Heute in den Feuilletons

Ein irrer Cut

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.01.2012. Die Welt und alle anderen würdigen Theo Angelopoulos, der bei einem Unfall ums Leben kam. Im Freitag annoncieren die neuen Macher des Merkur, dass sie demnächst ein Blog eröffnen. Gegen das Internet kann man sowieso nichts mehr machen, konstatiert die Zeit. Die Jungle World will die Hoffnung auf den arabischen Frühling noch nicht aufgeben. Henryk Broder mokiert sich in der Weltwoche über eine aktuelle Antisemitismusstudie. Und die FAZ würdigt, was in Retro überlebt.

Tagesspiegel, 26.01.2012

Zum gewaltvollen Unfalltod des griechischen Regisseurs Theo Angelopoulos schreibt Jan Schulz-Ojala: "Ein irrer Cut für den Meister der Langsamkeit. Für den Zelebrator des minutenlangen 360-Grad-Schwenks, für den Weltmeister der langen Plansequenz."

Welt, 26.01.2012

Hans-Georg Rodek schreibt zum Tod des Filmregisseurs Theo Angelopoulos, der bei einem Unfall ums Leben kam, und erinnert mit einem Zitat an seinen Anspruch: "'Ich erwarte nicht von Dir, dass Du das verstehst, was ich mit meinen Filmen meine. Ich erwarte von Dir, dass Du das verstehst, was Deine Seele aus diesen Filmen versteht.'"

Weitere Artikel: Der Denkmalschutzexperte Dankwart Guratzsch konstatiert nach Lektüre eines Bildbands über faschistischen Städtebau in Rom, dass es kaum möglich sei, zwischen "totalitärer" und "demokratischer Modernität" zu unterscheiden.

Besprochen wird der Film "The Descendants" mit George Clooney.

TAZ, 26.01.2012

Ambros Waibel würdigt im Nachruf Carl Weissner, den Schriftsteller und Übersetzer, der mit Charles Bukowski befreundet war. "Weissner erfand Bukowski, auf Deutsch, um ihn dann in die Staaten zu reimportieren. Er war zugleich europaweiter Agent des dirty old man. Wie bei Burroughs und Ginsberg und Algren und Ballard und Dylan und Zappa: Man tut bei der US-Avantgarde seit Mitte der 1950er Jahre immer gut daran, zu fragen: Wen hat Weissner eigentlich nicht übersetzt oder herausgegeben - das ist am einfachsten."

Weiteres: Dominik Kamalzadeh unterhält sich mit Alexander Payne über dessen für fünf Oscars nominierten Film "The Descendants". Ingo Arend informiert über eine Umbenennung: "Abgabepunkte" statt "Sammelstellen" heißen jetzt die Container, die der tschechische Künstler Martin Zet für seine umstrittene Kunstaktion für die Berlinale "Deutschland schafft es ab" zum Loswerden von Thilo Sarrazins Bestseller aufgestellt hat. Zu lesen ist außerdem ein Nachruf auf den griechschen Regisseur Theo Angelopoulos, der bei einem Unfall starb.

Besprochen werden der für den Oscar nominierte Stummfilm "The Artist" von Michel Hazanavicius, den Thomas Groh für "eine ästhetisch souverän gemeisterte, stimmige Hommage an das große Stummfilmkino" hält, und die Ausstellung "Demonstrationen" im Frankfurter Kunstverein.

Und Tom.

Aus den Blogs, 26.01.2012

Die Bücher, die Häuser wuseln und fliegen - in diesem stürmischen Animationsfilm von William Joyce, der für diesen Film gerade in der Kategorie "Short Animated Feature" nominiert wurde (via):

Freitag, 26.01.2012

Michael Angele unterhält sich mit den beiden neuen Machern des Merkur, Christian Demand und Ekkehard Knörer, und Demand bringt frohe Kunde: "Wir arbeiten im Moment gerade daran, unseren Webauftritt zu ändern, der bisher, vorsichtig ausgedrückt, nicht ­besonders netzaffin war. Zudem wird es in naher Zukunft einen Merkur-Blog geben. Natürlich ­können und wollen wir das Heft im Netz nicht verdoppeln. Dort wird also kein Text stehen, der auch im Heft stehen könnte. Aber es wird die Möglichkeit geben, auf Texte aus dem Heft zu reagieren, die Diskussion dann auch fortzuspinnen." Jetzt nur noch "das" Blog sagen!

Außerdem macht Simon Rothöhler Appetit auf neue Fernsehserien aus Amerika, unter anderem die HBO-Produktion "Luck", eine Rennbahn-Serie, in der unter anderem Dustin Hoffman und Nick Nolte mitspielen Und zu den Regisseuren gehört Michael Mann!

