Heute in den Feuilletons

Sei heiter und unängstlich

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
02.03.2012. In der NZZ enthüllt Felix Philipp Ingold Putins potemkinsche Dörfer und Mieczyslaw Weinberg legt einen sanften Schleier drüber.  In der Welt erklärt die Journalistin May Chidiac syrische Machttechniken im Libanon. Die taz deklamiert die Devisen der neuesten Pariser Mode. In der SZ berichtet Navid Kermani beeindruckt von einem Literaturfestival in Karatschi. Der FAZ graut vor Twitter.

NZZ, 02.03.2012

Felix Philipp Ingold wagt eine erste historische Einordnung Wladimir Putins, zwischen Fürst Potemkin, Rasputin und Wladimir dem Großen: "Die Potemkinschen Dörfer stehen bildhaft für das ein, was 150 Jahre danach der sozialistische Realismus zu seiner künstlerischen Kernforderung machen wird, nämlich die wahrhaftige Darstellung der Wirklichkeit nicht im Ist-, vielmehr im Soll-Zustand. Unter diesem Gesichtspunkt darf man vermuten, dass es sich auch bei der unlängst offiziell vermeldeten Aufdeckung und Verhinderung eines Attentats gegen Putin um ein potemkinsches Propagandamanöver handelt mit dem Ziel, die Verlässlichkeit des Inlandgeheimdiensts FSB und die Unverletzlichkeit des Staatsoberhaupts als Soll-Zustand zu dokumentieren."

Jörg Huber hört sich neuere Aufnahmen des wiederentdeckten Komponisten Mieczyslaw Weinberg an und stellt einen großen Unterschied zu dessen Mentor Schostakowitsch fest: "Während Schostakowitsch teilweise über die Schmerzgrenze hinaus zuspitzt, Groteske und Sarkasmus nicht scheut, dominiert bei Weinberg ein elegischer Grundton, der bei aller Schärfe einen sanften Schleier über das Leid des Jahrhunderts legt."

Manuel Gogos trifft den deutsch-kurdischen Schriftsteller Sherko Fatah. Frank Schäfer gratuliert Lou Reed zum Siebzigsten.

Welt, 02.03.2012

Andrea Backhaus unterhält sich mit der libanesischen Journalistin May Chidiac, die erklärt, wie Syrien in ihrem Land Macht ausübt: "Syriens Machthaber haben die Konflikte zwischen den verschiedenen Konfessionen heraufbeschworen. Etwa dadurch, dass sie die palästinensischen Flüchtlinge aus Israel darin unterstützten, gegen die christlichen Maroniten vorzugehen. Ab da nahm die Macht der syrischen Besatzung beständig zu. Kurz gesagt: Sie brachten einfach alle um, die ihnen im Weg waren."

Weitere Artikel: Hannes Stein wundert sich, dass die Occupy-Bewegung in New York jetzt gegen das Sponsoring von Museen vorgeht. Matthias Heine gratuliert Lou Reed und Wieland Freund John Irving (hier) zum Siebzigsten. Marc Reichwein denkt in seiner Feuilletonkolumne anlässlich eines Interviews mit dem NZZ-Feuilletonchef Martin Meyer in der Schweizer Medienwoche über die Rolle der NZZ in der deutschsprachigen Medienlandschaft nach. Manuel Brug unterhält sich mit dem jungen Wagnertenor Klaus Florian Vogt über seine erste Recital-CD "Helden".

Besprochen werden Marius von Mayenburgs Stück "Märtyrer" an der Berliner Schaubühne und eine Ausstellung mit Aquarellen George Grosz' in Hannover.

Im Politikteil spricht Clemens Bomsdorf mit dem dänischen Journalisten Anders Jerichow, der nach dem Streit um die Mohammed-Karikaturen Karikaturisten in der ganzen Welt besuchte und feststellte, dass sie oft gefährdeter sind als schreibende Journalisten.

Weitere Medien, 02.03.2012

Twitter wird erwachsen, berichtet Brad Stone in der Businessweek: "In the past, Twitter's too-cool-for-revenue attitude enhanced its Silicon Valley mystique. The company still tries to maintain that ethos-its stated mission is 'to instantly connect people everywhere to what is most meaningful to them.' But really it's jumping headlong into competition for advertisers' Internet budgets."

