Heute in den Feuilletons

Dieser Aaskäfer des französischen Leids

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
19.04.2012. In der Welt spricht BHL deutlich aus, wie er über Marine Le Pen denkt. Außerdem fürchtet der Philosoph Pierre Zaoui einen Erfolg des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon bei den Wahlen am Sonntag. Als perfide Propaganda sieht die Jüdische Allgemeine  die Arte-Miniserie "Gelobtes Land". Die Columbia Journalism Review untersucht den sagenhaften Erfolg der Huffington Post: Networking ist das Geheimnis. Und Charles Simic gibt es im Blog der NYRB zu: Er liest gern auf dem Klo.

Welt, 19.04.2012

Die Präsidentschaftskandidatin des Front-National, Marine Le Pen, scheint in ihrem Wahlkampf gegen Bernard-Henri Lévy und den von Sarkozy betriebenen Libyen-Einsatz zu giften, den BHL heute nochmals verteidigt - nicht ohne der Dame mitzuteilen, was er über sie denkt: "Dieser Aaskäfer des französischen Leids, diese Frau, die nur von Frankreich spricht, um es als erniedrigt, beleidigt und beschmutzt von imaginärem Geschmeiß zu beschreiben, diese Freundin von arabischen Diktatoren, von österreichischen Nazi-Nostalgikern, von Aufrührern aller Länder, kurz: der Feinde ihres Landes, hat die Frechheit, mich als Repräsentanten des Antifranzösischen darzustellen."

Auch im Feuilleton geht's um Frankreich. Der Philosoph Pierre Zaoui fürchtet im Gespräch mit Peter Stephan Jungk, dass der Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon bei den Wahlen am Sonntag einen starken dritten Platz belegt: "Kann sein, dass der Sozialist Hollande ihm zwischen den zwei Wahlgängen Versprechungen machen, ihm sogar einen Ministerposten in Aussicht stellen wird. Ich könnte nie Mélenchon wählen, denn er ist ein ausgemachter Nationalist: Frankreich über alles in der Welt. Er hat sich vor einigen Jahren sogar dafür stark gemacht, der französischsprachige Teil Belgiens sollte der Grande Nation einverleibt werden. Ein wahrer Bonapartist!"

Außerdem: Ekkehard Kern kommentiert das Ende der Vorabendshow von Thomas Gottschalk. Besprochen werden Filme und die Ausstellung "Byzanz und Islam" im New Yorker Metropolitan Museum.

Weitere Medien, 19.04.2012

Für perfide Propaganda hält in der Jüdischen Allgemeinen Michael Wuliger die Miniserie über die Gründung Israels "Gelobtes Land", die arte ab Freitag zeigt. Die Israelis, die hier durchgehend nur als Juden bezeichnet würden, werden fast durchweg als militant und unmenschlich dargestellt, bemerkt Wuliger entsetzt: "In seinem Tagebuch formuliert der Fallschirmjäger als Fazit: 'Vor drei Jahren hätte ich noch gesagt: Gebt den Juden, was sie wollen, nach allem, was sie durchgemacht haben. Doch heute denke ich: Ihr Staat ist auf Gewalt und Grausamkeit gegen ihre Nachbarn aufgebaut. Ich wüsste nicht, wie er so gedeihen soll.' Das ist die Botschaft der TV-Serie: Israel hat moralisch keine Existenzberechtigung."

Micha Brumlik überlegt ebenfalls in der JA, in welchem Zusammenhang antisemitische Stimmungen und steigende Ölpreise stehen.

Schick und interessant sieht die Los Angeles Review of Books nach ihrem Relaunch aus.

NZZ, 19.04.2012

Hans-Christoph Zimmermann untersucht, wie der "Krisenintendant" Anselm Weber im renommierten Bochumer Schauspielhaus mit einer internationalen Regie-Riege die multikulturelle Wirklichkeit des Ruhrgebiets abbildet. Besprochen werden Urs Fischers Ausstellung "Madame Fisscher" im Palazzo Grassi in Venedig, Joachim Triers Film "Oslo, 31. August" und Zeruya Shalevs neuer Roman "Für den Rest des Lebens" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

TAZ, 19.04.2012

Cristina Nord berichtet über das YouTube-Video einer Stockholmer Performance des Künstlers Makode Aj Linde, die zu Rücktrittsforderungen gegenüber der schwedischen Kulturministerin geführt hat: Sie schnitt dabei in einen schokoglasierten Frauenkörperkuchen, an dessen oberem Ende der Kopf des Künstlers "auf groteske Weise geblackfaced vor Schmerzen stöhnt".