NZZ, 26.01.2012

Martin Girod verabschiedet den bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommenen griechischen Filmregisseur Theo Angelopoulos. Sieglinde Geisel besucht im Kunstmuseum Wolfsburg die Ausstellung "Die Kunst der Entschleunigung", bei der es, wie sie klarstellt, nicht darum geht, dass wir langsamer werden, sondern nur "weniger schnell schneller".

Besprochen werden außerdem Michel Hazanavicius' Stummfilm in Schwarzweiß "The Artist" ("Brillant", findet Susanne Ostwald) , Alexander Paynes Drama "The Descendants" und Louis Begleys Roman "Schmidts Einsicht" (siehe auch unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Jungle World, 26.01.2012

Thomas von der Osten-Sacken und Oliver M. Piecha wollen die Hoffnung auf den arabischen Frühling noch nicht aufgeben: "Nicht zu unterschätzen ist dabei, dass sich die islamistischen Parteien im Wahlkampf gerade nicht mit ihren traditionellen Maximalprogrammen, sondern als weichgespülte 'konservative' Kräfte profilieren wollten, inklusive dem Bekenntnis zu parlamentarischer Demokratie. Mit dem unseligen Vorbild der iranischen 'Revolution' im Jahr 1979 hat diese Entwicklung nichts zu tun."

Außerdem liefert Ulrich W. Sahm einen informativen Hintergrund zu den Szenen der Ultraorthodxen in Israel.

Weitere Medien, 26.01.2012

In der Jüdischen Allgemeinen beobachtet Moshe Zimmermann mit Entsetzen den Aufstieg der Haredim in Israel: "Es ist die Mehrheit der Haredim, die die israelische Gesellschaft herausfordert, nicht die radikale Minderheit. Den Staat, den sie mitverwalten, möchten sie in eine Theokratie verwandeln. Diese Absicht ist heute aussichtsreicher als je zuvor, weil auch die angeblich säkulare Mehrheit der israelischen Juden die Parole vom jüdischen Staat aufgegriffen hat und dabei den Begriff 'jüdisch' religiös auslegt."

Nicht überzeugt hat Henryk Broder eine jüngst vorgestellte Studie zu Antisemitismus in Deutschland. In der Weltwoche (online auf Achgut) fragt er, "wer wovon weniger Ahnung hat: Die Antisemiten von den Juden oder die Antisemitismusforscher von den Antisemiten. Die Behauptung, Antisemitismus sei eine Folge des 'Unwissens über Juden und das Judentum', gehört ihrerseits in das Reich der Vorurteile und Klischees. Viele Antisemiten, von Voltaire bis Goebbels, waren gebildete Leute und wussten über das Judentum gut bescheid."

Zeit, 26.01.2012

Als "historischen Moment" bezeichnet Heinrich Wefing die Netz-Kampagnen, die de facto die amerikanischen Urheberrechtsgesetze Sopa und Pipa gestoppt haben, er nennt sie "Amerikas Tahrir-Platz", aber nach Feiern scheint ihm nicht zumute: "Hinter Sopa und Pipa standen massive ökonomische Interessen. Vor zehn Jahren, noch vor fünf Jahren hätten sie sich wie selbstverständlich durchsetzen können, ohne großes Aufsehen, ohne viel Protest. Heute nicht mehr. Gegen das Web, so sieht es aus, lässt sich keine Politik mehr machen, ganz gleich, wie potent, wie gut vernetzt und üppig finanziert die Gegenseite ist."

Im Interview mit Katja Nicodemus weht Berlinale-Chef Dieter Kosslick mit gewohntem Dampf alle Kritik an seinem Festival-Konzept ab: "Ich finde, die Kritik an der Berlinale basiert häufig auf einem Modernebegriff aus dem letzten Jahrtausend. Wir leben aber nicht mehr in den Zeiten, in denen es drei Fernsehprogrammen und kein Internet gab und man Sophia Loren auf dem Kudamm anfassen konnte. Es gibt vielleicht auch nicht mehr die 60 bis 70 herausragenden Filme berühmter Autorenregisseure, die drei große Wettbewerbe in Cannes, Venedig und Berlin füllen können."

Weitere Artikel: Thomas Groß preist Leonard Cohens neues Album "Old Ideas": "Der Schmerz der Trennung brennt wie am ersten Tag." Peter Kümmel sieht dreieinhalb peinliche Jahre mit Christian Wulff vor sich und verweist auf die "verdächtige Zunahme an Magen- und Darmerkrankungen" unter Italienern, "die dieses jäh gealterte Volk in der Berlusconi-Epoche hinnehmen musste." Der Politikerphilosoph Julian Nida-Rümelin plädiert für ein neues Europa und gegen den Euro. Christoph Dallach unterhält sich Paul McCartney über Jazz.