TAZ, 02.03.2012

Katrin Kruse denkt über die Botschaft der aktuellen Pariser Frühjahrsschauen nach, die ihrer Ansicht nach lautet: "Damit Durchkommen". "Das Englische hat die schöneren Vokabeln dafür. Dort hieße es: 'To get away with it' oder 'To pull it off', was gleich die zwei wesentlichen Merkmale des Prinzips bloßlegt: ein gewisses Risiko und ein kaltblütiger Wagemut ... Die Aufforderung ist nicht: Mach es ebenso! Eher lautet sie: Spiel! Das hier sind die Grundbausteine der Mode: Sei heiter und unängstlich damit."

Besprochen werden eine Ausstellung mit schwarz-weißen Arbeiterbildern des britischen Fotografen Chris Killip im Museum Folkwang in Essen, das Album "The Idea of It" der Hamburger Sängerin und Keyboarderin Mohna, das neue Album von Bruce Springsteen, das laut Thomas Winkler "richtig wütend" ausgefallen ist, und ein Berliner Konzert der norwegischen Band Lyodahatt, bei dem sie eine CD mit der Vertonung norwegischer Lyrik vorstellte.

Und Tom.

SZ, 02.03.2012

Beeindruckt berichtet Navid Kermani von der Intensität des Literaturfestivals im pakistanischen Karatschi und der Dringlichkeit der dort geführten Diskussionen: "In manchen Augenblicken gewinnt [man] den Eindruck, dass gar nicht wichtig ist, über welches Buch, über welchen Autor - sondern dass überhaupt wieder an öffentlichem Ort über Literatur und damit auch immer über die eigene Gesellschaft gesprochen wird. Denn zerstört, vernachlässigt oder in den Ruin getrieben wurde in den vergangenen Jahrzehnten alles, was das bürgerliche Kulturleben auch in Karatschi einmal ausgemacht hat".

Außerdem: Willi Winkler feiert das vom Spirit des Klassenkampfs durchtränkte, mittlerweile 17. Studioalbum von Bruce Springsteen. Der Theologe Peter Lampe sieht in der Entdeckung einer auf das 1. Jahrhundert nach Christus datierten Grabstätte in Jerusalem einen "einzigartigen Fund für die Geschichte des frühen Christentums". Michael Stallknecht war bei einem Vortrag von Glenda Dawn Goss über Jean Sibelius. Glückwünsche zum je 70. Geburtstag gehen an Lou Reed und hier an John Irving, dem zu Ehren derzeit auch ein von Fritz Göttler besprochener Dokumentarfilm im Kino läuft.

Besprochen werden die von Burkhard Müller gefeierte Ausstellung "Die Peredwischniki" in der Kunstsammlung Chemnitz, der von Wilfred Minks inszenierte "Tod eines Handlungsreisenden" im St. Pauli Theater in Hamburg, eine Ausstellung über Gerhard Polt im Münchner Literaturhaus, in der "eine Menge Entdeckungen zu machen" sind, sowie, neben vielen neuen Taschenbüchern, Mara Hvistendahls Studie über die Geburtenkontrolle in China (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 02.03.2012

Constanze Kurz gruselt es angesichts der Pläne von Twitter, seine gesammelten Tweet-Archive einer kommerziellen Auswertung zur Verfügung zu stellen (dazu mehr hier): "Anhand der Stimmungen, die sich durch einfache Betrachtung von Merkmalen wie positiver oder negativer Wort-Konnotationen und Emoticons erschließen, lassen sich selbst ungefähre Vorhersagen zur Entwicklung wesentlicher Börsenindizes einige Tage im Voraus ableiten."

Weitere Artikel: Dieter Bartetzko unterhält sich mit der Ex-EU-Parlamentarierin Nana Mouskouri anlässlich ihrer neuen CD über das Verhältnis zwischen Griechen und Deutschen, das diese wegen der Bedeutung der Deutschen für den griechischen Tourismus nicht fundamental zerrüttet sieht. Joseph Croitoru stellt die israelische, aus Rabbis und Talmudlehrerinnen bestehende Organisation Beit Hillel vor, die sich gegen eine Fundamentalisierung des orthodoxen jüdischen Glaubens positioniert (mehr hier). Eric Pfeil wollte beim Kölner Konzert von Lambchop gar nicht mehr nach Hause gehen. Dirk Schümer schreibt den Nachruf auf den Sänger Lucio Dalla, Gerhard Rohde den auf den Ausstatter Pet Halmen.

Besprochen werden eine Ausstellung mit Malereien von Georgia O'Keeffe in der Hypo-Kulturstiftung in München, Marius von Mayenburgs "Märtyrer" an der Berliner Schaubühne und Bücher, darunter David Wagners Buch "Welche Farbe hat Berlin?" mit 40 Miniaturen aus der Hauptstadt (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).