Heute in den Feuilletons

Kritisch gemeinte Radetzkymarsch-Paraphrase

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.02.2012. Die Chinesen können Demokratie doch: Taiwan beweist es, konstatiert die NZZ. Die taz erklärt, was Cumbia ist. Der Economist staunt über die haarigen Mausklicker, die Acta verhindern. Rue89 zeigt den Like-Button mal anders. Die SZ fürchtet um die Privatsphäre. FAZ und Welt bewundern die Intimität des Blicks in in Benoit Jacqouts Berlinale-Eröffnungsfilm "Lebwohl meine Königin".

NZZ, 10.02.2012

In Taiwan wurde gerade wieder gewählt. Für Urs Schoettli beweist dies einmal mehr, dass Demokratie und chinesischer Wertekanon sehr wohl zusammenpassen: "Die uneingeschränkte Ausübung von Bürgerrechten gehört in Taiwan zum Courant normal. Es sind zwar nur rund fünfzehn Jahre vergangen, seit 1996 ein Präsident in freien Wahlen gekürt worden ist. Doch seither hat sich die politische Modernisierung Taiwans als eine der erfolgreichsten Transitionen zur Demokratie in der Welt erwiesen."

Max Nyffeler berichtet von der Medienmesse Midem in Cannes, auf der vor allem die Digitalisierung der Musik Thema war. Gar nicht behagte ihm der Auftritt des Senders ZDF.kultur, der Mitschnitte von Pop-Konzerten zeigt: "Ein staatsnaher Sender als Produzent ästhetischer Aufputschmittel. Dazu passt die kritisch gemeinte Radetzkymarsch-Paraphrase mit billiger antiamerikanischer Polemik und Davidsstern im Hintergrund." (Was meint er denn damit?)

Weiteres: Daniela Tan beobachtet, wie sich Japans Bürger gegen dirigistische Maßnahmen ihrer regierung zu wehren beginnen. Tobias Feld stellt mit der Sängerin Dorottya Karsay und dem Rapper Dopeman zwei Galionsfiguren der ungarischen Protesbewegung vor. Besprochen werden die Ausstellung "Ein Wintermärchen" im Kunsthaus Zürich und Mika Kaurismäkis Film über Miriam Makeba "Mama Africa"

Aus den Blogs, 10.02.2012

Die Werbung spielt mit dem Facebook-Like-Button, berichtet Jean-Marc Sfeir mit vielen Illustrationen in Rue89. Hier das Plakat für ein spanisches Horrorfilm-Festival.

TAZ, 10.02.2012

Detlef Diederichsen kündigt eine Cumbia-Welle an: Die Musik der afrikanischen Sklaven in Kolumbien feiert durch Fusion mit HipHop, Funk und Techno ein Revival in der europäischen Clubszene, was zwei Compilations aus dem Genre belegen. "Die zunächst ausgedacht klingende Idee, denselben 3-4-1-Beat im doppelten Tempo noch mal über den Ausgangsbeat zu legen, führt zu einem so verführerischen Tanzbeat, zu so einem inspirierenden, vielfältigste Optionen eröffnenden Startplatz für Musiker, dass hier ein Optimum erreicht scheint, das man erstaunlich einfach aus seinem Ursprungsmilieu herauslösen kann und das sich überall bestens behauptet."

Auf den Berlinale-Seiten freut sich Diedrich Diederichsen, dass ihm der der Eröffnungsfilm solch "suggestive Aufnahmen duftiger Mädchen- und Frauenhaut" darbot. Detlef Kuhlbrodt stellt den japanischen Altmeister Kawashima Yuzo vor, dem das Forum eine kleine Retrospektive widmet: "Die drei Filme gehören zu den Sahnetörtchen des Festivals, und Kawashima Yuzo ist nicht zu verwechseln mit dem bekannten Gehirnjogginglehrer von Nintendo."

Weiteres: Jürgen Gottschlich berichtet, dass der US-Autor Paul Auster im türkischen Parlament als Agent einer Weltverschwörung gegen die Türkei entlarvt worden ist. Hintergrund: Er hatte der türkischen Zeitung Hürriyet erklärt, angesichts von über 100 inhaftierten Journalisten in der Türkei mit seinem eben auf Türkisch erschienenen Buch nicht auf Lesereise im Land gehen zu wollen. Besprochen wird das Debüt-Album „Blondes“ des New Yorker Duos Blondes.

Und Tom.

Welt, 10.02.2012

Hanns-Georg Rodek bewundert die Intimität des Blicks in Benoit Jacquots Berlinale-Eröffnungsfilm "Lebwohl meine Königin": "Benoît Jacquots Film bleibt konsequent in den Dienstbotenräumen, in den Salons und den Gärten des Schlosses. Kein einziger Revolutionär lässt sich sehen. Und doch breiten sich die Schockwellen aus."

Weitere Artikel: Eckhard Fuhr resümiert den Streit zwischen München und Nürnberg um den Transport des "Selbstbildnisses im Pelzrock" zur großen Nürnberger Dürer-Ausstellung und befürwortet diesen zuletzt. Marc Reichwein untersucht in seiner Feuilletonkolumne neuere Spielarten der Sprachkritik. Und Gerhard Midding führt in die Berlinale-Retro ein.

Besprochen werden eine CD der Rapperin Speech Debelle, die Munch-Ausstellung in der Schirn und und Nikolai Rimski-Korsakows Oper "Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitsch" in Amsterdam.