Besprochen werden Helmut Dietls Berlin-Satire "Zettl", die Ausstellung "Demonstrationen" über globale Protestbewegungen im Frankfurter Kunstverein, Jette Steckels Inszenierung von Sartres "Schmutzigen Händen" im Deutschen Theater, Michel Hazanavicius' oscar-verdächtigen Schwarzweiß-Stummfilm "The Artist" und Bücher, darunter Nicholson Bakers "Haus der Löcher" (den Iris Radisch als harmlosen Pop-Porno recht unaufgeregt wieder beiseite legt) und Tomas Sedlaczeks "Ökonomie von Gut und Böse" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 26.01.2012

Der Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller rät Europa, Ungarn wegen seines Rechtsrucks "nicht von oben herab zu belehren; es muss Druck ausüben und zur Not 'Orbanistan' die Stimmrechte in der Union entziehen, wie im Lissabon-Vertrag vorgesehen - aber all dies immer im Namen gemeinsamer und stets wieder gemeinsam neu zu erringender Prinzipien, anstatt Völker wie Demokratie-Pennäler zu behandeln, welche etwas schwer von Begriff sind."

Weitere Artikel: Filmregisseur Alexander Payne klagt Anke Sternborg im Gespräch sein Leid als Hollywood-Regisseur, beim Dreh stets einen ganzen Technikpark um sich haben zu müssen. Einige Kürzelautoren exzerpieren bei der DLD Conference in München gehaltene Vorträge, die man hier in voller Länge sehen kann. Alex Ross, Musikkritiker des New Yorker (und Blogger), gibt im Gespräch mit Jörg Häntzschel zu Protokoll, dass er noch auf seine Michael-Jackson-Phase warte. Ira Mazzoni fasst einige aktuelle Standpunkte zum Thema "Abgabe von Museumssammelstücken" zusammen. Willi Winkler schreibt den Nachruf auf den Bukowski-Übersetzer Carl Weissner, Tobias Kniebe den auf Theo Angelopoulus.

Besprochen werden die "hinreißende" Stummfilm-Hommage "The Artist", der Horrorfilm "Intruders", das Nazifrauen-Drama "Kriegerin", "Der Kaufmann von Venedig" und "Liebesspiel" am Schauspiel Frankfurt sowie Bücher, darunter Thomas Melles Hipster-Roman "Sickster" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 26.01.2012

Niklas Maak fragt sich anlässlich der Veröffentlichung von "Born to Die", dem ersten Album von Lana del Rey, die im vergangenen Jahr mit auf Retro getrimmten Videos ihrer Songs als YouTube-Phänomen groß geworden ist, was ganz allgemein hinter Retro-Ästhetik steckt. Dabei unterscheidet er zwei unterschiedliche Modi dieser Form: "Die eine sucht in den Formen der Vergangenheit Sicherheit und den Zauber eines längst verblichenen Glanzes, die andere den verschollenen Werkzeugkasten des Aufbruchs. Retro ist meistens melancholisch. In Retro überlebt ästhetisch, was politisch aufgegeben wurde: Die Euphorie eines Aufbruchs, der Glaube an die Möglichkeit eines Wandels, an Zukunft." Jedenfalls, hier das aktuelle Video von Lana del Rey:



Weitere Artikel: Einer der New Yorker Kulturkorrespondenten der FAZ, Patrick Bahners, erläutert juristische Hintergründe zu einem Urteil des Obersten Gerichtshof der USA über Privatsphäre und GPS-Überwachung. Sandra Kegel freut sich über "frischen Wind" im Frankfurter Literaturhaus unter dem neuen Leiter Hauke Hückstadt. Beim Filmfestival Max Ophüls in Saarbrücken bemerkte Rüdiger Suchsland "neuen Ernst und Widerstandsgeist" unter jüngeren Filmemachern. Andreas Kilb schreibt den Nachruf auf Theo Angelopoulos.

Besprochen werden eine CD mit Aufnahmen von Frederick Delius, Alexander Paynes neuer George-Clooney-Film "The Descendants", die Ausstellung "Glanz und Größe des Mittelalters" im Museum Schnütgen in Köln, aus der Andreas Rossman verärgert nach Hause ging, Jette Steckels Sartre-Inszenierung von "Die schmutzigen Hände" am Deutschen Theater Berlin, Giuseppe Sinopolis Oper "Lou Salome" im Teatro La Fenice und Bücher, darunter Ngugi wa Thiong'os Roman "Herr der Krähen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).