Heute in den Feuilletons

Prinzipielle Aufteilbarkeit aller Biomasse

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.03.2012. Die Welt porträtiert den Fotografen Michael Schmidt, der die Nahrungsindustrie kritisch bebildert. Die taz besucht die Schriftstellerin Christina Viragh in Rom, die vier Jahre lang Peter Nadas übersetzte. Die NZZ wendet sich gegen die Diskriminierung der Palestinos auf Kuba. In der FAZ plädiert David Grossman gegen einen israelischen Angriff auf den Iran

Welt, 13.03.2012

Kolja Reichert porträtiert den Fotografen Michael Schmidt, der in seinen neuesten Werken die Nahrungsindustrie kritisiert: "Eine Kuh-mit-Kalb-Szene hat Schmidt zum Diptychon zerschnitten und gespiegelt: Rechts ragt der Rumpf hinaus, links der Kopf hinein. Mit solchen Brüchen eignet sich Schmidt lakonisch-komisch die prinzipielle Aufteilbarkeit aller Biomasse an. Sein herber Humor steht in der Tradition des Satirikers Jonathan Swift, er verfremdet nicht, überhöht nicht. Er überträgt schlicht die Entfremdungen, die er vorfindet und treibt dem Betrachter den Eskapismus der Warenwelt aus." Zu sehen ist die Serie im Leverkusener Museum Morsbroich.

Weitere Artikel: Wieland Freund kommentiert das basisdemokratische Schweizer Nein zur Buchpreisbindung, das sich unter anderem der Preisgestaltung deutscher Verlage verdankt, die von den Schweizern immer ein bisschen mehr haben wollten. Hanns-Georg Rodek unterhält sich mit dem spät berühmt gewordenen britischen Schauspieler Bill Nighy über seine Rolle in "Best Exotic Marygold Hotel". Christina Rietz resümiert das Kölner Festival "Großes Fernsehen".

Besprochen wird die "Walküre" unter Andreas Kriegenburg und Kent Nagano in München (die Lucas Wiegelmann enttäuschte).

TAZ, 13.03.2012

Daniela Zinser besucht die Schriftstellerin Christina Viragh in Rom, die vier Jahre lang an der Übersetzung von Peter Nádas' "Parallelgeschichten" gearbeitet hat: "Budapest, Luzern, Rom, sie fühlt sich dort überall zu Hause, sagt Christina Viragh, 'in verschiedenen Schattierungen'. In Schwyzerdütsch denkt sie, Ungarisch ist ihre Muttersprache, Italienisch ihre Alltagssprache, ihr Partner ist Italiener. Wenn sie mit ihm oder mit dem römischen Fotografen spricht, ist sie sprudelnder, offener als im Interview auf Deutsch, wo sie in längeren Pausen ihre Antworten bedenkt."

Weiteres: Jürgen Gottschlich erzählt von dem Projekt der Hrant-Dink-Stiftung, das die Suche nach "Gerechten" aus der Zeit des Völkermords an den Armeniern unterstützt. Sonja Vogel freut sich über den Kurt-Wolff-Preis für die Literaturzeitschrift Bella Triste. Aram Lintzel erkennt das neue Retrobedürfnis auch im wiederaufgeflammten "Historikerstreit ohne Historiker" und in Byung-Chul Hans derzeit sehr gehypetem Essay "Transparenzgesellschaft". Karl Bruckmaier gratuliert Ry Cooder zum 65. Geburtstag. Tim Caspar Boehme bespricht das Album "Douze Pouze" der Düsseldorfer Band Stabil Elite.

Und Tom.

Aus den Blogs, 13.03.2012

Eine Gruppe linker Pastoren, die Gauck nicht leiden können, hat in einem Manifest eine alternative - kollektive - Freiheitsidee verfochten, die Alan Posener im Blog starke-meinungen.de kritisiert: "Zunächst ist sie direkt der Rechtfertigung aller sozialistischen Diktaturen entnommen, die angeblich für 'mehr' als die persönliche Freiheit kämpften und dafür, leider, leider, die persönliche Freiheit abschaffen mussten. Diese verlogene Position wird aber mit einer 'grundsätzlichen Kritik an der modernen Industriegesellschaft' verbunden. Kapitalismuskritik, die - anders als bei Karl Marx etwa - nicht die Errungenschaften der Industrie, des Kapitalismus und der Moderne anerkennt, sondern sich nach einem vorindustriellen, vormodernen Zustand sehnt, ist - wie Teile der Umweltbewegung und der 'antiimperialistischen' - in Wirklichkeit antimodernen - Blut-und-Boden-Linken - schlicht und einfach reaktionär."

NZZ, 13.03.2012

Heiko Hantscher berichtet über die wachsende Diskriminierung der Schwarzen auf Kuba. "Palestinos" werden die Afrokubaner genannt, die aus dem Osten der Insel nach Havanna kommen, um Arbeit zu finden, erklärt er, doch dort sind sie offiziell unerwünscht: "Das Gesetz 217 verbietet den Zuzug von nicht in Havanna geborenen Personen in die kubanische Hauptstadt, wenn sie nicht eine Erlaubnis haben. Eine ganze Armee von Polizisten, Inspektoren und Nachbarschaftsvertretern achtet auf die Einhaltung dieser Regelung."