Weiteres: Lavinia Meier-Ewert berichtet über einen heftigen Streit, der über die Kleist-Ausgaben des Stroemfeld- und des Reclam-Verlags entbrannt ist: bei der äußerst "komplizierten Sachlage" geht es um Plagiatsvorwürfe bei der Reclam-Edition des Lustspiels "Der zerbrochne Krug". Cristina Nord unterhält sich mit dem französischen Regisseur Bertrand Bonello über dessen Film "Haus der Sünde", der "einfühlsam" von einem Pariser Bordell an der Schwelle zum 20. Jahrhundert erzählt. Hier ihre Besprechung. Jan Scheper porträtiert den Singer-Songwriter und Entertainer Olli Schulz als einen "Alltagspoeten, der vieles nicht zu ernst nimmt". Und Jenny Zylka unternimmt aus gegebenem Anlass einen kleinen Streifzug durch die Kulturhistorie der gereckten Kampfhand.

Besprochen wird die DVD "Das 10. Opfer", ein Film von Elio Petri mit Ursula Andress und Marcello Mastroianni aus dem Jahr 1965.

Und Tom.

Aus den Blogs, 19.04.2012

Charles Simic gesteht im Blog der New York Review of Books: Er liest gern auf dem Klo. Und stellt daran anknüpfend einige tief bedeutende Fragen: "Has there ever been any survey conducted among those who lock themselves in the bathroom inquiring how they spend their time? Do they read, smoke, talk to themselves, think things over, say their prayers, or just stare into space? If not, how come? All those lights burning in bathrooms late at night in large and small cities must indicate someone is doing much more in them than just answering the call of nature."

Im selben Blog schreibt Jonathan Mirsky über die Londoner Buchmesse und konstatiert trocken: "The special guest of this year's fair was the Chinese Communist Party's censorship bureau. Assisted by the government-funded, but independent, British Council, the fair's organizers invited the General Administration of Press and Publication (GAPP)-the Communist Party's designated body for ensuring that all publications, from poems to textbooks, are certified fit for the public at home and abroad to read."

Die Leute wollen im Netz alles umsonst, schimpfte kürzlich Sven Regener. Tim Renner hält das auf Carta für ein Missverständnis: "Diejenigen, die sich gegen die von ihnen festgestellte 'Kostenlos-Kultur' wehren, frönen ihr in der Regel selbst nicht. Darin liegt das zentrale Missverständnis begründet. Täten sie es, wüssten sie, dass im Netz 'Umsonst' eine Schimäre ist. Die Villa, die Autos, die Hausmädchen von Megauploads Kim Schmitz kommen nicht von ungefähr, sondern sind Ergebnis der Gebühren des Dienstes, den man bei intensiver Nutzung zu zahlen hatte." Die Nutzer zahlen - wenn man ihnen ein Angebot macht.

(via Open Culture) Nur Franzosen können eine Weinflasche mit einem Schuh öffnen:


Weitere Medien, 19.04.2012

Michael Kleeberg antwortet in einem längeren Spiegel-Essay, den er jetzt auf der eigenen Website als pdf-Dokument online stellt, auf Grass' Gedicht. Darin die Beobachtung: "Es ist nämlich weniger die arabische Welt an sich, die Israels Existenz heute in Frage stellt als der politische Islam. Sowohl der säkulare Arm der PLO unter Arafat als auch Ägypten und Jordanien haben den Staat Israel schließlich anerkannt. Das Hauptgewicht antiisraelischen Hasses ist von den panarabischen Trägern auf die islamistischen übergegangen."

