Heute in den Feuilletons

Gewaltige Portion Besserwisserei

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.01.2012. Wahre Hymnen auf Deutschland singt Horace Engdahl aus der Jury des Literaturnobelpreises im Tagesspiegel. Die Welt kann mit Friedrich dem Großen ehrlich gesagt nicht so viel anfangen. Die taz porträtiert die große chinesische Autorin Eileen Chang und die NZZ den Schriftsteller und Psychiater Ion Vianu. Und auch hier noch eine Hymne auf Deutschland, genauer: Berlin - von dem Schweizer Autor Alain Claude Sulzer.

Welt, 23.01.2012

"Mir hat er wenig zu sagen", gibt Eckhard Fuhr in einem angenehm ungnädigen Artikel über den routiniert und staatsfromm abgefeierten Friedrich den Großen zu: "Was ist denn zum Beispiel - um mit dem angeblichen 'Philosophen auf dem Königsthron' anzufangen - sein 'Antimachiavell' anderes, als eine moralisch biedere Beschimpfung eines größeren Geistes, der den politischen Dingen im Gegensatz zu Friedrich wirklich auf den Grund geschaut hat? Die gewaltige Portion Besserwisserei und Rechthaberei ist schwer zu genießen. Heute wäre Friedrich der Große wahrscheinlich ein monströser Blogger, der glaubt, es sei an ihm, die ganze Welt aufzuklären."

Weitere Artikel: Auch Mara Delius findet in Berlin wenig positive Überreste des Preußentums. Andreas Rosenfelder schreibt einen Nachruf auf die trübsten aller Drogeriemärkte. Uwe Schmitt schreibt zum Tod von Etta James.

Und höchst ergriffen bespricht Jan Küveler drei Stücke der unvergessenen Sarah Kane, die Johan Simons an den Münchner Kammerspielen inszenierte: "Der ganze schreckliche Wahnsinn, der hier kinderspielend tobt, die Nacktheit, die Spucke, das Sperma, der Kot sind Zutaten eines existenziellen Humanismus. Diese armen liebenden Irren sind zuallerletzt und deshalb auch zuallererst wir selbst."

Tagesspiegel, 23.01.2012

Wahre Hymnen auf Deutschland hörte Andre Anwar von Horace Engdahl, dem einstigen Sprecher (und jetzt Mitglied) der Jury des Literaturnobelpreises, der jetzt im Alter von 63 Jahren nach Deutschland gezogen ist, zum Beispiel: "'In Deutschland gibt es auch größere Akzeptanz für die öffentliche Vertretung unterschiedlicherer Sichtweisen in einem breiteren ideologischen Spektrum', so Engdahl. 'In Schweden mögen wir es, ganz nah beieinanderzusitzen. Am liebsten in der Mitte klumpen wir uns zusammen, wie Ratten in einer Kloakenleitung an einem kalten Wintertag', so das harte Urteil."

TAZ, 23.01.2012

Katharina Borchardt porträtiert die 1995 gestorbene chinesische Autorin Eileen Chang, deren Erzählungen gerade auf Deutsch herausgebracht werden: "Anders als viele ihrer Schriftstellerkollegen, die sich sehr für die kommunistische Idee begeisterten, schuf Eileen Chang nie einen positiven Helden mit aufgeräumtem Innenleben und einwandfreier politischer Haltung. In ihrem in den fünfziger Jahren verfassten Roman 'Das Reispflanzerlied' karikiert sie diese gefährlich naive Haltung sogar." In der offiziellen Werkausgabe in China, so Borchardt, fehlt dieser Roman nach wie vor.

Außerdem verfolgte Ingo Arend den Auftritt Christian Wullfs als Bundespräsident im Berliner Ensemble. Andreas Resch berichtet vom Max-Ophüls-Festival. Und Steffen Vogel hörte einem Leibniz-Abend des Kunsthistorikers Horst Bredekamp in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu

Und Tom.

Aus den Blogs, 23.01.2012

(Via Martin Oetting) Endlich der Beweis , dass auch klassische Musiker mit der musikalischen Moderne (zum Beispiel dem Nokia-Klingelton) umzugehen wissen:



Mike Springer präsentiert in Open Culture ein fünfzigminütiges Video-Interview, das William Friedkin (der Regisseur des "Exorzisten") im Jahr 1975 mit Fritz Lang führte. Lang erzählt hier auch, wie er im Jahr 1933 Goebbels traf und am selben Tag die Flucht ergriff: "The story of Lang's escape has all the elements of a cinematic thriller, but biographers have cast doubt on its veracity, citing passport records which indicate that Lang left Germany some time after the meeting with Goebbels, and that he returned on brief trips several times that year. But the anecdote, along with Lang?s reflections on his life and on the nature of fate, provide a fascinating look into the great filmmaker's character."


