Heute in den Feuilletons

Plötzlich ein Signore

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
13.01.2012. In der deutschen Buchbranche wird zu viel gejammert, meint der Buchreport. In der NZZ sieht der Kopte Ibrahim Farghali auch Hoffnung für die Christen in Ägypten. Die Welt ist nicht einverstanden mit Lutz Hachmeisters Doku-Fiction "The Real American" über Joe McCarthy. Die FAZ singt ein Loblied auf Mario Monti. Facebook hat bald eine Milliarde Nutzer, schätzt Mashable. Slate ist sauer über Google. Das Blog der New York Review of Books bringt viele viele Videolinks zu Meryl Streep.

Aus den Blogs, 13.01.2012

In der Buchbranche wird zu viel gejammert, findet Literaturcafe-Wirt Wolfgang Tischer in einem Blogbeitrag für den Buchreport: "Da gibt es Menschen, die fordern allen Ernstes eine Art Schutzwall für die deutsche Buchkultur, so wie der Volksempfänger nicht für den Empfang ausländischer Sender geeignet war oder der DVD-Regionalcode das Abspielen von Silberscheiben aus fernen Enden der Welt verhindert - wenngleich auch aus ganz anderen Gründen. Das Schlimme ist: Selbst wenn einer mal nicht jammert, wie KiWi-Verleger Helge Malchow, wird ebenfalls lang und breit darüber diskutiert, warum es für ihn besser wäre, wenn er jammern würde. Es gibt kein Entrinnen aus dem Jammertal."

Wolfgang Michal macht in seinem Blog anlässlich der aktuellen Skandale eine interessante Rechnung auf: "Die Unionsparteien hatten 1990, als sie bei der Bundestagswahl 43,8 Prozent der Stimmen holten, 975.807 Mitglieder. Die SPD, die lediglich 33,5 Prozent erreichte, hatte 943.402 Mitglieder. Heute haben diese Parteien nur noch die Hälfte. Heute repräsentieren ganze 213.000 Mitglieder (nämlich die der FDP, der Linken, der Grünen und der Piraten zusammen) einen ähnlich großen Wähleranteil wie damals die SPD. Das heißt: Der politische Wert des einzelnen Parteimitglieds hat sich mehr als vervierfacht." Und weiter: "Wir sind in der paradoxen Situation, dass sich der politische Wert der Parteimitgliedschaft umgekehrt proportional zur Leistungsfähigkeit der Parteimitglieder entwickelt."

"You know what's cool? A billion", schreibt Todd Wasserman in Mashable. Seiner Rechnung nach wird Facebook im August eine Milliarde registrierte Nutzer haben.

Farhad Manjoo ist in Slate sehr sauer über die neue Google-Suche, die Posts von "Freunden" aus Google Plus integriert. Seiner Meinung nach haben Social-Media-Postings überhaupt nichts in der Suche zu zu suchen: "When I've got a clogged toilet, I want advice from an expert - a plumber, preferably, but I'll even take the stranger who wrote this eHow post. What I don't want to know is which link my boss consulted when his toilet was clogged." Lesenswert zur immer stärker bervormundenden Google-Suche auch Spiegel Online.

So richtig begeistert ist Martin Filler im Blog der NYRB nicht von "The Iron Lady" mit Meryl Streep: "Conversely, Thatcher's actual policies and their wider ramifications are barely touched upon. All we get is her spouting Victorian platitudes about self-sufficiency and thrift, or short takes of her during Parliamentary shouting matches and sitting imperturbably in her car as protestors rage around her. Neither is much made of the immense contradiction in her being Britain's first female premier but insisting, 'I owe nothing to feminism.'" Und dennoch: Filler ist ein Riesen-Fan der Streep und untermauert es mit vielen schönen Videolinks.

FR/Berliner, 13.01.2012

Cornelia Geißler unterhält sich mit der Verlegerin Elisabeth Ruge, die den neuen Verlag Hanser Berlin leiten wird, über ihren Vater Gerd Ruge, ihre Kindheit in Washington und Moskau und den gigantischen Umbruch im Verlagswesen: "Inzwischen lese ich auch regelmäßig Manuskripte, verschiedene Zeitschriften und Zeitungen elektronisch, ab und zu auch ein Buch - jeden Morgen erhalte ich aber per Bote noch zwei Zeitungen, und, klar, überall stapeln sich bei mir die Bücher. Mir macht es Spaß, mit dem Neuen und Alten zu jonglieren. Wichtig ist mir, Wertvolles aus der verlegerischen Tradition in dieses spannende Neue hinüberzubringen. Wir sollten nicht immer nur aus einer defensiven Position auf diese Entwicklung schauen."