(via bookslut) In der Columbia Journalism Review untersucht Michael Shapiro in einem riesigen Artikel den Erfolg der Huffington Post, die in diesem Jahr einen Pulitzerpreis gewonnen hat. Der Aufbau eines Netzwerks war das wichtigste, meint Shapiro. Zu diesem Netzwerk gehören nicht nur Blogger und Journalisten, sondern auch die Leser, die Kommentare schreiben, oft im fünfstelligen Bereich! "In 2010, HuffPost decided to reward its most engaged readers with three 'badges' that signify the extent of that engagement: 'networkers,' who draw fans and followers; 'superusers,' who share often on Facebook and Twitter and who also comment frequently; and 'moderators' who, in recognition of their keen eye and absorption of the site's ethos, are trusted with deleting comments they judge inappropriate. Taken together, the badgeholders serve as voluntary traffic wardens for what truly makes Huffington Post so valuable to a company like AOL: Not brand. Not content. But access to the HuffPost network. It is not just the visit and page-view numbers, because those metrics, envied as they are, inevitably include a vast number of fly-bys, one-time visitors, the long tail of the Bored At Work network. But comments suggest loyalty, and loyalty - or engagement, to use the buzzy ad-world term - means an audience that advertisers can, in the ephemeral world of the Web, come close to counting on."

Spiegel Online, 19.04.2012

Das Internet, ein rechtsfreier Raum? Mitnichten, erklärt Christian Stöcker. In der realen Welt können Gesetze unbemerkt gedehnt und gebrochen werden. Im Internet hingegen könnte automatisierte Vollüberwachung jeden Verstoß aufdecken. Und weil "Softwarecode Gesetz ist", ließe es sich sogar verhindern, dass es überhaupt zu Verstößen kommt: "Im Netz ist absolute Rechtsdurchsetzung möglich", folgert Stöcker. "Aber ist sie wünschenswert?"
Stichwörter: Internet

Freitag, 19.04.2012

Als das schwarze Loch der Globalisierung bezeichnet Robert Stockhammer den Kongo nach Lektüre von David van Reybroucks Geschichte des Landes (Hier unser Vorgeblättert): "Aus der Sicht der Weltwirtschaft ist der Kongo ein Paradies, das stets über genau dasjenige verfügte, was gebraucht wurde. Dies begann im 16. Jahrhundert mit den Sklaven, welche zunächst vor allem die Portugiesen, später auch Briten, Franzosen und Niederländer nach Amerika exportierten. Schätzungsweise vier Millionen Menschen, ein Drittel des Gesamtaufkommens im transatlantischen Handel, wurden im Gebiet um die Mündung des Kongo aufgekauft."

FAZ, 19.04.2012

Bei der Buchmesse in London beobachtet Hannes Hintermeier einen angesichts bröckelnder Geschäftsmodelle und Amazons Übermacht immensen "Selbstvertrauensverlust" in der Verlagsbranche . Auch von den finanziellen Anreizen, die jüngsten Urheberrechtsdiskussionen in Deutschland zufolge Kreativität erst ermöglichen, keine Spur: "Leben kann davon ohnehin niemand; der amerikanische Durchschnittsautor erzielt im Jahr derzeit sechstausend Dollar, in England sieht es genau so mau aus."

Weitere Artikel: Paul Ingendaay sammelt triste Eindrücke aus der verelendenden Mittel- und Unterschicht in Spanien, wo man einander im Onlineportal Acabaconlacrisis.es aufmuntert. Rafael Rennicke bündelt die Positionen in den laufenden Protesten von Musikveranstaltern, die wegen einer für 2013 geplanten Tarifreform der Gema drastische Abgabenerhöhungen fürchten. Rüdiger Suchsland hat auf dem Filmfestival in Istanbul politische Filme aus aller Welt gesehen. Deutschland spielt im französischen Wahlkampf eine so große Rolle wie nie zuvor, beobachtet Jürg Altwegg. Der Schriftsteller Martin Mosebach isst mit Philippe Pozzo di Borgo, dessen Autobiografie die Vorlage für den Kinokassen-Hit "Ziemlich beste Freunde" stellte, zu Mittag. Rainer Meyer (alias Don Alphonso) übermittelt den dritten Schwung Notizen von seiner Italienreise.

