno Schulz' "Das Sanatorium zur Sanduhr" (mehr hier und in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der FAZ am Sonntag feiert Eleonore Büning den jungen Pianisten Igor Levit, der es tatsächlich wagte, das Klavierstück "The People United Will Never be Defeated" des amerikanischen Komponisten Frederic Rzewski aufzuführen - das eigentlich als unspielbar gilt.

Hier spielt der Komponist selbst:


SZ, 23.04.2012

Insbesondere nach dem Vortrag von Sabine Leutheusser-Schnarrenberger zum Thema "Anonymität im Netz" ist für Johan Schloeman die größte Leistung der Passauer Konferenz "Anonymität. Recht - Technik - Menschenbild" die Erkenntnis, "dass die plumpe Opposition 'anonyme Anarchie versus Überwachungsstaat' nicht viel bringt, schon gar nicht dann, wenn virtuelles und 'echtes' Leben immer weiter zusammenwachsen."

Außerdem: Jan Füchtjohann hat beim Lesen neuer Humortheorien des Philosophen Daniel C. Dennett erfahren, dass das Lachen "die Karotte vor der Nase der permanent fehlersuchenden Vernunft" ist. Laura Weißmüller stieß bei der 5. Architekturbiennale in Rotterdam, die sich mit der Zukunftsfähigkeit heute entstehender Städte befasst, auf viel Optimismus. Helmut Mauró beobachtete beim Klavierkonzert von David Fray "recht frei motivierte Manierismen" im Spiel des Pianisten. Harald Eggebrecht unterhält sich mit der Geigerin Hilary Hahn.

Besprochen werden neue DVDs, eine Ausstellung über Verbindungen zwischen John Cage und der Musik in der Akademie der Künste in Berlin, eine Ausstellung über britisches Design im Victoria & Albert Museum in London und Bücher, darunter ein "Adorno-Handbuch" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).