NZZ, 23.01.2012

Der Autor Jan Koneffke porträtiert den rumänischen Schriftsteller und Psychiater Ion Vianu, der Rumänien 1977 verlassen hatte und nach dem Sturz Ceausescus zurückgekehrt war: "'Amor intellectualis' und 'Exerzitium der Aufrichtigkeit' sind keineswegs nur Erinnerungsbücher. Der 78-jährige Vianu war als Psychiater immer auch ein Mann der Praxis. Nach dem Sturz Ceausescus beteiligte er sich aktiv an einer Reform des Psychiatrie-Gesundheitssystems in seiner Heimat. Erst in den 2000er Jahren begann er, regelmäßig Bücher zu publizieren. Vor allem aber mischt sich Vianu, der seit dem Ende des Kommunismus zwischen der Schweiz und Rumänien pendelt, mit Zeitungsbeiträgen und Kommentaren in das aktuelle Geschehen ein."

Berlin schimmert! Der Schweizer Schriftsteller Alain Claude Sulzer, der einen Teil des Jahres in Berlin verbringt, singt ein herzliches Liebeslied auf die Stadt: "Gefunden habe ich hier, wonach ich in Berlin nie suchen musste: ungestörte Arbeitsruhe, gleichzeitig ein schier unerschöpfliches Potenzial an Anregungen verschiedenster Art (beim Anblick meines Terminkalenders kann einem schwindelig werden); vor allem aber sind es die vielen Freunde, die im Lauf der letzten zwei Jahrzehnte von Westdeutschland, wo ich selbst während zwanzig Jahren gelebt habe, nach Berlin gezogen sind, die mich - je älter ich werde - an diese Stadt fesseln. Und es kommen - anders als in der Schweiz - immer neue hinzu."

Außerdem: Bettina Spoerri schreibt zur Eröffnung der 47. Solothurner Filmtage. Besprochen werden Johan Simons Sarah-Kane-Abend an den Münchner Kammerspielen und Alexander Nerlichs Bearbeitung von Viktor Pelewins "Empire V" für die Basler Bühne.

SZ, 23.01.2012

Abgedruckt ist Navid Kermanis Rede "Vergesst Deutschland" zur Eröffnung der Lessingtage im Hamburger Thalia, in der er das neuere Phänomen des Terrors ohne Bekennerschreiben vom 11. September und der Zwickauer Nazi-Terrorzelle mit Lessings Einakter "Philotas" zu ergründen versucht: "Es ist ebenso leicht wie unverfänglich, junge Männer wie Mohammad Atta oder Uwe Böhnhardt als Bestien (...) zu bezeichnen, (...) um die Täter möglichst weit von der Gesellschaft, vor allem aber von der Hetze der eigenen Meinungsartikel und Kampagnen fortzurücken, sie als pathologische Fälle abzutun. Das Beunruhigende an solcherart politischer Gewalt wird in seiner ganzen Dimension jedoch erst deutlich, wenn man auch jene Teile ins Puzzle fügt, die so gar nicht ins Bild zu passen scheinen: die Bürgerlichkeit, Bildung und Intelligenz; die Liebenswürdigkeit und den Idealismus." (Hier die Rede in voller Länge als pdf von der Website des Autors)

Weiteres: Volker Breidecker fragt sich nach den "Arabischen Literaturtagen" in Frankfurt, bei denen viele "schreibende Frauen diskursbestimmend" waren, ob eine neue, von Frauen getragene "Kulturrevolution" im Gange sei. Catrin Lorch bezweifelt, dass Arnulf Rainers Schenkung von 110 Werken an die Pinakothek der Moderne wirklich so ein "wahrer Schatz" ist, wie vom Museum dargestellt. In den "Nachrichten aus dem Netz" stellte Michael Moorstedt die Dienstleistungstauschbörse Gidsy vor. Rainer Gansera berichtet von der Verleihung des Bayerischen Filmpreises. Jonathan Fischer schreibt den Nachruf auf die Blues-Sängerin Etta James. Sonja Zekri stellt das anonym arbeitende Puppentheater "Masasit Mati" (@) aus Damaskus vor, das von den Damaszener Behörden wegen ihrer auf YouTube gestreuten Satiren gesucht wird - hier die aktuelle, gestern online gestellte Folge:


Besprochen werden neue DVDs, drei von Johan Simons interpretierte Stücke von Sarah Kane an den Münchner Kammerspielen und Bücher, darunter Stephen Kings neuer Roman "Der Anschlag", dessen über 1000 Seiten bei Andrian Kreye trotz anfänglichem Enthusiasmus "mentale Lähmungserscheinungen" hervorriefen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 23.01.2012

Andreas Kilb beobachtet einen offenbar nicht aus seiner Lethargie zu reißenden Christian Wulff bei einem Gespräch mit Zeit-Herausgeber Josef Joffe. Christian Geyer hörte einer Rede Jürgen Trittins (gilt der etwa als Kandidat?) vor führenden Managern aus der deutschen Wirtschaft zu. Dirk Schümer wundert sich über den Oberrabbi von Amsterdam, der Homosexualität zur Therapie empfiehlt. Edo Reents schreibt zum Tod der Soulsängerin Etta James.

Besprochen werden die große Hockney-Ausstellung in London, die Erstaufführung von Lars Norens "Liebesspiel" in Frankfurt, Aribert Reimanns "Lear"-Oper in der Regie Karoline Grubers in Hamburg und drei Stücke von Sarah Kane in den Münchner Kammerspielen, außerdem Bücher, darunter Petrarcas "Canzoniere" in der Neuübersetzung Karlheinz Stierles (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).