Besprochen werden eine neue Debussy-Aufnahme des Pianisten Rafal Blechacz, Bertrand Bonellos Film "Haus der Sünde", eine Ausstellung über John Pawson im Architekturmuseum der TU München und Bücher, darunter Tom Hodgkinsons "Schöne, alte Welt", ein Plädoyer für das Leben auf dem Land (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

SZ, 19.04.2012

Nach anfänglichem Zögern berichten die norwegischen Medien jetzt ausführlich über den Prozess gegen Anders Breivig, erzählt Gunnar Herrmann auf der Medienseite: Selbst eine Übertragung im Fernsehen hätten jetzt viele befürwortet, so auch Harald Stanghelle, der Vertrauensmann der für die im Prozess akkreditierten Journalisten. "Dass die Aussagen des rechtsextremen Attentäters andere zum Terror anstiften könnten, fürchtet er dagegen nicht. Vielmehr werde der Straftäter seiner Aura beraubt, wenn man sehe, wie er im Zeugenstand den Staatsanwälten Rede und Antwort stehen muss. 'Ich finde', sagt Stanghelle, der das Geschehen jeden Tag im Gerichtssaal mitverfolgt, 'die dämonische Maske zerfällt langsam.'"

Im Feuilleton überlegt Andreas Zielcke, ob ein Präventivschlag Israels gegen den Iran nach derzeitigem Kenntnisstand völkerrechtswidrig wäre (vermutlich ja). Till Briegleb schaut sich bei einigen deutschen Theatern um, wie diese sich gegen die bevorstehende Erhöhung der Gehälter im öffentlichen Dienst um 6,3 Prozent wappnen. Björn Hayer unterhält sich mit Christopher Paolini, dem Autor der erfolgreichen Fantasy-Saga "Eragon", und Andreas Fröhlich, der die Bücher für den deutschen Hörbuchmarkt einspricht. Helmut Mauró berichtet vom Konzertabend mit dem Tenor Daniel Behle. Georg Imdahl gratuliert dem Maler Fernando Botero zum achtzigsten Geburtstag.

Besprochen werden Falk Richters und Anouk van Dijks Facebook-Theaterstück "Rausch" am Düsseldorfer Schauspielhaus, dessen "tanz-theatralen Assoziationsthread" Vasco Boenisch sein "Like" verwehrt, der Dokumentarfilm "Anton Corbijn - Inside Out", der Bordellfilm "Haus der Sünde" von Bertrand Bonello, der Digitalkamerafilm "Chronicle", der Historienfilm "Die Königin und der Leibarzt" und Stefan Merrill Blocks Roman "Aufziehendes Gewitter" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 19.04.2012

Elisabeth von Thadden kann sich den irrwitzigen Erfolg der "Ziemlich besten Freunde", die nach den Kinocharts jetzt auch die Bestsellerlisten stürmen, sehr gut erklären: Hieraus spreche Europas bedürfnis, statt auf die Finanzen wieder aufs Humankapital zu setzen. Andrea Hünniger versucht bei einem Treffen das Phänomen Sascha Lobo zu ergründen, dessen druckreife, zweifelsfreie Sätze ihr zeigen: Der Mann lebt das Interview als Dauerzustand. Hanno Rauterberg stellt eine neue Studie vor, die besagt, dass der durchschnittliche Museumsbesucher elf Sekunden vor einem Kunstwerk verbringt. Italiens Kulturminister Lorenzo Ornaghi hechelt im Interview mit Birgit Schönau die Probleme seines Ressorts durch: Pompeji, Kolosseum, Scala.

Besprochen werden Bertrand Bonellos Belle-Epoque-Film "Haus der Sünde", Norah Jones' neues Album "Little Broken Hearts", eine Marilyn-Monroe-Kollektion auf DVD und Bücher, darunter Kristina Schröders antifeministische Kampfschrift "Danke, emanzipiert sind wir selber!" (der Susanne Mayer entnimmt, dass Schröder mit dem Status quo eigentlich ganz zufrieden ist) und Giorgio Agambens "Höchste Armut" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Dossier denkt ein ungenannter Autor darüber nach, was es bedeutet, dass in der Oper von Damaskus ausgerechnet das blutige Tyrannendrama "Macbeth" gegeben wird. Online gibt Kai Biermann einen sehr nützlichen Überblick über die wichtigen Texte in der Debatte ums Urheberrecht.