Weiteres: Harry Nutt unterhält sich mit dem Philosophen Martin Seel darüber, ob die Entrüstung über Christian Wulff eine Rückkehr der Tugend markiere. Politischen Affären an und für sich spricht Seel dabei durchaus eine zentrale Funktion in Demokratien zu: "Keine Demokratie ohne öffentlich ausgetragene Affären." Besprochen werden das rumänische Polizistendrama "Police, Adjective", dessen "dokumentarischer Stil" zum Ende hin "interessant zu schillern" beginne, die DVD-Veröffentlichung von "Gefährliche Liebschaften" mit Jeanne Moreau und kurz und knapp zwei Krimis sowie Volker Brauns Erzählung "Die hellen Haufen" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Welt, 13.01.2012

Für grundfalsch hält Alan Posener Lutz Hachmeisters Doku-Fiction "The Real American" über Joe McCarthy, die nachweisen wolle, dass der oberste Kommunistenjäger der USA eigentlich nur ein Opportunist gewesen sei und damit ein ganz normaler Amerikaner: "Warum machte er denn wider jede Vernunft weiter, bis er die CIA, die Armee und das Weiße Haus gegen sich hatte und von seinen eigenen Kollegen im Senat gerügt wurde? McCarthy war ja eben nicht bloß Opportunist, sondern Überzeugungstäter. Er war in dem Sinne auch kein Politiker. War Joe McCarthy nun ein 'echter Amerikaner'? Wohl nicht. Eher muss man in dem irischstämmigen Katholiken den Vertreter einer Minderheit sehen, auf die das angelsächsische, weiße Establishment Amerikas noch in den Fünfzigerjahren herabsah und die ihrerseits die vermeintliche Dekadenz dieses Establishments verachtete."

Weiteres: In einem "Lob des Rücktritts" würdigt Manuel Brug die Sängerinnen und Sänger, die wie Brigitte Fassbaender oder Christa Ludwig den Absprung zur rechten Zeit geschafft haben. Stefan Grund bilanziert das erste Jahr von Hamburgs neuer Kultursenatorin Barbara Kisseler, die immerhin den drastischsten Sparmaßnahmen ein Ende bereitet hat. Matthias Heine berichtet vom Streit zwischen Velvet Underground und der Warhol Stiftung um die Lizenzrechte am Bananen-Cover. Uwe Schultz besucht in der Pariser Nationalbibliothek eine Ausstellung über Casanova.

TAZ, 13.01.2012

Elise Graton stellt einen Sampler vor, auf dem Künstler aus Deutschland und der Elfenbeinküste den ivorischen Musikstil Coupe-Decale mit Electro kreuzen. "Coupe-Decale war von Anfang an eine gewagte Mischung. Im Paris des Jahres 2003 wurde die Musik- und Tanzbewegung von einer Gruppe Exilivorer begründet, allesamt DJs, die der Krise in ihrer Heimat entflohen waren. Die Musiker, die sich 'La Jet Set' nannten, wurden durch ihren extravaganten Modestil und große Mengen von Bargeld bekannt, die sie ihrem Pariser Publikum jeweils über die Tanzfläche hinweg zuwarfen. Kreativ waren sie auch, was die Tanzschritte angeht. Etwa 'Guantanamo', einen Move, der das Tragen von Handschellen imitiert, oder 'Grippe aviaire' (Vogelgrippe), am Besten beschrieben durch frenetisches Körper-Schütteln."

Hier Coupe Decale dans la cite:



Weiteres: Katrin Bettina Müller kommentiert den Rassismusvorwurf gegen Dieter Hallervordens Inszenierung "Ich bin nicht Rappaport" am Berliner Schlosspark Theater, weil darin ein schwarz geschminkter Weißer als Afroamerikaner auftritt. Carsten Janke berichtet über ein Konzert gegen Rechts in Limbach-Oberfrona, bei dem die Gruppe Egotronic dem Publikum mit der Begrüßung "So coole Leute in so einer Scheißgegend" einheizte. Besprochen werden eine Ausstellung im Münchner Stadtmuseum, die das fotografische Werk des neusachlichen Malers Karl Hubbuch zeigt und das Album "Mondo Marginalo" der Berliner Punkgruppe Ordnungsamt.

Und Tom.