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel macht sich Gedanken über Burnouts. Andrea Köhler berichtet über das Festival of Global Ideas Born in Geneva in New York.

Besprochen werden die "Walküre" an der Bayerischen Staatsoper München und Bücher, nämlich Roger Francillons (französisches) Buch über frankophone Autoren aus der Schweiz, Thomas von Steinaeckers neuer Roman "Das Jahr, in dem ich aufhörte, mir Sorgen zu machen, und anfing zu träumen" und Olga Grjasnowas Romandebüt "Der Russe ist einer, der Birken liebt" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Tagesspiegel, 13.03.2012

Christine Lemke-Matwey versucht, mit dem Komponisten Wolfgang Rihm in so etwas wie ein Gespräch per Fax über seinen sechzigsten Geburtstag zu kommen. Ihm und John Cage widmet sich in diesem Jahr die Berliner Märzmusik.

"Der Zufall mit Cage ist doch ganz in seinem Sinn. Also auch in meinem. - Cage gilt als der große Experimentator und Innovator der musikalischen Avantgarde. Welches Etikett trügen Sie gerne?- Château Haut Brion 1961. - Was ist das mutigste musikalische Experiment, das Sie je gewagt haben? - Mut kenne ich nicht, weil ich keine Mutlosigkeit kenne. (Im künstlerischen Arbeiten, meine ich.) - Im echten Leben schon? - Ja. Manchmal verzage ich vor Pflichten- Ansturm und Anspruchs-Gedröhn. Dann bekomme ich einen Schnupfen."

Und Jan Schulz-Ojala lernt in Miranda Julys Interviewband "Es findet Dich", wie freakhaft eine Existenz ohne Internet ist: Hier gibt es Analogmenschen, die weder ihre Leopardenfotos noch ihre pornografischen Limericks online stellen.

FAZ, 13.03.2012

Der israelische Autor David Grossman wendet sich gegen einen möglichen israelischen Angriff auf den Iran. Eines der Argumente: "In den Augen selbst moderater, realistischer Iraner wird Israel immer der arrogante, größenwahnsinnige Staat sein, der historische Feind, der bekämpft werden muss. Ist diese Aussicht gefährlicher oder weniger gefährlich als ein atomarer Iran?"

Weitere Artikel: Fridtjof Küchemann erzählt in der Leitglosse die Geschichte einer hochtechnisierten Wahlfälschung in Kanada. Lena Bopp besucht den gelähmten Autor Philippe Pozzo di Borgo, auf dessen Geschichte der internationale Filmerfolg "Ziemlich beste Freunde beruht" - sein Buch erscheint als Premierenveröffentlichung des Hanser Berlin Verlags. Aus Eleonore Bünings Biografie über Wolfgang Rihm wird zum sechzigsten Geburtstag des Komponisten das Kapitel über seine Studienzeit bei Karlheinz Stockhausen vorabgedruckt. Auf der Medienseite stellt Nina Rehfeld die HBO-Serie "Luck" mit Nick Nolte und Dustin Hoffman vor. Und Oliver Jungen berichtet vom Kölner Fernsehfestival.

Besprochen werden die Ausstellung "Die Peredwischniki - Maler des russischen Realismus" in Chemnitz, eine "Frau ohne Schatten" unter Claus Guth und Marc Albrecht an der Mailänder Scala, Tom Peuckerts Stück "Walter" über Walter Kempowski, das eine Reihe biografischer Stücke des Autors in Bielefeld fortsetzt, und Bücher, darunter Ulla Lenzes Roman "Der kleine Rest des Todes" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 13.03.2012

Michael Stallknecht berichtet über die Vorstellung des geisteswissenschaftlichen Blogportals hypotheses.org (dessen französischer Ableger schon beträchtlichen Umfang hat) im Rahmen der Tagung "Weblogs in den Geisteswissenschaften". Georg Klein fühlt sich nach dem Auftaktkonzert von Udo Lindenbergs Tour "für ein Stück Lebensautobahn wieder gängig gemacht". Der Bundesverfassungsrichter Reinhard Gaier geißelt unlautere Praktiken dank Wissensvorsprung beim Vertragsabschluss von Finanzprodukten und plädiert für eine Präzisierung des Verbraucherschutzes. Susanne Gmür resümiert die Entscheidung in der Schweiz, die Buchpreisbindung doch nicht wieder einzuführen.

Außerdem hat die SZ heute eine Literaturbeilage: Den Aufmacher widmet Lothar Müller Zsófia Báns "Abendschule. Fibel für Erwachsene".

Besprochen werden Andreas Kriegenburgs Inszenierung von "Die Walküre" am Münchner Nationaltheater, die beiden Wiener Ibsen-Premieren "John Gabriel Borkmann" (im Theater in der Josefstadt) und "Gespenster" (im Akademietheater) und Bücher, darunter die Erzählung "Das schweigende Kind" von Raoul Schrott (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).