In ihrer Kolumne auf den Forumsseiten fragen Maxeiner & Mirsch, was eigentlich das Che Guevara-Porträt in der Studio-Deko der neuen Gottschalk-Show zu suchen hat.

Tagesspiegel, 10.02.2012

Als "eifrig ausgestellte Nichtigkeit" verschmäht Jan Schulz-Ojala Benoit Jacqots Berlinale-Eröffnungsfilm über Marie-Antoinette: "'Les adieux à la reine' macht auf Glanz und hat ein schlechtes Gewissen dabei. Er gefällt sich mit blinkenden Oberflächen und schminkt sich die vage politische Botschaft bloß über. Und passt wohl gerade deshalb zu manchen Malaisen der Berlinale."
Stichwörter: Eröffnungsfilm

Weitere Medien, 10.02.2012

Der Economist ist ganz einverstanden damit, dass das ACTA-Abkommen im letzten Moment noch zu scheitern scheint: "It has been negotiated secretively and outside established international trade bodies (despite EU criticisms). This means it has ignored the views of other countries it will affect, chiefly emerging markets. Internet activists used to be dismissed as a bunch of hairy mouse-clickers with little clout. Not any more."
Stichwörter: Internet

FAZ, 10.02.2012

"Einen guten Anfang" hat Benoit Jacquot laut Verena Lueken im Berlinale-Wettbewerb gemacht. Sein Film "Lebewohl, meine Königin" schildert die Französische Revolution aus der Sicht der Kammerzofe Marie-Antoinettes: "Sidonie ist ihrer Königin in Liebe ergeben. Und sie gehört zum Volk, das sich erhebt. Das ist die Konstellation, aus der die innere Spannung erwächst, und Léa Seydoux spielt das überzeugend, weil sie zeigt, dass ihrer Figur dieser Widerspruch gar nicht bewusst wird."

Weitere Artikel: Fünf FAZ-Reporter haben Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes gefragt, wie sie sich verhalten, wenn ihnen Geschenke angeboten werden, und bekommen ethisch vorbildhafte Antworten, an denen sich Christian Wulff ein Beispiel nehmen kann. Tilman Spreckelsen erinnert an das erste Erscheinen der Grimmschen Märchen vor 200 Jahren. Mark Siemons stellt die Publizisten Lung Ying-tai vor, die zur Kulturministerin Taiwans ernannt wurde. Timo John stellt das von Bernhardt + Partner konzipierte "Haus der Astronomie" bei Heidelberg - ein Geschenk reicher Gönner an die Max-Planck-Gesellschaft. Auf der Medienseite wundert sich Christian Geyer über die "Burnout"-Epidemie in den Medien, die ber zum Glück nicht bei den Redakteuren, sondern nur in den Titelgeschichten wütet.

Besprochen werden die Ausstellung "Edvard Munch - Der moderne Blick" in der Schirn und Goethes "Tasso" inszeniert von der jungen Regisseurin Nora Somaini, in Bremen.

SZ, 10.02.2012

Lori Andrews, Direktorin des Institute for Science, Law and Technolgy am Chicago-Kent College of Law, fürchtet, dass die Datensammelei von Facebook und Google schlimme gesellschaftliche Folgen hat: "Wenn man junge Leute in den ärmeren Vierteln mit Werbung für Berufsschulen bombardiert, ist die Wahrscheinlichkeit dann nicht größer, dass sie ihr Studium abbrechen? Und liegt es nicht nahe, dass Frauen, denen man nur Artikel über Prominente zu lesen gibt, keinen Sachverstand in Finanzfragen entwickeln können?" (Der Text scheint ein Auszug aus ihrem gerade auf Englisch erschienenen Buch "I Know Who You Are and I Saw What You Did: Social Networks and the Death of Privacy" zu sein.)

Jacob Appelbaum (mehr hier) von Wikileaks erklärt in einem kurzen Interview die Hauptchancen und -risiken der Netz-Kommunikation und meint: "Viele, vor allem Sicherheitsfirmen und solche aus dem militärisch-industriellen Komplex, malen den Teufel an die Wand und wollen uns Angst machen. Angst aber war nie ein guter Ratgeber, und die meisten Politiker haben keine Ahnung, wovon sie reden."

Weitere Artikel: Zwar werden Homosexuelle in Russland und den USA nicht ganz so schlimm verfolgt wie in Afrika, schreibt Tim Neshitov, aber dort sind die Europäer für den Schwulenhass verantwortlich: "Gesetze, die in Afrika Homosexualität kriminalisieren, wurden ursprünglich von Kolonialverwaltungen eingeführt." (Den Schwulenhass in islamischen Ländern, der nicht so gut ins postkoloniale Konzept passt, erwähnt Neshitov vorsichtshalber gar nicht erst.) Der Jurist Michael Bothe erklärt, was das Urteil in Den Haag vom letzten Freitag für die Opfer deutscher Kriegsverbrechen bedeutet (mehr dazu bei 3sat). Georg Imdahl gratuliert dem Konzeptkünstler Lawrence Weiner zum Siebzigsten.

Besprochen werden die Ausstellung "Zeichner in Rom 1550-1770" in der Münchner Pinakothek der Moderne, Dmitri Tcherniakovs Inszenierung von Rimskij-Korsakows Oper "Die Legende von der unsichtbaren Stadt Kitesch" in Amsterdam, Benoit Jacquots Berlinale-Eröffnungsfilm "Les adieux a la reine" und Bücher, darunter Martin Amis' Roman "Die schwangere Witwe" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).