NZZ, 13.01.2012

Noch vor einem halben Jahr hatte der koptische Schriftsteller Ibrahim Farghali vor einem Auszug der Kopten aus Ägypten gewarnt, nun gibt er jedoch Entwarnung: "Natürlich sind sie nicht frei von Angst; aber diese Angst teilen zahlreiche Ägypter, die in der gegenwärtigen, von der obskuren Politik des Militärregimes geprägten Phase nach Orientierung suchen. Auch geht die Sorge um, es könnte zu einer Polarisierung zwischen den revolutionären Kräften und den Verfechtern einer 'Stabilität' im Geist des alten Regimes kommen... In Ägypten lebt ein Großteil der Bevölkerung - Muslime so gut wie Kopten - noch immer im Gefühl, dass wir die über Jahrzehnte geraubte Heimat endlich zurückerobert haben."

Weiteres: Andreas Mink staunt über das neue, in der Provinz von Arkansas gelegene Crystal Bridges Museum of American Art, das, finanziert durch "mindestens eine Milliarde Dollar" aus Walmart-Vermögen, "in Sachen Qualität durchaus nahe an Institutionen wie das New Yorker Metropolitan, das Bostoner Museum of Fine Arts oder das Detroit Institute of Arts herankommen" dürfte. Bjoern Schaeffner freut sich auf das Norient-Musikfilmfestival in Bern.

Besprochen werden neue CDs, die Musicaladaption von Roald Dahls Roman "Mathilda" am Cambridge Theater in London sowie Achim Lenz' Theaterbearbeitung von Hans Leberts "Wolfshaut" am Theater Chur.

SZ, 13.01.2012

Soviel Hipster war noch nie - und Hipster ist grundsätzlich der andere: Patrick Bauer bringt eine ganzseitige Reportage über die Katerstimmung unter in Berlin-Nordneukölln Kneipen betreibenden, gentrifizierenden Hipstern der ersten Stunde, die sich nun von noch mehr gentrifzierenden Hipstern, noch dazu aus aller Welt und insbesondere Spanien, verdrängt fühlen. Die im Artikel angesprochene, mutmaßlich von Hipstern produzierte Hipster-Parodie gibt es hier:



Weiteres: Ein leicht skeptischer Jens Bisky informiert über Klaus Wowereits Vesprechen, die Berliner Infrastrukturen auszubauen, wozu immerhin - man höre und staune - auch ein freies W-LAN-Netz gehören soll. Alexander Menden fasst einige Positionen aus der britischen Debatte um den Maggie-Thatcher-Film "The Iron Lady" zusammen. Reinhard Brembeck lässt sich beim Konzert des "hinreißenden" Countertenors Philippe Jaroussky betören.

Besprochen werden eine DVD-Box mit Visuals angesagter VJs zu Klassikstücken, die um nationale Identitätsfindung bemühte Ausstellung "Neue Slowakei" in der Slowakischen Nationalgalerie in Bratislava und Bücher, darunter Andrzej Stasiuks Roman (Leseprobe bei "Vorgeblättert") "Hinter der Blechwand" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 13.01.2012

Eine wahre Hymne auf den trockenen, lauteren und effizienten italienischen Ministerpräsidenten Mario Monti schreibt Dirk Schümer: "Viele Italiener staunen, dass sie plötzlich ein Signore regiert."

Weitere Artikel: Sandra Kegel meldet, dass der Buchmarkt im letzten Jahr leicht geschrumpft ist. Jürgen Kaube mokiert sich über den tschechischen Künstler Martin Zet, der unter dem Titel "Deutschland schafft es ab" 60.000 Sarrazin-Bücher einer künstlerischen Entsorgung zuführen will. Jürg Altwegg hat Michel Onfrays Buch "La vie philosophique d'Albert Camus" gelesen, eine Rehabilitation Camus' und eine kleine Rache an Intimfeind BHL, der eine Biografie über den Camus-Antagonisten Sartre geschrieben hatte (hier einige Informationen und Links zum Buch, hier die Kritik des Camus-Biografen Olivier Todd in Le Monde). Thomas Brock betrachtet römische Waffenfunde, die als sensationell gelten, weil sie in Niedersachen, jenseits des römischen Herrschaftsbereichs gefunden wurden. Regina Mönch besucht Mielkes Stasizentrale in der Berliner Normannenstraße, einen "scheußlichen Unort", der nach bewahrender Renovierung nun als Museum dient. Jürg Altwegg liest französische Zeitschriften, die sich mit Marx und Raymon Aron befassen.

Besprochen werden eine neue Leonard-Cohen-CD, der rumänische Film "Police, adjective" (mehr hier) und Bücher, darunter neue Iwan-Bunin-Übersetzungen (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).